T 1631/17 31-07-2020
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VERFAHREN UND MATERIALSATZ ZUM HERSTELLEN VON ZAHNERSATZTEILEN
Ausnahmen von der Patentierbarkeit - Verfahren zur chirurgischen Behandlung
Ausnahmen von der Patentierbarkeit - implizite Verfahrensschritte
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, das Europäische Patent mit der Nummer EP 1 901 676 B1 zu widerrufen.
II. Im Einspruchsverfahren hatte die Einsprechende Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit, Ausnahme von der Patentierbarkeit), und Artikel 100 b) EPÜ als Einspruchsgründe angeführt.
Der Einspruch wurde bereits während des Einspruchsverfahrens zurückgezogen. Das Verfahren wurde aber von Amts wegen weitergeführt.
III. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, dass das Verfahren nach Anspruch 1 gemäß Artikel 53 (c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen sei, weil es zwingend den chirurgischen Zwischenschritt des Präparierens der Zähne beinhalte.
IV. Am Ende des schriftlichen Verfahrens vor der Beschwerdekammer lagen die folgenden Anträge der Beschwerdeführerin in der angegebenen Rangfolge vor:
a) Aufhebung der Einspruchsentscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur Behandlung der weiteren Einspruchsgründe.
b) Aufhebung der Einspruchsentscheidung und Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung.
c) Aufhebung der Einspruchsentscheidung und Aufrechterhaltung des Patents basierend auf einem der am 14. November 2016 eingereichten Hilfsanträge 1-3.
Den ursprünglich mit der Beschwerdeschrift eingereichten Antrag auf mündliche Verhandlung hatte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 27. Juli 2020 zurückgenommen.
V. Die unabhängigen Verfahrensansprüche haben folgenden Wortlaut:
a) Hauptantrag (erteilte Fassung)
"Verfahren zum Herstellen von Zahnersatzteilen, bei dem in eine erste Abformung eines Teils des menschlichen Gebisses erhärtbares Zahnersatzmaterial eingegeben wird, in dieses Material ein aus einer zweiten Abformung hergestelltes Positivmodell hineingedrückt wird, und das nach dem Hineindrücken übrig gebliebene Zahnersatzmaterial zum Bilden des/der Zahnersatzteile erhärten gelassen wird, wobei als zweite Abformung die Abformung eines menschlichen Gebisses verwendet wird, das zur Anbringung des/der Zahnersatzteile präpariert ist, dadurch gekennzeichnet, dass als erste Abformung die Abformung eines menschlichen Gebisses verwendet wird, in dem fehlende Zahnsubstanz ergänzt ist."
b) Hilfsantrag 1
Im Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 wurde das Merkmal des erteilten Anspruchs 8 eingefügt, wonach das Positivmodell "aus einem Hartsilikon, das eine Shore-A-Härte von mindestens 55, vorzugsweise von 80 bis 95, beziehungsweise eine Shore-D-Härte von mindestens 35 bis 45 hat", besteht.
c) Hilfsantrag 2
Anspruch 1 von Hilfsantrag 2 ist identisch zu Anspruch 1 des Hauptantrags.
d) Hilfsantrag 3
Anspruch 1 von Hilfsantrag 3 ist identisch zu Anspruch 1 des Hilfsantrags 1.
Der jeweilige unabhängige Produktanspruch ist für die vorliegende Entscheidung nicht relevant.
VI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
a) Der Anspruch enthalte explizit keinen chirurgischen Verfahrensschritt.
b) Der Anspruch enthalte auch implizit keinen chirurgischen Verfahrensschritt.
Es sei unzutreffend, dass die in den Absätzen [0026] und [0027] genannten Verfahrensschritte implizit Bestandteil des beanspruchten Verfahrens seien. Der Grund hierfür sei, dass die zahnärztliche Behandlung völlig separat vom beanspruchten Verfahren stattfinde, und mit der zweiten Abformung ende. Ab diesem Zeitpunkt sei weder die Anwesenheit des Patienten nötig, noch würden weiteren Schritte am Patienten durchgeführt, noch erfolge irgendeine andere Bezugnahme auf den Patienten. Die beiden Abformungen lägen vor Beginn des beanspruchten Verfahrens vor, und das beanspruchte Verfahren werde rein labortechnisch durchgeführt.
c) Der chirurgische Zwischenschritt der Präparation der Zähne sei auch nicht Teil des beanspruchten Verfahrens.
