T 0986/93 (Zentrale Reifenfüllungseinrichtung) 25-04-1995
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Verspätet vorgebrachter Einspruchsgrund - geprüft
Einspruchsgründe - Erweiterung (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 297 837 wurde am 16. Oktober 1991 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 88 305 884.4 erteilt.
Der Anspruch 1 in der erteilten Fassung lautet wie folgt:
"Zentrale Reifenfüllungseinrichtung (10) zum Ermitteln und Aufrechterhalten vorgegebener Luftdrücke in Reifenkammern (74) der Reifenanordnungen (12 oder 14), die an den entgegengesetzten Enden mindestens einer Achsanordnung drehbar angebracht sind, auf der das Fahrgestell eines von einem Bediener gesteuerten Fahrzeugs aufliegt, bestehend aus
einer Luftquelle (138) zur Bereitstellung von Druckluft mit einem Druck, der mindestens dem üblichen maximalen Reifenkammerdruck entspricht;
einem ausgewählten Mittel (222) einschließlich Mitteln (226, 228, 230), die vom Bediener einzeln aktiviert werden können, um aus mehreren möglichen Reifenkammerdrücken einen vorab auszuwählen;
einem Steuerkreis mit Mitteln (237), die automatisch mehrmals pro Stunde den Modus "Luftdruck überprüfen" aktivieren, bei dem das von einem Sensor (186) übermittelte Luftdrucksignal mit dem vorher ausgewählten Luftdruck verglichen wird, und automatisch den Modus "Füllen" bzw. "Aufrechterhalten" aktivieren, je nachdem, ob der ermittelte Reifendruck unter den oder innerhalb der festgelegten Grenzen des vorab ausgewählten Reifendrucks liegt;
einem Luftkreis, der die Luftquelle (138) mit den einzelnen Reifenkammern (74) verbindet und drehbare Abdichtungen (28, 30) umfaßt, die die nicht drehbar angebrachten Teile des Luftkreises mit den drehbar angebrachten Teilen strömungsmechanisch verbinden;
an den einzelnen Reifenanordnungen befestigten Steuerventilen (58), die jeweils eine erste, mit einem der drehbar befestigten Teile des Luftkreises verbundene Öffnung (66) eine zweite, mit der Reifenkammer (74) der entsprechenden Reifenanordnung verbundene Öffnung (72) und Ventilmittel (90) aufweisen, die in eine Position gebracht werden können, in der sie die Luftverbindung zwischen den Öffnungen (66, 72) blockieren, wenn der Luftkreis in die Atmosphäre entlüftet wird, bzw. in eine Position bewegt werden können, in der sie die Luftverbindung zwischen den Öffnungen (66, 72) wiederherstellen, wenn der Luftkreis unter Druck gesetzt wird;
Ventilmitteln (174, 154), die bei automatischer Aktivierung des Modus "Aufrechterhalten" durch das Steuerkreismittel (237) den Luftkreis in die Atmosphäre entlüften, so daß die Ventilmittel (90) der Steuerventile (58) in die Blockierposition bewegt werden, Ventilmitteln (174, 154), die bei Aktivierung des Modus "Überprüfen" die Luftquelle (138) kurzzeitig mit dem Luftkreis verbinden, damit dieser unter Druck gesetzt und die Ventilmittel (90) der Steuerventile (58) in die Freigabeposition bewegt werden und damit im Luftkreis an den Sensoren (186) ein Luftdruck hergestellt wird, der dem Reifendruck entspricht, und Ventilmitteln (174, 154), die bei automatischer Aktivierung des Modus "Füllen" durch die Steuerkreisvorrichtung (237) die Luftquelle wieder mit dem Luftkreis verbinden, um den Reifendruck zu erhöhen, gekennzeichnet durch
ein Schaltmittel (234), das vom Bediener beim Betrieb des Fahrzeugs in Gefahrenzonen selektiv und manuell betätigt wird, so daß das Steuerkreismittel (237) häufiger den Modus "Überprüfen" aktiviert, damit ein etwaiger niedriger Reifendruck automatisch rascher ermittelt werden kann, und automatisch häufiger den Modus "Füllen" aktiviert, damit platte Reifen im Rahmen der Luftkapazität der Luftversorgung verhindert werden."
Der abhängige Anspruch 2 bezieht sich auf eine bevorzugte Ausführungsart des Systems nach Anspruch 1.
II. Der Beschwerdeführer legte Einspruch gegen das Patent ein. Gemäß der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ wurde der Einspruch damit begründet, daß der Gegenstand des Patents gegenüber dem Stand der Technik weder neu noch erfinderisch (Art. 100 a) EPÜ) sei und daß die Erfindung nicht ausreichend offenbart sei (Art. 100 b) EPÜ).
Als Stand der Technik führte der Beschwerdeführer das Dokument
DE-A-3 308 080 (D2)
an.
III. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 22. September 1993 verfolgte der Beschwerdeführer die Einwände der fehlenden Neuheit und der unzureichenden Offenbarung nicht weiter, sondern führte einen neuen Einspruchsgrund ein, wonach der Gegenstand des Patents über die ursprüngliche Offenbarung hinausgehe (Art. 100 c) EPÜ). Nachdem die Einspruchsabteilung die Beteiligten längere Zeit zur Sache angehört hatte, beschloß sie, den vom Beschwerdeführer vorgebrachten neuen Einspruchsgrund nach Artikel 114 (2) EPÜ nicht zu berücksichtigen (vgl. Nummer 5 des Protokolls).
In der Frage der erfinderischen Tätigkeit berief sich der Beschwerdeführer im wesentlichen auf die Entgegenhaltung US-A- 4 640 331 (D1), die in der Beschreibung des Patents als nächstliegender Stand der Technik genannt wird.
Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung, den Einspruch zurückzuweisen. Die Entscheidung wurde am 26. Oktober 1993 schriftlich ausgefertigt.
IV. Am 20. November 1993 wurde unter Entrichtung der Beschwerdegebühr gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung wurde am 28. Januar 1994 eingereicht.
Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang.
V. Mit einem am 27. März 1995 eingegangenen Schreiben reichte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) geänderte Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 5 ein.
VI. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 25. April 1995 statt.
In der mündlichen Verhandlung beantragte der Beschwerdegegner als Hauptantrag die Zurückweisung der Beschwerde und als Hilfsantrag die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage der am 27. März 1995 als Hilfsantrag 2 eingereichten Ansprüche sowie der Beschreibung und der Zeichnungen in der erteilten Fassung.
Der Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag entspricht dem Anspruch 1 in der erteilten Fassung des Patents, in den am Ende des Oberbegriffs folgendes Merkmal aufgenommen wurde:
"sowie
Mitteln (122, 124, 136), die feststellen, daß der Luftdruck in einem Reifen unter einen Mindestwert gesunken ist, und daraufhin eine Isolierung dieses Reifens veranlassen."
Der Anspruch 2 entspricht dem Anspruch 2 in der erteilten Fassung.
VII. Der Beschwerdeführer brachte im wesentlichen die nachstehenden Argumente vor:
Die Einspruchsabteilung habe zu Unrecht beschlossen, den Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ nicht zu berücksichtigen.
Im erteilten Anspruch 1 seien zwei im ursprünglichen Anspruch 1 enthaltene Merkmale betreffend die Isolierung eines stark beschädigten Reifens sowie die häufigere Aktivierung des Modus "Überprüfen" in Gefahrenzonen weggelassen worden, die für die Lösung der dargestellten technischen Aufgabe eindeutig erforderlich seien. In der ursprünglich eingereichten Anmeldung sei kein System offenbart worden, das diese Merkmale nicht aufgewiesen hätte. Bei einem Vergleich zwischen der Anmeldung und dem erteilten Patent werde diese Abweichung sofort deutlich. Es bestünden daher prima facie gute Gründe für die Annahme, daß der Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegenstehen könnte.
Zur erfinderischen Tätigkeit ...
VIII. Darauf erwiderte der Beschwerdegegner im wesentlich folgendes:
Der Einwand der Erweiterung des Gegenstands stelle einen neuen Einspruchsgrund dar, den die Kammer entsprechend der Stellungnahme G 10/91 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1993, 420) nicht berücksichtigen dürfe. Nach dieser Stellungnahme sei unter einem "neuen" Einspruchsgrund ein Grund zu verstehen, der in der Einspruchsschrift nicht angeführt worden sei. Aber selbst wenn diese Annahme nicht zutreffe und in das Einspruchsverfahren verspätet eingeführte Einspruchsgründe für das Beschwerdeverfahren nicht unbedingt als "neue" Gründe anzusehen seien, könne dies nur für einen Einspruchsgrund gelten, den die Einspruchsabteilung eingehend erörtert habe, nicht aber für einen, den sie nach Artikel 114 (2) EPÜ nicht berücksichtigt habe. Habe die Einspruchsabteilung von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht, den neuen Grund nicht zu berücksichtigen, so sei die Beschwerdekammer nicht befugt, ihn zu prüfen. Andernfalls würde der beabsichtigte Zweck des Artikels 114 (2) EPÜ untergraben und dem Beschwerdegegner darüber hinaus die Möglichkeit genommen, seine Sache vor zwei Instanzen ausführlich zu vertreten.
Der Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ sei in jedem Falle unbegründet. Die beiden vom Beschwerdeführer angeführten Merkmale seien keineswegs für die Ausführung der Erfindung wesentlich, was für den Fachmann bei Durchsicht der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offensichtlich sei. Insbesondere sei die Isolierung eines stark beschädigten Reifens ein aus der Entgegenhaltung D1 bekanntes Merkmal, das mit der vorliegenden erfinderischen Idee nichts zu tun habe, die sich mit dem befasse, was vor dieser Isolierung geschehe. Darüber hinaus liege es auf der Hand, daß die durch die höhere Überprüfungsfrequenz erzielten Vorteile der Erfindung nicht davon abhängig seien, daß diese Frequenz dem im ursprünglich eingereichten Anspruch 1 angegebenen konkreten Wert entspreche.
Die Argumente des Beschwerdeführers hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit ...
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie den Regeln 1 (1) und 64 EPÜ und ist somit zulässig.
2. Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ
2.1 Der Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ wurde erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebracht, die in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ beschloß, diesen Einwand nicht zu berücksichtigen.
Somit stellt sich die Frage, ob die Kammer diesen Einspruchsgrund - wie der Beschwerdegegner argumentiert - in Anbetracht der Feststellungen in G 10/91 (s. o.) nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers prüfen darf.
2.2 Nach Nummer 3 der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 10/91 dürfen neue Einspruchsgründe im Beschwerdeverfahren nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden.
2.3 Die Behauptung des Beschwerdegegners geht dahin, daß zu den in G 10/91, Nummer 3 angeführten "neuen" Gründen alle in der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ nicht enthaltenen Einspruchsgründe zählten.
In Nummer 18 der Entscheidungsgründe, die die rechtliche Begründung zu Nummer 3 der Stellungnahme enthält, heißt es aber wie folgt:
"Vor allem neue Einspruchsgründe dürfen nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer ... in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden."
Daraus geht eindeutig hervor, daß die Große Beschwerdekammer den in Nummer 3 ihrer Entscheidung verwendeten Begriff "neue Einspruchsgründe" nicht so weit gefaßt sehen wollte, wie der Beschwerdegegner dies behauptet, sondern dabei an einen Einspruchsgrund dachte, der erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht wird.
Diese Sichtweise wird durch den ersten Satz der Nummer 18 der Entscheidungsgründe in der Sache G 10/91 bestätigt, der wie folgt lautet:
"Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens ist es, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten."
Auf dieser Grundlage kann ein Patentinhaber zwar eine Entscheidung, mit der sein Patent infolge eines verspätet in das Einspruchsverfahren eingeführten Einspruchsgrundes widerrufen wird, sachlich anfechten, nicht aber eine Aufhebung dieser Entscheidung erreichen - was paradoxerweise geschehen könnte, wenn der Beschwerdegegner mit seiner Behauptung recht hätte -, indem er einfach eine Beschwerde einreicht und dann der Kammer die Befugnis abspricht, diesen "neuen" Einspruchsgrund zu prüfen.
Eine ähnliche Auffassung von der Verpflichtung der Beschwerdekammer zur Prüfung verspätet in das Einspruchsverfahren eingeführter Einspruchsgründe wurde in der Entscheidung T 931/91 vom 20. April 1993 (unveröffentlicht) unter Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe vertreten.
2.4 Alternativ zu seiner oben erwähnten ersten, allgemein gefaßten Behauptung argumentiert der Beschwerdegegner, daß als "neuer" Einspruchsgrund im Sinne der Nummer 3 der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer auch ein Grund anzusehen wäre, der von einem Einsprechenden im Einspruchsverfahren zwar angeführt, von der Einspruchsabteilung nach Artikel 114 (2) EPÜ aber nicht berücksichtigt wurde, so daß die Beschwerdekammer mit der Prüfung dieses Grundes diesen tatsächlich in der Beschwerdephase ins Verfahren einführen würde.
Auch für diese zweite, eingeschränktere Behauptung des Beschwerdegegners sieht die Kammer keine Grundlage in der in G 10/91 gegebenen Begründung. Zunächst einmal ändert auch die Entscheidung einer Einspruchsabteilung, einen verspätet vorgebrachten neuen Einspruchsgrund nicht zu berücksichtigen, nichts an der Tatsache, daß der Grund im Einspruchsverfahren angezogen, d. h. eingeführt wurde. Zum anderen stellt die verfahrensrechtliche Entscheidung einer Einspruchsabteilung, ein Vorbringen nicht zu berücksichtigen, einen wesentlichen Bestandteil ihres Entscheidungsprozesses dar und ist als solcher einer der Punkte, die im Falle der sachlichen Anfechtung einer endgültigen Entscheidung der Einspruchsabteilung zu überprüfen sind.
2.5 Eine Beschwerdekammer greift zwar nur ungern in die Ermessensentscheidung einer Einspruchsabteilung nach Artikel 114 (2) EPÜ ein, wird dies aber tun, wenn es notwendig und angemessen ist, siehe beispielsweise die Entscheidung T 122/84, Nummer 13 der Entscheidungsgründe (ABl. EPA 1987, 177).
In Nummer 16 der Entscheidungsgründe in der Stellungnahme G 10/91 legte die Große Beschwerdekammer Wert auf die Feststellung, daß die Einspruchsabteilung nur dann über den eigentlichen Inhalt der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ hinausgehende Einspruchsgründe prüfen sollte, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstünden. Wie sich aus Artikel 111 (1) EPÜ ergibt, ist eine Beschwerdekammer, die zu prüfen hat, ob eine Einspruchsabteilung ihr Ermessen bei der Entscheidung, einen solchen Einspruchsgrund unberücksichtigt zu lassen, pflichtgemäß ausgeübt hat, bei ihren Untersuchungen in derselben Weise eingeschränkt wie die Einspruchsabteilung. Die Besorgnis des Beschwerdegegners ist daher unbegründet, daß die Prüfung eines solchen Einspruchsgrundes im Beschwerdeverfahren dazu führen könnte, daß ein Einsprechender Argumente im Einspruchsverfahren verspätet vorbringt in der Gewißheit, daß sie in jedem Falle von der Beschwerdekammer geprüft werden, auch wenn sie von der Einspruchsabteilung nicht berücksichtigt wurden.
2.6 Im vorliegenden Fall wird bei einem Vergleich des Anspruchs 1 in der erteilten und in der ursprünglich eingereichten Fassung sofort deutlich, daß die Merkmale bezüglich der Isolierung eines stark beschädigten Reifens und der häufigeren Aktivierung des Modus "Überprüfen" in Gefahrenzonen im erteilten Anspruch weggelassen worden sind. Diese Weglassung allein stellt natürlich noch keine unzulässige Erweiterung des Gegenstands dar. Aus dem einführenden Teil der Beschreibung des Patents, der mit dem der ursprünglichen Anmeldung identisch ist, wird aber sofort deutlich, daß die Erfindung als Abwandlung des aus der Entgegenhaltung D1 bekannten Systems dargestellt wird, das Mittel zur Isolierung eines stark beschädigten Reifens umfaßt und - siehe Spalte 2, Zeilen 32 bis 39 - durch häufige Meßvorgänge einen solchen Reifen rasch ausmachen sollte, damit er mit ausreichend Luft versorgt und so eine Isolierung hinausgeschoben oder vermieden werden konnte. Somit bestehen nach Auffassung der Kammer prima facie gute Gründe für die Annahme, daß die oben angeführten und im erteilten Anspruch weggelassenen Merkmale für die ursprünglich offenbarte Erfindung wesentlich waren, so daß der erteilte Anspruch durchaus Gegenstände umfassen könnte, die über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgehen. Die Kammer gelangt daher zu der Schlußfolgerung, daß die Einspruchsabteilung zu Unrecht gemäß Artikel 114 (2) EPÜ beschlossen hat, den Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ nicht zu berücksichtigen. Angesichts dieser Sachlage muß geprüft werden, ob die oben angeführten, prima facie vorliegenden Gründe auch einer eingehenden Untersuchung standhalten können.
