T 0451/88 15-01-1990
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Fahrzeugluftreifen
state of the art - key plan - taking of scaling factor
Stand der Technik - Entnahme von Massverhältnissen
aus einer Schemazeichnung (nein)
Zurückverweisung - fehlende Neuheit aufgehoben
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 31. März 1984 angemeldete und am 24. Oktober 1984 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 84 103 583.5 wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 19. April 1988 zurückgewiesen. Der Zurückweisung lagen die ursprünglichen Unterlagen zugrunde.
II. Der ursprüngliche Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
"1. Fahrzeugluftreifen mit einem zugfesten Gürtel zwischen dem Laufstreifen und der Radialkarkasse und mit zu beiden Seiten seines Laufstreifens befindlichen schulterartigen, durch Stufung gebildeten, mit der Fahrbahn nicht in Berührung kommenden Verbreiterungen, von denen aus sich die Reifenseitenwände radial nach innen zu den Reifenwülsten hin erstrecken und wobei ferner sich die Gürtelränder im Bereich der Verbreiterung befinden, dadurch gekennzeichnet, daß die Ränder des Gürtels (6) die senkrechten Stufenflächen (10) der Verbreiterung (Stufe 8) um ein Maß zur Seite hin überragen, das etwa 25 bis 40 % desjenigen Maßes beträgt, um das die ausgebauchten Reifenseitenwände an ihrer breitesten Stelle (Maß B) die senkrechte Stufenfläche überragen."
An diesen Anspruch 1 schließen sich die ursprünglichen Ansprüche 2 bis 4 als abhängige Ansprüche an.
III. In der Zurückweisungsentscheidung kommt die Prüfungsabteilung zu dem Ergebnis, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 mit Blick auf D1 EP-A-0 072 500 neuheitsschädlich getroffen sei, weil ihrer Meinung nach ein Gürtel eines Fahrzeugluftreifens nicht nur aus den eigentlichen Festigkeitsträgern, sondern auch aus diese zusammenhaltenden Gummischichten besteht, so daß die Ränder eines Gürtels von den Gummierungen gebildet seien und Anspruch 1 somit dem Wortlaut und dem Sinne nach auf dieser Basis mit dem Gegenstand der D1 zu vergleichen sei. Dabei wird Fig. 1 der D1 als "Konstruktionszeichnung" interpretiert und durch Inbeziehungsetzen von hieraus abgegriffenen Maßen das Verhältnis vom Gürtelüberstand zum Seitenwandüberstand errechnet. Sie vertritt die Auffassung, daß der Wortlaut des Anspruchs 1 und auch die gesamten Unterlagen der Anmeldung keinerlei Hinweis darauf geben, ob der beanspruchte Gürtel eine seitlich über die Festigkeitsträger hinausgehende Gummierung aufweist oder nicht, und schließt hieraus, daß beim Anmeldungsgegenstand mit Gürtelbreite nicht nur die durch die Festigkeitskörper bestimmte Breite gemeint sein könne.
IV. Mit Schriftsatz vom 19. Mai 1988, eingegangen am 24. Mai 1988 hat die Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung unter gleichzeitiger Bezahlung der Gebühr Beschwerde eingelegt.
V. In der am 27. Juli 1988 eingereichten Beschwerdebegründung vertritt die Beschwerdeführerin insbesondere die Ansicht, daß beim Gegenstand des Anspruchs 1 der Gürtel die Aufgaben habe, dem Reifen eine ausreichende Seitenstabilität zu verleihen und zudem eine bestimmte Verfestigung des Laufstreifens zu erzielen, so daß nur Konstruktionselemente, die dem Reifen diese Eigenschaften verleihen, in die Definition "Gürtel" eingehen dürften, und daß demnach bloße Gummischichten keine Gürtelfunktion ausüben könnten.
Damit dürften die seitlich vorspringenden Gummischichten gemäß Gegenstand der D1 nicht in die im Anspruch 1 definierte Gürtelbreite einbezogen werden.
Die Beschwerdeführerin sieht ferner unter Hinweis auf die von der Prüfungsabteilung zitierte Entscheidung T 204/83 ABl. EPA 1985, 310 das Abgreifen von Maßen aus der D1 als unzulässig an; sie verweist hierzu darauf, daß die D1 weitgehend unverständlich sei und daß ein Widerspruch zwischen Zeichnung und Beschreibung vorläge. D1 offenbare allenfalls einen Gürtelüberstand an sich.
Im Zusammenhang mit der Frage, was zum Gürtel gehöre und was nicht, verweist die Beschwerdeführerin auf ihre parallele europäische Anmeldung Nr. 85 109 635.4 und führt aus, daß in deren Erteilungsunterlagen spitz zulaufende Gummischichten nicht zur Gürtelbreite hinzugerechnet worden seien. In diesem Zusammenhang nennt sie ferner die US-A-4 062 393 und leitet auch hieraus ab, daß seitliche Gummischichten nicht zum Gürtel zu zählen seien. Im übrigen seien in den spitz auslaufenden seitlichen Gummischichten gemäß D1 keine Festigkeitsträger unterzubringen.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und a) gemäß Hauptantrag die Erteilung des Patents im Rahmen der ursprünglich eingereichten Unterlagen bzw.
b) gemäß Hilfsantrag die Erteilung des Patents in Erfüllung der Vorschläge des Prüfungsbescheides vom 13. Januar 1987.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie der Regel 64 EPÜ; sie zulässig.
2. Hauptantrag
2.1. Die den Zurückweisungsbeschluß ausschließlich stützende Druckschrift ist D1, wobei die erste Instanz die Auffassung vertreten hat, daß Fig. 1 dieser Druckschrift den Fahrzeugluftreifen des geltenden, ursprünglich eingereichten Anspruchs 1 neuheitsschädlich treffe. Die Beschwerdekammer kommt diesbezüglich zu einem anderen Ergebnis und zwar aus nachfolgend genannten Gründen:
2.2. Dem strittigen Anspruch 1 liegt eine Bemessungsregel zugrunde, nämlich die, daß - vereinfacht ausgedrückt - bei Vorhandensein einer an den Laufstreifen angrenzenden Stufe, der Überstand des Gürtels in den horizontalen Stufenbereich hinein nur etwa 25 bis 40 % des horizontalen Überstandes der Reifenseitenwandausbauchung gegenüber dem Laufstreifen beträgt.
Damit soll die Aufgabe gelöst werden, einen Reifen mit geringem Rollwiderstand zu schaffen, der ein gleichmäßiges Abnutzungsbild aufweist, aber dennoch eine hohe Dauerstandfestigkeit auch im Bereich seiner Gürtelränder und ferner eine gute dynamische Weichheit aufweist, vgl. ursprünglich S. 2 Abs. 1.
Die vorgenannte Bemessung des Gürtels gemäß Anspruch 1 führt zur gewünschten Versteifung der Laufflächenzone und zur Herabsetzung des Rollwiderstandes bzw. zu einer dynamischen Weichheit des Reifens durch eine genügende Auswölbung der Seitenwände, vgl. ursprüngliche S. 2 Abs. 3.
2.3. In der angefochtenen Entscheidung wird Fig. 1 der D1 als Konstruktionszeichnung bezeichnet und dementsprechend ausgewertet. Dies ist nach Auffassung der Kammer nicht zulässig.
Konstruktionszeichnungen, z. B. auf dem gesamten Gebiet des Maschinenbaus, zeichnen sich durch maßstäbliche Wiedergabe der Konstruktionselemente, durch Maßangaben derselben und durch die Angabe des Wiedergabemaßstabes auf der Zeichnung aus. Etwaige Abweichungen hiervon werden stets ausdrücklich vermerkt, z. B. durch den Hinweis "Teile nicht maßstabsgerecht wiedergegeben", auch eine Unterstreichung von Maßzahlen in unmaßstäblicher Wiedergabe ist normgerecht.
All diesen Anforderungen genügt Fig. 1 der D1 nicht. Sie ist demnach als eine in Patentanmeldungen übliche Schemazeichnung zu werten, die das, was in der betreffenden Anmeldung wesentlich erscheint, angibt, aber in aller Regel nicht unmittelbar geeignet ist das betreffende Teil zu fertigen. Die Prüfungsabteilung führt in ihrer Zurückweisungsentscheidung in den "Entscheidungsgründen", vgl. S. 3 Abs. 2 Satz 1 aus, daß die Beschwerdeführerin "offenbar die rein geometrische Betrachtungsweise nicht bestritten habe". Der hierzu zitierte zweitletzte (vollständige) Satz der Eingabe vom 26. November 1987 von S. 1 lautet "Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich die amtsseitig gemessenen Proportionen ...". Hieraus abzuleiten, daß die Beschwerdeführerin der Prüfungsabteilung darin zugestimmt habe, daß - dem Sinne nach -Fig. 1 der D1 eine maßstäbliche Wiedergabe des Reifenquerschnittes darstelle - erscheint indes nicht gerechtfertigt, weil die Beschwerdeführerin weder direkt noch implizit anerkannt hat, daß Fig. 1 der D1 eine Konstruktionszeichnung ist.
2.4. Aus Vorstehendem folgt, daß D1 schon deshalb kein neuheitsschädliches Dokument sein kann, weil es unzulässig ist, ihre Fig. 1 zur Basis für die Entnahme von Maßverhältnissen zu machen.
Mit Bescheid vom 23. September 1987 hat die Prüfungsabteilung in diesem Zusammenhang auf die Beschwerdeentscheidungen T 169/83 (ABl. EPA 1985, 193) und T 204/83 (ABl. EPA 1985, 310) hingewiesen und daraus gefolgert, daß "selbstverständlich reine Maßangaben in beispielsweise Millimetern nicht einer Zeichnung entnommen werden können." bzw. daß es nicht gestattet sei, "Verhältnisse (von Bemessungen) aus einer schematischen Darstellung zu entnehmen", daß aber "ausschließlich zeichnerisch dargestellte Merkmale durchaus zum Stand der Technik gehören können, insbesondere wenn es sich um Verhältnisse von Abmessungen aus einer Konstruktionszeichnung handle".
Unter 2.3 wurde vorstehend ausgeführt, daß Fig. 1 der D1 keine Konstruktions-, sondern nur eine Schemazeichnung darstellt. Das Vorgehen der Prüfungsabteilung bezüglich der Fig. 1 der D1 ist somit sachlich nicht gerechtfertigt und auch nicht in Einklang mit der von ihr zitierten Rechtsprechung. Nach Auffassung der Kammer ist die Entscheidung T 169/83 bezüglich der hier zu untersuchenden Frage Konstruktions-Schemazeichnung irrelevant, nicht aber die Entscheidung T 204/83. In letztgenannter Entscheidung werden unter 4., 6. und 7. die Grundsätze herausgearbeitet, die für vorliegenden Fall wesentlich sind, dergestalt, daß zunächst besonders sorgfältig zu prüfen ist, "ob die bloße zeichnerische Darstellung dem zuständigen Fachmann eine für ihn erkennbare und ausführbare Lehre zum technischen Handeln vermittelt". Fehlen detaillierte Zahlen und Maßangaben, so muß eine Zeichnung als reine Schemazeichnung interpretiert werden, die dem Fachmann "beliebig Raum für die Umsetzung in die Praxis läßt", wobei weiter ausgeführt wird, vgl. unter 7. "Kein Fachmann würde daher eine Schemazeichnung nachmessen ... Abmessungen, die sich aus einer schematischen Darstellung nur durch Nachmessen ergeben, gehören somit nicht zum Offenbarungsgehalt eines Dokuments".
2.5. Dem Text (Beschreibung/Ansprüche) der D1 ist nach Ansicht der Kammer eine eindeutige Stützung des bestrittenen Maßverhältnisses gemäß Anspruch 1 nicht entnehmbar, da D1 einen Überstand des Gürtels von 5 bis 20 % gegenüber der Laufflächenbreite lehrt, vgl. deren Anspruch 1 bzw. S. 2 Abs. 1, gleichzeitig aber auch lehrt, daß der sich verjüngende Bereich im Anschluß an die Lauffläche ebenfalls in einem Bereich von 5 bis 20 % der Laufflächenbreite endet. Damit entspricht offenbar der Gürtelüberstand dem gesamten Bereich der Verjüngung. Ein Hinweis auf das Maß des Überstands der ausgebauchten Reifenseitenwände gegenüber dem Laufstreifen fehlt. Im übrigen läßt sich der D1 wegen der Diskrepanz zwischen Fig. 1 und der Figurenbeschreibung diesbezüglich keine eindeutige technische Lehre entnehmen.
2.6. Mit der Nennung der D2 will die Beschwerdeführerin das Fachwissen belegen, hinsichtlich der Frage, was auf dem technischen Gebiet der Fahrzeugluftreifen unter dem "Gürtel" zu verstehen ist. Es soll damit erhärtet werden, daß etwaige Gummischichten, die im seitlichen Anschluß an die eigentlichen Festigkeitsträger des Gürtels vorgesehen sind, nicht dem Gürtel hinzuzurechnen seien, wenn es beim Gürtel um die Aspekte - vgl. geltende Aufgabenstellung der Streitanmeldung - Rollwiderstand, Abnutzungsbild, Dauerstandfestigkeit und dynamische Weichheit geht.
In die gleiche Richtung geht der Hinweis der Beschwerdeführerin auf ihre parallellaufende Anmeldung Nr. 85 109 635.4 der Beschwerdeführerin, weil auch damit aufgezeigt werden soll, daß beim Gegenstand vorliegender Anmeldung etwaige Gummischichten, die Festigkeitsträger des Gürtels einbetten bzw. nach außen verlängern, nicht dem Gürtel zuzurechnen seien.
Die Kammer folgt der Auffassung der Beschwerdeführerin insoweit, daß zumindest beim Gegenstand des Anspruchs 1 der Gürtel etwaige Gummischichten nicht umfaßt, da die Anmeldung, als Ganzes gesehen, an keiner Stelle Gummischichten erwähnt oder zeichnerisch darstellt bzw. durch irgendeinen Hinweis einen Rückschluß auf die Einbeziehung von Gummischichten zuläßt. Auf Seite 3, Abs. 2 der Beschreibung ist vielmehr angegeben, daß unter "Gürtel" im Sinne der Anmeldung die übereinanderliegenden Cordlagen zu verstehen sind. Außerdem haben etwaige Gummischichten keinen Einfluß auf diejenigen Eigenschaften des Gürtels, auf deren Verbesserung es im vorliegenden Fall laut Aufgabenstellung ankommt, und haben deshalb hinsichtlich der Bestimmung des Gürtelüberstands beim Gegenstand des Anspruchs 1 außer Betracht zu bleiben. Insofern ist für die Kammer auch ohne Nennung der US-A- 4 062 393 bzw. der parallellaufenden eigenen Anmeldung Nr. 85 109 635.4 der Beschwerdeführerin klar, was in vorliegendem Falle für den beanspruchten Überstand unter "Gürtel" zu subzusumieren ist. Auf eine abschließende Klärung der Frage, was ein Fachmann üblicherweise unter dem Begriff "Gürtel" versteht, kommt es hier nicht an.
Die D1 ist daher unter dem Blickwinkel auszuwerten, daß die Gummierungen im Anschluß an die Festigkeitsträger beim Gegenstand der D1 gemäß Fig. 1 nicht zum Gürtel gehören und daß sie somit auch nicht seine Breite "GB" bestimmen können. Wie die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 20. Mai 1987, vgl. Skizze basierend auf Fig. 1 der D1, aufgezeigt hat, liegt dann das Maßverhältnis beim Gegenstand der D1 bei einem Wert von 0,18 und damit außerhalb desjenigen Bereiches auf den der strittige Anspruch 1 abhebt, so daß sogar unter der Voraussetzung, daß Fig. 1 der D1 als Konstruktionszeichnung interpretiert würde, der Neuheitseinwand und damit die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung sachlich nicht gerechtfertigt waren.
2.7. Nachdem die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag gegeben ist und der von der Vorinstanz festgestellte Patenthinderungsgrund damit nicht besteht, macht die Kammer von der Möglichkeit gemäß Artikel 111 EPÜ Gebrauch, die Anmeldung an die erste Instanz zurückzuverweisen, damit dort die Frage geklärt werden kann, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 im Lichte des hier zu berücksichtigenden Standes der Technik auf erfinderischer Tätigkeit beruht und ob auch die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind. Mit diesen Fragen war die erste Instanz bislang nicht befaßt, so daß schon aus diesem Grund eine Zurückverweisung geboten erscheint. Der Beschwerdeführerin soll ferner die Möglichkeit nicht genommen werden, die Anmeldung auch bezüglich der verbleibenden Fragen in zwei Instanzen prüfen zu lassen.
3. Auf den Hilfsantrag, der schon deshalb unklar ist, weil nicht unmittelbar und zweifelsfrei erkennbar ist, welches Merkmal aus der ursprünglich eingereichten Beschreibung S. 4 letzter Absatz zur Definition und damit Klarstellung des Randabschnittes heranzuziehen ist, ist bei gegebener Sachlage nicht näher einzugehen, da zunächst die Fortsetzung der Prüfung auf der Basis des Hauptantrages zu erfolgen hat.
Die erste Instanz wird ggf. auf den Hilfsantrag zurückzukommen haben, sollte sie den Hauptantrag aus Gründen des Artikels 56 EPÜ oder einer anderen Vorschrift des EPÜ nicht akzeptieren können.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Anmeldung wird zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens an die erste Instanz zurückverwiesen.