T 1173/00 (Transformator mit Hochtemperatur-Supraleiter für Lokomotive) 05-06-2003
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Schienentriebfahrzeug mit einem supraleitenden Transformator
1) Siemens AG
2) ALSTOM Holdings
1. Ist in einem Patent das einzige mit konkreten Angaben offenbarte Ausführungsbeispiel für den Kernbereich der beanspruchten Erfindung (hier ein Schienentriebfahrzeug mit einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten supraleitenden Transformator) nicht so vollständig offenbart, daß ein Fachmann die beanspruchte Erfindung am Prioritätstag ausführen konnte, ist es für die Frage der ausreichenden Offenbarung unerheblich, ob eine Variante (hier ein Schienentriebfahrzeug mit einem mit flüssigem Helium gekühlten Transformator) am relevanten Tag der Anmeldung ausführbar war, die zwar unter den Wortlaut des Patentanspruchs fällt, aber im Hinblick auf die Lehre des Patents mangels vergleichbaren technischen Erfolgs nicht in den Kernbereich der beanspruchten Erfindung fällt (siehe Punkt 3.3).
2. Ist eine Erfindung lückenhaft offenbart, kann dahingestellt bleiben, ob es am Prioritätstag objektiv unmöglich war, die Lücke auszufüllen, d. h. ob der angestrebte und beanspruchte technische Effekt von niemandem erzielt werden konnte. Entscheidend ist, ob die Erfindung so vollständig offenbart ist, daß der Durchschnittsfachmann sie am Prioritätstag in Kenntnis des Patents anhand seines allgemeinen Fachwissens ausführen konnte (siehe Punkt 3.9).
Vollständige Offenbarung (nein)
Ausführbarkeit der innewohnenden technischen Lehre am Prioritätstag (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit welcher die Einsprüche 1 und 2 gegen das europäische Patent Nr. 590 546 zurückgewiesen worden sind.
II. Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung hat folgenden Wortlaut:
"Elektrisches Schienentriebfahrzeug, insbesondere elektrische Lokomotive mit einem Transformator (1) zu dessen Stromversorgung sowie mit einer Kältemittelversorgungseinrichtung, dadurch gekennzeichnet, daß ein supraleitender Transformator (1) vorgesehen ist, der gemeinsam mit der Kältemittelversorgungseinrichtung auf dem Schienentriebfahrzeug angeordnet ist, und daß die Kältemittelversorgungseinrichtung ausschließlich von einem als Kältemitteltank dienenden Flüssiggasbehälter (2) gebildet ist, der mit dem supraleitenden Transformator (1) verbunden ist."
Patentanspruch 2 lautet wie folgt:
"Transformator nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß als Kältemittel flüssiger Stickstoff vorgesehen ist."
Die weiteren Patentansprüche 3 bis 6 sind von den Ansprüchen 1 oder 2 abhängig.
III. Die beiden Einsprüche waren auf die Artikel 100 a) und b) EPÜ gestützt. Die Zurückweisung der Einsprüche hinsichtlich des Einspruchsgrunds Artikel 100 b) EPÜ ist in der angefochtenen Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß es für die Beurteilung der Ausführbarkeit der Erfindung keine Rolle spiele, ob Hochtemperatur-Supraleiter am Prioritätstag des Streitpatents schon kommerziell erhältlich waren. Denn die Erfindung ziele auf eine Kombination eines elektrischen Schienentriebfahrzeugs mit einem supraleitenden Transformator und einer Kältemittelversorgungseinrichtung. Supraleitende Transformatoren seien vor dem Prioritätstag schon bekannt gewesen. Die Ausführung der elektrischen Leiter des Transformators sei nicht Gegenstand der Erfindung. Aus diesem Grund wurde auch die Erklärung des Herrn Dr. P. Mocaer vom 11. April 2000 (im folgenden D16) als verspätet vorgebrachtes und prima facie nicht relevantes Beweismittel in der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt.
IV. Der Beschwerdeführer hat mit der Beschwerdebegründung ein technisches Gutachten und einen Zeitschriftenartikel des Gutachters eingereicht:
D14: Gutachten des Herrn P. Tixador zum Stand der Technik der Supraleiter im September 1992 ("Etat de l'art des supraconducteurs en Septembre 1992"); Januar 2001; mit neun zwischen April 1992 und Januar 2000 veröffentlichten Fachartikeln;
D15: Zeitschriftenartikel des Herrn P. Tixador, "La Recherche", No. 307, März 1998.
V. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 5. Juni 2003 statt. Der Beschwerdegegner legte im Laufe dieser Verhandlung die Patentschrift DE-C-3919487 (im folgenden D17) vor.
VI. Der Beschwerdeführer (Einsprechender 2) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Der weitere Verfahrensbeteiligte (Einsprechender 1) nahm sachlich nicht Stellung und erschien auch nicht in der mündlichen Verhandlung.
VII. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
VIII. Der Beschwerdeführer (Einsprechender 2) argumentierte im wesentlichen wie folgt:
Ein elektrisches Schienentriebfahrzeug nach Patentanspruch 1 sei für den Fachmann zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents (30. September 1992) nicht in der ganzen beanspruchten Breite ausführbar gewesen. Denn ein Transformator dieser Leistungsklasse (1 bis 6 MVA) sei damals jedenfalls nicht mit sogenannten Hochtemperatur-Supraleitern (also mit flüssigem Stickstoff als Kältemittel, Anspruch 2) realisierbar gewesen, sondern nur mit Supraleitern, die mit viel größerem Aufwand mit flüssigem Helium in der Nähe des absoluten Nullpunkts gekühlt werden mußten.
Der Patentinhaber habe im ganzen Einspruchsverfahren keine konkreten Angaben gemacht, die dieses detaillierte Vorbringen hätten widerlegen können. Erst am Ende des Beschwerdeverfahrens habe der Patentinhaber mit D17 ein Dokument vorgelegt, das angeblich Transformatorwicklungen aus Hochtemperatur-Supraleitern vor September 1992 offenbare. D17 solle daher nicht berücksichtigt werden, da es überdies während der mündlichen Verhandlung in einer dem Vertreter des Beschwerdeführers nicht geläufigen Sprache vorgelegt worden sei.
Es sei einem Einsprechenden nicht möglich, mit einem einzelnen Dokument den negativen Beweis zu erbringen, daß der Gegenstand des Streitpatents zum relevanten Zeitpunkt nicht ausführbar gewesen sei. Das Gutachten und der Zeitschriftenartikel des Herrn Tixador (D14 und D15) sowie die Erklärung des Herrn Mocaer (D16) bestätigten aber, daß eine praktische Ausführung der (für Kühlung mit flüssigem Stickstoff erforderlichen) Hochtemperatur-Supraleiter im September 1992 für Wicklungen solcher Transformatoren nicht möglich gewesen sei. Diese Dokumente seien somit für die Frage der Ausführbarkeit hoch relevant und sollten von der Kammer berücksichtigt werden.
D14 gebe eine objektive Darstellung des damaligen Entwicklungsstandes aus der Sicht eines anerkannten Experten für Hochtemperatur-Supraleiter. Das Gutachten stütze sich dabei auf die neun beigefügten Fachartikel. Demnach seien im September 1992 nur kurze Leiterproben von maximal 114 m verfügbar gewesen, die bei Kühlung mit flüssigem Stickstoff (77 K) Supraleiteigenschaften aufgewiesen hätten. Hohe kritische Stromdichten (mehr als 300 A/mm²) seien nur mit kleinen Laborproben erreicht worden. Die verfügbaren Hochtemperatur- Supraleiter (intermetallische Oxidverbindungen) hätten schlechte mechanische Eigenschaften gehabt. Sie seien spröde, wenig duktil und schlecht biegsam sowie anisotrop in ihrer Stromtragfähigkeit und von inhomogener Zusammensetzung gewesen. Bezogen auf den Gesamtquerschnitt eines technisch einsetzbaren Leiters seien daher die erreichbaren Stromdichten (20 bis 30. A/mm²) bzw. Stromstärken (10 bis 30 A) noch viel kleiner gewesen. Insbesondere die Herstellung von Spulen mit langen Drähten und hohen magnetischen Wechselfeldern habe ein noch ungelöstes Problem dargestellt. Zudem hätten die verfügbaren Leiter noch hohe Wechselstromverluste aufgewiesen. Ein Verfahren zur supraleitenden Verbindung kurzer Drahtstücke habe es noch nicht gegeben. Deshalb seien erst 1994 etwa 1 km lange Hochtemperatur-Supraleiter-Drähte für den Einsatz bei Versuchstransformatoren mit einer kritischen Stromdichte von nur 30 A/mm² verfügbar geworden. 1996 sei in Japan der erste mit flüssigem Stickstoff gekühlte Transformator mit einer Leistung von 0.8 MVA erfolgreich getestet worden.
Für ein elektrisches Schienentriebfahrzeug werde aber ein Transformator mit einer Leistung von 1 bis 6 MVA benötigt. Zum Prioritätszeitpunkt der Anmeldung sei es unmöglich gewesen, einen solchen Transformator auch nur im Experimentalstadium auszuführen. In ähnlicher Weise habe Herr Tixador im März 1998 in D15 die Meinung vertreten, daß solche Hochtemperatur-Supraleiter für Schienentriebfahrzeuge erst in 5 bis 10 Jahren eingesetzt werden könnten. Auch die Erklärung des Herrn Mocaer (D16) bestätige, daß Anwendungen von Hochtemperatur-Supraleitern 1992 nicht mit verfügbaren Produkten ausführbar gewesen seien, sondern sich nur auf theoretische oder potentielle Eigenschaften der bekannten Materialien hätten stützen können.
Das Streitpatent bestätige indirekt diese Darstellung des Entwicklungsstandes. Denn die Beschreibung (Spalte 1, Zeilen 49 bis 52; Spalte 2, Zeilen 13 bis 20 und Spalte 3, Zeilen 3 bis 7) verweise auf die niedrige "Betriebstemperatur von 4 bis 6 K, die für die heute großtechnisch verfügbaren Supraleiter zwecks Einhaltung ihrer Supraleitfähigkeit erforderlich ist", auf den "Einsatz der zur Zeit in der Entwicklung befindlichen sogenannten Hochtemperatur-Supraleiter (HTSL) mit Betriebstemperaturen um den Siedepunkt flüssigen Stickstoffs" und die sich daraus ergebenden neuen "Anwendungsperspektiven für den Einsatz von supraleitenden Wicklungen" sowie die zu erwartenden Gesamtverluste unter "Annahme von Wechselstromverlusten des Supraleiters, die man bisher an einigen Materialproben gemessen hat". Das Streitpatent offenbare aber keine mögliche Ausgestaltung einer Transformatorwicklung mit Hochtemperatur-Supraleitern. Anhand eines einzigen Ausführungsbeispiels mit flüssigem Stickstoff als Kältemittel beschreibe das Streitpatent die erhofften Vorteile, die sich aufgrund der im Vergleich zu Helium 10-fachen Verdampfungswärme des flüssigen Stickstoffs ergäben. Mit 3 t Gesamtgewicht bzw. 1 bis 2 m³ Volumen des flüssigen Stickstoffs könne dann "die Kühlung eines für diesen Einsatzzweck erforderlichen supraleitenden Transformators für 2 bis 3 Tage" gewährleistet werden (Spalte 2, Zeilen 27 bis 33, der Patentschrift). Daraus folge unmittelbar, daß das angestrebte Ziel mit Helium als Kühlmittel nicht erreicht werden könne (ganz abgesehen von den wesentlich höheren Kosten). Denn flüssiges Helium müßte in mindestens zehnfacher Menge bereitgestellt und unter viel schwierigeren Bedingungen, in der Nähe des absoluten Nullpunktes, auf dem Schienentriebfahrzeug eingesetzt werden. Die Ausführbarkeit der Erfindung mit flüssigem Stickstoff als Kältemittel stelle daher die zentrale Frage dar.
Nach gängiger Rechtsprechung des EPA müsse der Schutzbereich eines Patents dem technischen Beitrag der Offenbarung entsprechen und dürfe nicht Gegenstände abdecken, die ohne unzumutbaren Aufwand nicht verfügbar gewesen seien (T 409/91, ABl. EPA 1994, 653; T 435/91, ABl. EPA 1995, 188). Ein Patentinhaber habe kein Anrecht auf nicht ausreichend offenbarte Teilbereiche (T 612/92, nicht im ABl. veröffentlicht). Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents sei am Prioritätstag nicht mit dem in der Beschreibung geschilderten angestrebten Erfolg ausführbar gewesen. Auf jeden Fall sei der in Anspruch 2 festgelegte Teilbereich nicht ausführbar gewesen und müsse gestrichen werden (vgl. T 412/93, nicht im ABl. veröffentlicht; Richtlinien, Teil C, Kapitel III, 6.4; Richtlinien Teil D, Kapitel V, 4.4.1). Das Streitpatent offenbare die Erfindung daher nicht so deutlich und vollständig, daß ein Fachmann sie am Prioritätstag hätte ausführen können (Artikel 100 b) EPÜ).
Die Argumente des Beschwerdeführers zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden.
IX. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) argumentierte im wesentlichen wie folgt:
D14 bis D16 sollten nicht berücksichtigt werden, da sie verspätet vorgebracht und nicht prima facie relevant seien. Sie hätten keinen Bezug zu einer Anordnung eines supraleitenden Transformators auf einem Schienentriebfahrzeug, seien zum größten Teil nachveröffentlicht und könnten allenfalls zum Verständnis des Forschungshintergrunds beitragen. Es sei zweifelhaft, ob D14 als eine objektive Meinungsäußerung angesehen werden könne, da das Gutachten vom Beschwerdeführer selbst zur Stützung seiner Argumente in Auftrag gegeben worden sei. D15 füge gegenüber D14 nichts Neues hinzu. D16 sei nicht relevant, da es unerheblich sei, ob Hochtemperatur-Supraleiter zum Prioritätszeitpunkt schon kommerziell nutzbar gewesen seien.
Beim angegriffenen Patent gehe es nicht um die Herstellung von supraleitenden Wicklungen, sondern um eine Kombination eines Schienentriebfahrzeugs mit einem supraleitenden Transformator und einem Kältemitteltank als ausschließlicher Kältemittelversorgungseinrichtung, d. h. es werde keine weitere Kälteanlage benötigt. Aufgabe sei es, einen "guten Wirkungsgrad" zu erreichen und hohe "Verluste infolge räumlicher und gewichtsbezogener Beschränkungen, die durch den Transformator resultieren" zu vermeiden (Patentschrift, Spalte 1, Zeilen 32 bis 38). Das Streitpatent gebe eine konkrete technische Lehre zur Lösung dieser Aufgabe, die z. B. wie in der Figur der Patentschrift dargestellt ausgeführt werden könne. Die Erfindung sei nicht auf Kühlung mit flüssigem Stickstoff beschränkt ("Flüssiggas insbesondere Stickstoff"; Spalte 3, Zeile 51 der Patentschrift), sondern es könne irgendein geeignetes Kältemittel im Flüssiggasbehälter verwendet werden. Flüssiges Helium stelle auch ein mögliches Ausführungsbeispiel dar. Damit ergäben sich zwar kürzere Nachfüllintervalle oder größere Kältemittelmengen. Das stelle aber nicht die Ausführbarkeit als solche in Frage, sondern sei allenfalls ein wirtschaftlicher Nachteil. Mit Helium gekühlte stationäre Transformatoren seien zum Prioritätszeitpunkt bereits bekannt gewesen. Es gebe keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen stationären Transformatoren und solchen auf Schienentriebfahrzeugen. Damit habe dem Fachmann wenigstens ein Ausführungsbeispiel zur Verfügung gestanden. Es bestehe daher kein Zweifel, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 so deutlich und vollständig offenbart sei, daß ein Fachmann ihn am Prioritätstag hätte ausführen können.
Das gelte auch für die Ausführung mit flüssigem Stickstoff als Kältemittel (Anspruch 2). Dem Fachmann hätten alle notwendigen Informationen und Materialien zur Verfügung gestanden. Supraleitende Transformatoren wären ebenso verfügbar gewesen wie Herstellungsverfahren für Hochtemperatur-Supraleiter und Drähte mit entsprechender Stromtragfähigkeit. Der Fachmann hätte daher auch mit Stickstoff gekühlte Transformatoren ausführen können, wenn er nur gewollt hätte. Kurze Drahtstücke hätten zu längeren zusammengefügt werden können. D17 weise explizit auf Transformatorwicklungen aus Hochtemperatur-Supraleitern vor dem Prioritätstag des vorliegenden Patents hin. Es gebe daher keinen Grund, warum ein Schienentriebfahrzeug mit einem solchen Transformator objektiv unausführbar gewesen sein sollte.
Nach geltender Rechtsprechung (vgl. Singer/Stauder, "Europäisches Patentübereinkommen", 2. Auflage, Heymanns, Köln 2000, Art. 83, R. Teschemacher, im folgenden "Singer/Stauder-Teschemacher") liege in einem solchen Fall ein Mangel an Offenbarung nur vor, wenn die gegebene technische Lehre nicht in Einklang mit den Naturgesetzen stehe oder wenn der angestrebte und beanspruchte technische Effekt objektiv nicht zu erzielen gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe kein Dokument vorgelegt, das den Entwicklungsstand am Prioritätstag objektiv darstelle und keinen objektiven Grund für die Unausführbarkeit eines mit Stickstoff gekühlten Transformators vorgebracht. Statt dessen habe er nur eine Reihe subjektiver Schlußfolgerungen gezogen. