T 0210/89 (Wiedereinsetzung des Beschwerdeführers/Einsprechender) 20-10-1989
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1. Ein Einsprechender (Beschwerdeführer), der seine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 (1) EPÜ beantragt, kann sich nicht (in Anwendung des Art. 125 EPÜ) auf den Grundsatz der "Gleichheit aller vor dem Gesetz" berufen, wenn aus verfahrensrechtlichen Gründen keine Beschwerde vorliegt; anders gelagert ist die Sache G 1/86 "Wiedereinsetzung des Einsprechenden/VOEST ALPINE" (ABl. EPA 1987, 447). Ein Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 (1) EPÜ besteht nicht, wenn die Frist für die Einlegung einer Beschwerde (Art. 108 Satz 1 EPÜ) versäumt wird.
2. Bei einem solchen Einsprechenden/Beschwerdeführer ist eine andere Rechtslage als bei demjenigen gegeben, dessen Beschwerde zwar vorliegt, dessen Beschwerdebegründung aber erst nach Ablauf der Frist eingereicht wird; vgl. G 1/86 "Wiedereinsetzung des Einsprechenden/VOEST ALPINE" (ABl. EPA 1987, 447).
3. Änderungen der Regeln des EPÜ gelten nicht rückwirkend (Grundsatz der Rechtssicherheit).
4. Ist die vom Präsidenten des EPA in seinem Beschluß vom 4. Juli 1987 (ABl. EPA 1987, 323*) gemäß Regel 36 (5) EPÜ festgesetzte Frist von zwei Wochen nicht eingehalten worden, so gilt die Beschwerde als nicht eingegangen.
Kein Vorliegen einer Beschwerde
Wiedereinsetzung - Beschwerdeführer, der Einsprechender ist
Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz
Sachverhalt und Anträge
I. Auf einen gegen das europäische Patent EP-B-051.361 eingelegten Einspruch hin beschloß die Einspruchsabteilung am 19. Januar 1989 die Aufrechterhaltung des Patents.
II. Am 29. März 1989, d. h. innerhalb der fiktiven Frist gemäß Regel 78 (3) EPÜ, reichte die Einsprechende (Beschwerdeführerin), die niederländische Firma Hollandse Signaalapparaten B. V., mittels Telekopie eine Beschwerdeschrift ein. Gleichzeitig entrichtete die Beschwerdeführerin auch die Beschwerdegebühr.
III. Die Beschwerdeführerin versäumte, ihre mittels Telekopie eingereichte Beschwerdeschrift innerhalb der vom Präsidenten des EPA gemäß Regel 36 (5) EPÜ festgesetzten Frist von zwei Wochen (Beschluß des Präsidenten des EPA vom 29. Juli 1987, ABl. EPA 1987, 323) schriftlich zu bestätigen.
IV. In einer Mitteilung nach Artikel 113 EPÜ vom 19. Mai 1989 wurde die Beschwerdeführerin von ihrem Versäumnis und den sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen in Kenntnis gesetzt; es wurde ihr mitgeteilt, die Beschwerdeschrift werde als nicht eingereicht betrachtet und die Beschwerde deshalb voraussichtlich als unzulässig zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin wurde auch aufgefordert, innerhalb einer Frist von zwei Monaten eine Stellungnahme einzureichen; dieser Aufforderung kam sie mit Schreiben vom 30. Mai 1989, das am 1. Juni 1989 einging, nach. Gleichzeitig übersandte die Beschwerdeführerin als Anlage zu ihrer vorstehend genannten Stellungnahme eine Kopie der ursprünglich mittels Telekopie eingereichten Beschwerdeschrift.
V. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Beschwerdeschrift, die dem EPA am 29. März 1989 mittels Telekopie übermittelt worden war, ist auf dieser Anlage "verzonden 29 maart 1989 per telefax" aufgedruckt, d. h., daß sie am 29. März 1989 mittels Telekopie übermittelt worden ist; am Fuß dieser Anlage ist handschriftlich "confirmation copy verzonden 30.03.89" vermerkt, d. h., daß am 30. März 1989 ein Bestätigungsschreiben abgesandt worden ist.
VI. Die Beschwerdeführerin behauptet, sie habe dem EPA am 30. März 1989 gemäß Regel 36 (5) EPÜ eine schriftliche Bestätigung ihrer ursprünglich mittels Telekopie eingereichten Beschwerdeschrift übersandt, räumt aber gleichzeitig ein, daß dieses Schreiben verlorengegangen sei. Sie habe mittlerweile bei der niederländischen Post beantragt, nach dem Verbleib des fehlenden Bestätigungsschreibens zu forschen. Die Beschwerdeführerin beantragt daher ihre Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 EPÜ; zur Begründung führt sie aus, daß die Sekretärin ihrer Patentabteilung äußerst erfahren und zuverlässig sei und in 25 Jahren nie eine Frist versäumt habe; sie sei bereit, gemäß Artikel 117 EPÜ eidlich zu bezeugen, daß sie das Bestätigungsschreiben am angegebenen Tag abgeschickt habe.
Entscheidungsgründe
1. Als erstes muß die Kammer die Rechtsfrage entscheiden, ob ein Beschwerdeführer, der Einsprechender ist und dessen Beschwerdeschrift nach Regel 36 (5) EPÜ als nicht eingegangen gilt und dessen Beschwerde daher rechtlich nicht vorliegt, nach Artikel 122 EPÜ in den vorigen Stand wiedereingesetzt werden kann.
2. In der Entscheidung G 1/86 (ABl. EPA 1987, 447) ist festgestellt worden, daß nicht nur - wie ausdrücklich in diesem Artikel bestimmt - der Anmelder oder Patentinhaber, sondern auch der Einsprechende in den vorigen Stand wiedereingesetzt werden kann. Diese Abweichung vom klaren und ausdrücklichen Wortlaut des Artikels 122 ist allerdings aus den in der vorstehend genannten Sache dargelegten Gründen, die auch auf den Sachverhalt in diesem Fall zutreffen, eng begrenzt.
3. Unter Nummer 6 der Gründe der vorstehend genannten Entscheidung heißt es, daß die Materialien zur Entstehung des Artikels 122 sowie ein Vergleich des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten den Schluß zulassen, daß der Einsprechende von der Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung einer Beschwerde ausgeschlossen ist. Diesen Nachteil hat der Anmelder oder Patentinhaber nicht, da die Frist für die Einlegung einer Beschwerde durch ihn in den Artikeln 108 und 122 EPÜ geregelt ist.
4. Unter Nummer 11 der obengenannten Entscheidung wird allerdings erläutert, daß weder der Wortlaut des Artikels 122 EPÜ noch die genannten Materialien dagegensprechen und erst recht nicht ausschließen, daß ein Einsprechender im Rahmen eines rechtsgültigen Beschwerdeverfahrens in den vorigen Stand wiedereingesetzt wird; ein Beschwerdeverfahren ist rechtsgültig, sobald rechtzeitig schriftlich Beschwerde eingelegt und die vorgeschriebene Gebühr (Art. 108 EPÜ) entrichtet worden ist.
5. In Übereinstimmung mit den Grundsätzen unter Nummer 11 der Entscheidung G 1/86 und gemäß Artikel 125 EPÜ müssen somit die von den Vertragsstaaten im allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts zur Beantwortung der in dieser Sache aufgeworfenen Rechtsfrage herangezogen werden, nämlich der Frage, ob ein Einsprechender nach Artikel 122 EPÜ sowohl in die versäumte Frist für die Einlegung einer Beschwerde als auch in Fristen wiedereingesetzt werden kann, die in einem bereits rechtsgültig eröffneten Beschwerdeverfahren versäumt worden sind.
6. Maßgebend ist hier der Grundsatz der "Gleichheit aller vor dem Gesetz", der besagt, daß allen Beteiligten an einem Verfahren vor einem Gericht dieselben Verfahrensrechte eingeräumt werden müssen. Selbstverständlich wird anerkannt - und unter Nummer 14 der Entscheidung G 1/86 auch ausdrücklich festgestellt -, daß es sich bei den Beschwerdekammern des EPA um Gerichte handelt, so daß der vorstehend genannte Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz auf Verfahren vor den Kammern genauso Anwendung findet wie auf die vor anderen Gerichten.
7. Die Große Beschwerdekammer hat sich in ihrer Entscheidung G 1/86 nur mit der ihr vorgelegten spezifischen Frage befaßt und daher auch nur die zweite Hälfte der unter Nummer 5 gestellten Rechtsfrage beantwortet. Sie hat die Auffassung vertreten, daß bei bereits rechtsgültig anhängigen Beschwerden Anmelder und Patentinhaber einerseits und Einsprechende andererseits im Hinblick auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gleichbehandelt werden sollten. Diese Kammer hat jedoch die Frage zu entscheiden, ob der Grundsatz der gleichen Behandlung auch für die Möglichkeit gelten soll, nach Artikel 122 EPÜ in versäumte Fristen für die Ingangsetzung eines Verfahrens, d. h. in Fristen, die vor dem eigentlichen Beginn einer Beschwerde im rechtlichen Sinn ablaufen, wiedereingesetzt zu werden.
8. Aus Nummer 13 der Entscheidung G 1/86 geht hervor, daß der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz nur bei vergleichbaren rechtlichen Sachverhalten Anwendung findet, und auch nur dann, wenn sich eine Differenzierung in der Behandlung der Beteiligten nicht objektiv rechtfertigen läßt (vgl. Entscheidung des EG-Gerichtshofs vom 8. Oktober 1980 in der Sache 810/79 - Peter Überschar, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften 1980, S. 2747). Ferner wird unter Nummer 5 der Entscheidung G 1/86 klargestellt, daß die Rechtslage eines Beschwerdeführers, der Einsprechender ist, nicht mit der eines Beschwerdeführers, der Anmelder (oder Patentinhaber) ist, vergleichbar ist, wenn ein Beschwerdeverfahren aus verfahrensrechtlichen Gründen noch nicht eröffnet worden ist. In beiden Fällen wird die Entscheidung der ersten Instanz zwar rechtskräftig; legt aber ein Einsprechender keine Beschwerde ein, so wird das europäische Patent aufrechterhalten, versäumt jedoch ein Anmelder/Patentinhaber, Beschwerde einzulegen, so führt dies zum Widerruf oder zur Beschränkung des europäischen Patents, was für ihn einen endgültigen Rechtsverlust bedeutet. Für den Anmelder oder Patentinhaber, der es versäumt hat, seine Beschwerde anhängig zu machen, ist somit der Rechtsweg erschöpft, denn ihm stehen weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene weitere Rechtsbehelfe zur Verfügung. Im Gegensatz dazu bleibt einem Einsprechenden, der es versäumt hat, seine Beschwerde anhängig zu machen, immer noch die Nichtigkeitsklage vor den nationalen Gerichten, in deren Zuständigkeit das europäische Patent übergegangen ist (Art. 2 (2) und 64 (1) EPÜ).
9. Nach Auffassung der Kammer stellt sich daher die Rechtslage so dar, daß der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz in Fällen, in denen das Beschwerdeverfahren noch nicht anhängig war, keine Anwendung finden kann; ein Einsprechender hat somit nicht denselben Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 wie ein Anmelder oder ein Patentinhaber.
10. Wendet man den obigen allgemeinen Grundsatz auf den vorliegenden Fall an, so liegt rechtlich keine Beschwerde vor, denn die am 29. März 1989 mittels Telekopie übermittelte Beschwerdeschrift ist nicht gemäß Regel 36 (5) EPÜ schriftlich bestätigt worden. Aus den vorstehend genannten Gründen kann die rechtliche Beurteilung der Großen Beschwerdekammer, die der Entscheidung G 1/86 zugrunde gelegt ist, nicht rechtsgültig auf solch einen Sachverhalt übertragen werden; sie muß vielmehr als auf Fälle beschränkt ausgelegt werden, in denen eine Beschwerde rechtlich vorliegt.
11. Daraus folgt, daß die Kammer nicht darüber zu entscheiden braucht, ob die Beschwerdeführerin die Bedingungen nach Artikel 122 (1) und (2) EPÜ erfüllt hatte.
12. Abschließend stellt die Kammer fest, daß dem im ABl. EPA 1989, 219 veröffentlichten neueren Beschluß des Präsidenten des EPA zufolge sein früherer Beschluß vom 29. Juli 1987 mit Wirkung vom 1. Juli 1989 aufgehoben und gleichzeitig die Anwendung der Regel 36 (5) EPÜ geändert worden ist. Im vorliegenden Fall kann sich die Antragstellerin jedoch nicht auf diesen Beschluß berufen, weil ihre mittels Telekopie übermittelte Beschwerdeschrift am 29. März 1989 eingereicht wurde; der Grundsatz der Rechtssicherheit schließt aber aus, daß die vom Präsidenten verfügte jüngste Änderung der Anwendung der Regel 36 (5) EPÜ rückwirkend gilt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Es liegt keine Beschwerde vor.
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.
3. Die Entscheidung der ersten Instanz wird in vollem Umfang bestätigt.
4. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.