Allein die Tatsache, dass zur Bereitstellung der Abformungen eine zahnärztliche (chirurgische) Tätigkeit nötig sei, bedeute nicht, dass diese einen Zwischenschritt des Verfahrens darstelle. Es gebe viele labortechnische Verfahren, die eine "Eingangsgröße" benötigten, die chirurgisch gewonnen werde, ohne dass diese Verfahren von der Patentierung ausgenommen würden. Dies sei beispielsweise bei der Analyse von Blutproben oder von Proben von Knochenmarksliquor der Fall.
Der Patentanspruch schränke auch nicht die Handlungsfähigkeit eines Arztes ein, sondern nur die zahntechnische Verarbeitung.
d) Die durch die Einspruchsabteilung herangezogenen Entscheidungen T 1005/98, T 923/08, T 429/12 und G 1/07 seien auf den vorliegenden Fall nicht zutreffend, da dort jeweils die Anwesenheit des Patienten erforderlich gewesen sei und im Zuge des Verfahrens zwischengelagerte Schritte am Patienten durchzuführen gewesen seien. Dies sei beim beanspruchten Verfahren nicht der Fall.
Entscheidungsgründe
1. Explizite Verfahrensschritte
Es ist unbestritten, dass der Wortlaut von Anspruch 1 keinen expliziten Verfahrensschritt beinhaltet, der im Sinne von Artikel 53(c) EPÜ als chirurgisch anzusehen wäre.
2. Implizite Verfahrensschritte
2.1 Es ist nicht notwendig, dass ein Anspruch explizit einen chirurgischen Verfahrensschritt aufweist, damit er von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist. Hierfür genügt es, dass das beanspruchte Verfahren einen solchen Schritt umfasst (siehe G 1/07, Gründe 4.1 - 4.3).
Die Große Beschwerdekammer führte unter Punkt 4.3.1 folgendes aus:
"Nach Artikel 84 EPÜ in Verbindung mit Regel 43 EPÜ müssen die Patentansprüche den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird. Das heißt, der Anspruch sollte alle wesentlichen Merkmale ausdrücklich angeben, die zur Definition der Erfindung erforderlich sind. Außerdem muss der Anspruch klar sein (G 1/04, a. a. O., Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe). Ob ein Schritt, der einen von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen chirurgischen Verfahrensschritt darstellt oder umfasst, durch eine positive Formulierung wie "vorher verabreicht" oder durch einfaches Weglassen aus dem Anspruch ausgeklammert werden kann, hängt nach Artikel 84 EPÜ davon ab, ob die beanspruchte Erfindung auch ohne diesen Schritt durch die übrigen Anspruchsmerkmale vollständig und umfassend beschrieben ist. Dies muss jeweils im Einzelfall entschieden werden."
Zwar stellt Art. 84 EPÜ keinen Einspruchsgrund dar, der einen Widerruf des Patents rechtfertigen könnte. Wenn aber wesentliche Merkmale der Erfindung im Anspruch fehlen, müssen diese bei der Interpretation des Anspruchs im Hinblick auf Artikel 53(c) EPÜ mitgelesen werden. Dabei ist es gleichbedeutend, ob das wesentliche Merkmal von Anfang an nicht im Anspruch enthalten war, oder ob es nachträglich gestrichen wurde.
Es ist deswegen zu klären, ob die beanspruchte Erfindung durch den Wortlaut des Anspruchs 1 vollständig und umfassend definiert wird oder nicht. Dafür ist unter anderem die Beschreibung zu Rate zu ziehen.
2.2 Die Erfindung betrifft ein Verfahren zur Herstellung von Zahnersatzteilen. Ziel der Erfindung ist es, ein Verfahren zu schaffen, mit dem die Herstellung von Zahnersatzteilen wesentlich einfacher ist als bei existierenden Verfahren, die dem Oberbegriff des vorliegenden Anspruchs 1 entsprechen (siehe die Beschreibung des im Streitpatent als nächstliegender Stand der Technik zitierten Dokuments WO98/35630). Das dort beschriebene Verfahren beinhaltet ein erstes Abformen der Zähne im Originalzustand, das Präparieren der Zähne und ein zweites Abformen der präparierten Zähne sowie die Herstellung des Zahnersatzes mit Hilfe dieser beiden Abformungen.
Gemäß den Absätzen [0008] und [0026]-[0029] der Beschreibung beginnt das erfindungsgemäße Verfahren damit, dass die erste Abformung von einem Gebiss genommen wird, in dem zunächst provisorisch die fehlende Zahnsubstanz ergänzt wurde. Dies entspricht dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs und wird vor der Präparation der Zähne durchgeführt.
Die Zahnsubstanz wird also zuerst (provisorisch) ergänzt, dieses "fertige" Gebiss wird abgeformt und erst danach werden die Zähne für die zweite Abformung präpariert. Dadurch kann die gewünschte äußere Form des Zahnersatzes direkt vom Zahnarzt am Patienten gestaltet und die Herstellung der Zahnersatzteile durch den Zahntechniker wesentlich vereinfacht werden.
Daraus ergibt sich, dass das Ergänzen der fehlenden Zahnsubstanz ein wesentliches Merkmal der Erfindung darstellt. Im vorliegenden Fall insbesondere auch deshalb, weil dieser Schritt genau den Beitrag darstellt, der über den Stand der Technik hinausgeht. Dieser Verfahrensschritt muss daher bei der Auslegung des Anspruchs mitgelesen werden.
Das beanspruchte Verfahren beginnt daher implizit, d.h. nicht ausdrücklich aber zwangsläufig, bereits mit dem Ergänzen der fehlenden Zahnsubstanz.
2.3 Die Präparation der Zähne, die nach der ersten Abformung stattfindet (siehe Absatz [0027] der Beschreibung) liegt damit auch zeitlich und räumlich innerhalb des beanspruchten Verfahrens. Das beanspruchte Verfahren kann nicht durchgeführt werden ohne die unmittelbare Durchführung des Zwischenschrittes der Präparation der Zähne, weil sonst die zweite Abformung nicht erstellt werden könnte. Ohne diesen Verfahrensschritt wäre die Erfindung im Sinne der G 1/07 daher auch nicht vollständig und umfassend beschrieben. Er ist also ebenfalls implizit im beanspruchten Verfahren enthalten.
2.4 Naturgemäß wird die Präparation der Zähne direkt am Patienten durchgeführt und stellt einen chirurgischen Verfahrensschritt dar, weil dabei invasiv und in erheblichem Maße Körpergewebe entfernt wird. Außerdem ist nicht in Frage gestellt worden, dass die Präparation der Zähne einen chirurgischen Schritt darstellt.
2.5 Anders als von der Beschwerdeführerin vorgetragen, kann also das Verfahren nicht ausschließlich im Labor, in Abwesenheit des Patienten stattfinden. Ohne die Herstellung der Abformungen - die am Patienten stattfindet - kann das labortechnische Verfahren nicht durchgeführt werden.
2.6 Folglich umfasst das beanspruchte Verfahren einen chirurgischen Schritt und ist deswegen infolge von Artikel 53 (c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
3. Zitierte Entscheidungen
Dies steht im Einklang mit den durch die Einspruchsabteilung herangezogenen Entscheidungen T 1005/98, T 923/08, T 429/12 und G 1/07, da im vorliegenden Fall ebenfalls, wenn auch implizit, ein chirurgischer Verfahrensschritt innerhalb des beanspruchten Verfahrens stattfindet.
4. Hilfsanträge
Die angeführten Gründe treffen in identischer Weise auf die Hilfsanträge 1-3 zu, weil die genauere Definition des für das Positivmodell benutzten Materials nicht relevant im Hinblick auf die Beurteilung gemäß Artikel 53(c) EPÜ ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.