T 0173/83 (Antioxydans) 01-07-1985
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Erfinderische Tätigkeit
Neuheit einer Aufgabe
Relevanz
Unschädliche Offenbarungen
Offenbarung - unschädliche
Offensichtlicher Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders (verneint)
Beginn der Frist nach Artikel 55(1)
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die am 6. Dezember 1978 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 78 400 218.0, für die die Priorität einer französischen Voranmeldung vom 6. Dezember 1977 in Anspruch genommen wurde, wurde am 14. Oktober 1981 das europäische Patent Nr. 0 002 418 erteilt. ...
II. Die Einsprechenden haben am 18. Mai 1982 bzw. 11. Juni 1982 gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und seinen Widerruf wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt. Die Einspruchsgründe stützen sich auf eine bereits in der Patentschrift genannte Druckschrift,
(1) die Entgegenhaltung FR-A-2 297 713 bzw. die korrespondierende deutsche Druckschrift DE-A-2 601 249, sowie auf einen neuen, aus den folgenden Entgegenhaltungen hervorgehenden Stand der Technik:
(2) eine Firmenschrift der Firma Ashland Chemicals, Technical Data "CAO-4 and CAO-6 Antioxidants" vom Juni 1968,
(3) ein Schreiben der Firma Göbel und Pfrengel GmbH & Co. KG, Chemie-Kunststoffe KG, Bingen, vom 7. November 1977 mit beiliegendem Merkblatt "Antioxydant PO".
III. Mit Entscheidung vom 16. August 1983 hat die Einspruchsabteilung das angefochtene Patent mit der Begründung widerrufen, daß es gegenüber dem aus den Entgegenhaltungen 1 bis 3 bekannten Stand der Technik keine erfinderische Tätigkeit aufweise.
IV. Die Anmelderin hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. (...)
VI. (...) Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hätte die Entgegenhaltung 3, auf die die Einspruchsabteilung den Widerruf gestützt habe, aufgrund des Artikels 55 (1) a) EPÜ nicht entgegengehalten werden dürfen, weil ihre Offenbarung auf einen offensichtlichen Mißbrauch zu ihrem Nachteil zurückgehe. Außerdem habe sie sich eine neue, noch in keinem früheren Dokument gestellte technische Aufgabe gestellt und diese auch gelöst, indem sie aus einer großen Zahl bekannter Verbindungen eine bestimmte ausgewählt habe.
Entscheidungsgründe
2. Die erste Instanz hat das Patent im wesentlichen mit der Begründung widerrufen, daß es für den Fachmann naheliegend sei, anhand der Offenbarung der Entgegenhaltung 3 die in dem Verfahren nach der Entgegenhaltung 1 aufgetretenen Schwierigkeiten mit Hilfe des in der Entgegenhaltung 2 beschriebenen Antioxidans zu überwinden.
3. Um die erfinderische Tätigkeit gegenüber diesen drei Entgegenhaltungen würdigen zu können, muß zunächst festgestellt werden, ob diese zum Stand der Technik gehören. Die Beschwerdeführerin hat unter Berufung auf Artikel 55 (1) a) EPÜ bestritten, daß die Druckschrift 3 entgegengehalten werden dürfe, da die darin enthaltene Offenbarung am 7. November 1977, also weniger als 6 Monate vor Einreichung der prioritätsbegründenden französischen Anmeldung, erfolgt sei und unmittelbar auf einen offensichtlichen Mißbrauch zu ihrem Nachteil zurückgehe (siehe Beschwerdebegründung, II b bis e).
In ihrer Begründung weist die Beschwerdeführerin darauf hin, daß sie seit dem 22. Dezember 1975 wegen der Realisierung der Erfindung mit der Firma Göbel und Pfrengel in geschäftlicher Verbindung stehe. Daß die Firma Göbel und Pfrengle der Firma Kabel- und Lackdrahtfabriken GmbH (Einsprechende I) am 7. November 1977 ein technisches Merkblatt (Anlage zur Entgegenhaltung 3) übermittelt habe, ohne mit Rücksicht auf das seit drei Jahren zwischen ihnen bestehende, auf eine stillschweigende Geheimhaltungsverpflichtung gegründete Vertrauensverhältnis vorher ihre Zustimmung einzuholen oder ihr diesen Schritt auch nur anzukündigen, stelle ihres Erachtens einen Mißbrauch zu ihrem Nachteil im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ dar (s. Beschwerdebegründung Nr. II d).
Die Frage des Mißbrauchs ist von den Beteiligten bereits im Einspruchsverfahren erörtert worden. Sie wurde von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung vom 16. August 1983 mit der Begründung verneint, daß "die Lösung der Aufgabe nicht von der Patentinhaberin stammt". ... Nach erneuter Prüfung der Umstände und des Inhalts der angefochtenen Offenbarung trifft die Kammer die folgende Feststellung.
4. Die Anlage zur Entgegenhaltung 3 ist ein technisches Merkblatt, wie es zu Werbezwecken allgemein verwendet wird; es enthält Informationen für die Kunden der Firma Göbel und Pfrengle. Das Merkblatt ist offensichtlich für die Öffentlichkeit bestimmt; nichts läßt darauf schließen, daß es nur internen Zwecken dienen soll. Die Tatsache, daß es der Firma Kabel- und Lackdrahtfabriken am 7. November 1977 zugeschickt wurde, beweist im Gegenteil seinen öffentlichen Charakter und legt das Offenbarungsdatum fest. ...
5. Die Entgegenhaltung 3 könnte vom Stand der Technik ausgenommen werden, falls es sich um eine unschädliche Offenbarung nach Artikel 55 EPÜ handelt. In diesem Artikel heißt es in Absatz 1 Buchstabe a wie folgt: "Für die Anwendung des Artikel 54 bleibt eine Offenbarung der Erfindung außer Betracht, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung erfolgt ist und unmittelbar oder mittelbar zurückgeht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers". Die Kammer hat sich daher die Frage gestellt, ob die Entgegenhaltung 3 innerhalb der Frist nach Artikel 55 (1) EPÜ offenbart worden ist. Die Offenbarung ist tatsächlich nicht später als 6 Monate vor Einreichung der Anmeldung, sondern nur später als 6 Monate vor dem beanspruchten Prioritätstag erfolgt. Es stellt sich somit die Frage, ob die Frist von 6 Monaten und die Frist der Unionspriorität kumuliert werden können.
In Artikel 55 (1) EPÜ entsprechen die Begriffe "dépôt" in der französischen Fassung und "filing" in der englischen Fassung dem Begriff "Einreichung". Der Begriff "Einreichung" wurde auf der Münchner Diplomatischen Konferenz ausdrücklich anstelle des Wortes Anmeldetag gewählt; nach den Berichten der deutschen Delegation sollte mit dieser Änderung sichergestellt werden, daß die Frist nicht an den Prioritätstag, sondern an den tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung geknüpft wird (s. R. Singer, GRUR Int. 1974, S. 62, linke Spalte). Die vorbereitenden Arbeiten zur Münchner Konferenz lassen demnach darauf schließen, daß der tatsächliche Einreichungstag und nicht der beanspruchte Prioritätstag zugrunde zu legen ist (Sitzungsberichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, M/PR I Nr. 61). Zu diesem Ergebnis gelangen zumindest mehrere Handbücher (P. Mathely, Le droit européen des brevets d'invention, 1978, S. 119; R. Schulte, Patentgesetz 1981, S. 72). Die Kammer stellt jedoch fest, daß zu dieser Frist keine einhellige Lehrmeinung vorliegt (J. M. Mousseron, Traité des brevets, CEIPI, 1984, S. 287 und 288, Nr. 259).
Jedenfalls braucht auf diese Frage im vorliegenden Fall nicht eingegangen zu werden, da die Offenbarung (Entgegenhaltung 3 nach Ansicht der Kammer nicht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil der Beschwerdeführerin zurückgeht.
6. Ein offensichtlicher Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ läge nur dann vor, wenn klar und unzweifelhaft feststünde, daß ein Dritter nicht zur Weitergabe der empfangenen Informationen an andere Personen berechtigt war. Nach Ansicht der Kammer wäre ein Mißbrauch nicht nur dann gegeben, wenn eine Schädigungsabsicht vorliegt, sondern auch dann, wenn ein Dritter in Kenntnis seiner Nichtberechtigung unter Inkaufnahme eines Nachteils für den Erfinder oder unter Verletzung eines Vertrauens verhältnisses handelt.
Im vorliegenden Fall ist der Akte nicht zu entnehmen, daß die Firma Göbel und Pfrengle gegen ihre Verpflichtungen der Anmelderin gegenüber verstoßen hat, als sie das technische Merkblatt (Anlage zur Entgegenhaltung 3) herausgegeben und an ihre Kunden verteilt hat. Eine Prüfung der Anlage und des dazugehörigen Begleit schreibens der Firma Göbel und Pfrengle ergibt nach Auffassung der Kammer keine Anhaltspunkte für einen Vertrauensmißbrauch gegenüber der Beschwerdeführerin. Die Entgegenhaltung 3 enthält lediglich einige technische Informationen über ein Erzeugnis, dessen Zusammensetzung nicht genannt wird, und andere neutrale, unverbindliche Angaben des Lieferanten. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich hier um eine normale Geschäftskorrespondenz zwischen einem Hersteller und seinen potentiellen Kunden. Der Aktenlage nach ist nicht auszuschließen, daß auch andere Kundenfirmen angeschrieben worden sind. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, seit drei Jahren sei die bestehende stillschweigende Geheimhaltungspflicht verletzt worden, wird durch keinerlei Beweismittel erhärtet. Die von den Verfahrensbeteiligten vorgelegten Unterlagen sind nicht einmal als vertraulich gekennzeichnet. In dieser Beziehung unterscheidet sich der erste Schriftwechsel (25. November 1975 und 22. Dezember 1975) mit der Firma Göbel und Pfrengle nicht von der Geschäftskorrespondenz mit anderen Firmen, die das gewünschte Erzeugnis liefern könnten (s. Schreiben der Firma Ashland vom 2. Februar 1977, Schreiben der Beschwerdeführerin vom 4. Juni 1976 an die Firma Finorga und deren Antwortschreiben vom 24. März 1977 sowie das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 25. Oktober 1976 an die Firma Protex). Dies alles läßt nicht auf einen Mißbrauch durch den Lieferanten des Erzeugnisses schließen. Die Beschwerdeführerin schließt im übrigen nicht aus, daß die Firma Göbel und Pfrengle die chemische Zusammensetzung des Erzeugnisses, das sie der Firma Kabel- und Lackdrahtfabriken (Einsprechende I) zu Versuchszwecken vorgeschlagen hat, absichtlich nicht angegeben hat (s. Beschwerdebegründung, Nr. II e).
Somit wird in der Entgegenhaltung 3 weder die genaue Bezeichnung des gewünschten Erzeugnisses noch das von der Beschwerdeführerin angestrebte Endergebnis offenbart. Die Einsprechende I, die der Patentinhaberin zweifellos nicht zur Geheimhaltung verpflichtet war, konnte daher zur Begründung ihres Einspruchs eine Druckschrift anziehen, die sie zu Recht als öffentlich zugänglich und fristgerecht veröffentlicht betrachten durfte. Die Kammer gelangt aufgrund dieser Sachlage zu der Schlußfolgerung, daß die Entgegenhaltung 3 nicht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil der Beschwerdeführerin zurückgeht. Sie entspricht deshalb nicht der Definition einer unschädlichen Offenbarung im Sinne des Artikels 55 (1) EPÜ, sondern gehört zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ und kann damit zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Die Beschwerde wurde wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit aller Patentansprüche zurückgewiesen.)