Nach Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung wird der Reifendruck im Modus "Reifen platt?" "mindestens mehrmals pro Minute" überprüft. Im erteilten Anspruch 1 hingegen heißt es, daß der Reifendruck bei normalem Betrieb "mehrmals pro Stunde" gemessen und im Kampfgebiet die Meßfolge gezielt erhöht wird, "damit ein niedriger Reifendruck rascher automatisch entdeckt und der Modus "Füllen" automatisch rascher aktiviert werden kann, so daß platte Reifen verhindert werden". Nach Auffassung der Kammer bedeutet diese funktionelle Angabe im erteilten Anspruch 1 - insbesondere in Verbindung mit der Beschreibung, in der klar zum Ausdruck gebracht wird, daß ein beschädigter Reifen möglichst rasch entdeckt werden muß -, daß im höheren Modus wesentlich häufiger Überprüfungen vorgenommen werden als beim normalen Betrieb. Die in der ursprünglichen Anmeldung verwendete, ohnehin recht vage Angabe "mehrmals pro Minute" ist als Beispiel für eine solche erhöhte Meßfolge und nicht als feste Vorgabe zu sehen. Die Kammer gelangt daher zu der Schlußfolgerung, daß die Weglassung dieses Merkmals keine unzulässige Erweiterung darstellt.
Bei den Mitteln zur Isolierung eines stark beschädigten Reifens hingegen stellt sich die Sachlage anders dar. Bei Durchsicht der ursprünglichen Anmeldung als Ganzes wird nämlich deutlich, daß diese Mittel durchweg als wesentlicher Bestandteil des ursprünglich offenbarten Systems dargestellt werden. Es gibt nichts, was dem Fachmann nahelegen würde, daß diese Mittel entfallen könnten oder daß ein System ohne diese Mittel funktionsfähig wäre. Damit enthält der erteilte Anspruch 1 Gegenstände, die über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen, so daß der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ hier greift.
Die Kammer verwahrt sich aber gegen die Behauptung, sie habe dem Beschwerdegegner in unverantwortlicher Weise die Möglichkeit vorenthalten, seine Sache vor zwei Rechtsinstanzen zu vertreten. Wie aus Nummer 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eindeutig hervorgeht, hatte der Beschwerdegegner dort durchaus Gelegenheit, seine Argumente zumindest so weit vorzutragen, als nötig gewesen wäre, um die Einspruchsabteilung von der Richtigkeit seines Vorbringens zu überzeugen.
Der Hauptantrag des Beschwerdegegners ist somit zurückzuweisen.
Im Zusammenhang mit seinem Hilfsantrag ist festzustellen, daß das Merkmal bezüglich des Isolierungsmittels in Anspruch 1 etwas allgemeiner formuliert ist als in der ursprünglich eingereichten Fassung des Anspruchs 1. Diese Verallgemeinerung ist jedoch im Hinblick auf die Ausführungen in Spalte 5, Zeilen 3 bis 13 der Beschreibung zulässig. Somit genügt die vorgenommene Änderung, um den Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ auszuräumen.
3. Neuheit
4. Erfinderische Tätigkeit
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Hauptantrag des Beschwerdegegners wird zurückgewiesen.
3. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Maßgabe zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 und 2 entsprechend dem am 27. März 1995 eingereichten Hilfsantrag 2 und mit der Beschreibung und den Zeichnungen in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten.