T 0175/84 (Kombinationsanspruch) 22-09-1987
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1. Falls sich aus dem Wortlaut eines Anspruchs nichts anderes ergibt, ist bei der Prüfung eines Anspruchs auf erfinderische Tätigkeit grundsätzlich davon auszugehen, daß ausschließlich die gleichzeitige Anwendung aller seiner Merkmale beansprucht wird.
2. Andererseits ist bei festgelegtem Wortlaut eines Anspruchs eine weitergehende Festlegung, wie dieser Anspruch im Sinne einer Bestimmung seines Schutzbereichs gemäß Artikel 69 EPÜ und dem zugehörigen Protokoll auszulegen sei, nicht Sache der Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeinstanzen des Europäischen Patentamts.
3. Die Beschwerdekammer kann deshalb den diesbezüglichen Antrag einer Einsprechenden sowie die hierzu von der Patentinhaberin abgegebene Erklärung nur zur Akte geben und zur Kenntnis nehmen.
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Interpretation eines Anspruchs, hier: eines Kombinanationsanspruchs
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 12. August 1978 am 15. März 1979 eingegangene Patentanmeldung 79 100 790.9 war das europäische Patent 8 603 mit einem auf eine Leitungskupplung gerichteten unabhängigen und vier abhängigen Ansprüchen erteilt worden. Der Hinweis auf die Erteilung wurde am 26. Mai 1982 bekanntgemacht.
Zwei zulässige Einsprüche wurden am 24. bzw. 25. Februar 1983 erhoben.
Auf diese hin hat die Einspruchsabteilung das Patent durch Entscheidung vom 30. Mai 1984 mit der Begründung widerrufen, daß die im erteilten Anspruch 1 angegebene Kombination von Merkmalen nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe und auch die übrigen Ansprüche nichts Erfinderisches erkennen ließen.
(...)
II. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 21. Juli 1984 unter Zahlung der betreffenden Gebühr eingelegte Beschwerde der Patentinhaberin.
(...)
VII. Die Beschwerdegegnerinnen begründeten ihre gegenteilige Auffassung im wesentlichen wie folgt:
Die Merkmale a) bis c) und e) sowie der wesentliche Gehalt von d) seien jeweils an sich bekannt und, da sie alle unabhängig voneinander verschiedene Teilaufgaben lösten, sei es naheliegend, sie zur Lösung eines entsprechenden Aufga benkomplexes miteinander zu verbinden. Das Neue am Merkmal d) sei nicht erfindungswesentlich, jedenfalls nicht als solches in den Unterlagen dargestellt oder selbst wenn es als offenbart gelte, vermittle jedenfalls nach ihrer Ansicht auch dieses neue Teilmerkmal nichts Erfinderisches und mache daher den Gesamtgegenstand nicht patentfähig.
Im übrigen machten die Beschwerdegegnerinnen formale Mängel des Anspruchs 1 geltend.
Die Beschwerdegegnerinnen äußerten ferner die Befürchtung, daß die Patentinhaberin ihrem Patentanspruch 1, wenn das Patent aufrechterhalten werde, entgegen seiner Kombinationsfassung eine durch diese Fassung nicht gedeckte, erweiternde Interpretation geben werde.
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IX. Die Beschwerdegegnerinnen beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin I beantragt ferner hilfsweise, in der Entscheidungsformel oder in der Begründung der Entscheidung klarzustellen, daß sich der Patentschutz nur auf die Summe aller im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmale erstreckt und daß eine Erweiterung des erteilten Patentanspruchs durch Weglassen des in Merkmal e) angegebenen Haftvermittlers oder eines der anderen Merkmale unzulässig ist.
Zu letzterem Hilfsantrag gibt die Beschwerdeführerin die Erklärung zu Protokoll, daß der Schutzumfang auf alle Merkmale der Patentansprüche beschränkt sein soll; durch Fortlassen oder Ändern eines der Merkmale ist der Schutz umfang verlassen.
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Entscheidungsgründe
(...) (Zulässigkeit der Beschwerde; zur Änderung der Ansprüche)
5. Die Prüfung der Beschwerde durch die Kammer hinsichtlich des Einspruchsgrundes, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe, hat zu dem Ergebnis geführt, daß dieser Einspruchsgrund nach den vor genommenen Änderungen des Anspruchs 1 nicht mehr vorliegt, und hierfür waren folgende Erwägungen maßgebend:
5.1. Falls sich aus dem Wortlaut eines Anspruchs nichts anderes ergibt, ist bei der Prüfung seines Gegenstandes auf erfinderische Tätigkeit grundsätzlich davon auszugehen, daß ausschließlich die gleichzeitige Anwendung aller seiner Merkmale beansprucht wird. Ein Weglassen oder Ändern eines seiner Merkmale, etwa im Sinne eines nicht genannten Äquivalents, kann von der prüfenden Instanz nicht in Betracht gezogen werden. Im besonderen gilt dies, wenn schon der Wortlaut des Anspruchs eine "Kombination" angibt.
Schon der erteilte Anspruch war expressis verbis ein Kombinationsanspruch. Das Weglassen eines Merkmals würde daher beispielsweise gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen und wäre schon deswegen im Rahmen des Einspruchs- bzw. Beschwerdeverfahrens unzulässig.
Ein Ändern eines Merkmals im Sinne eines in den ursprünglichen Unterlagen nicht genannten Äquivalents würde außerdem gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen.
In diesem Sinne ist die Kammer mit allen beteiligten Parteien der Auffassung, daß der Anspruch 1 nicht anders als durch seinen Wortlaut bestimmt, ausgelegt werden darf.
5.2. Andererseits ist bei festgelegtem Wortlaut eines Anspruchs eine weitergehende Festlegung, wie dieser Anspruch im Sinne einer Bestimmung seines Schutzbereiches gemäß Artikel 69 EPÜ und dem zugehörigen Protokoll auszulegen sei, nicht Sache der Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeinstanzen des Europäischen Patentamts.
Die Beschwerdekammer kann deshalb den diesbezüglichen Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin I sowie die hierzu von der Beschwerdeführerin abgegebene Erklärung nur zur Akte geben und zur Kenntnis nehmen und ihrerseits ohne Vorgriff auf Artikel 69 und das Auslegungsprotokoll erklären, daß Gegenstand der Prüfung im Rahmen dieses Einspruchs- Beschwerdeverfahrens nur die Kombination aller Merkmale des Anspruchs 1, ohne Weglassung und ohne Änderung, ist.
(...)
5.8. Nach alledem ergibt sich der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik und gilt daher als auf erfinderischer Tätigkeit beruhend.
Dieser Anspruch hat daher Bestand, und Entsprechendes gilt für die von ihm abhängigen Ansprüche 2 bis 5.
6. Aus diesen Gründen ist die auf Artikel 102 (1) EPÜ gestützte angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gemäß Artikel 102 (3) EPÜ zu beschließen.
Der vorherige Erlaß einer Mitteilung und Aufforderung nach Regel 58 (4) EPÜ kann im Hinblick auf die Rechtsprechung (vgl. z.B. T 219/83, ABl 1986, 211) unterbleiben, zumal die Parteien hierauf verzichtet haben.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz mit der Auflage zurück verwiesen, das angegriffene Patent in geändertem Umfang mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:
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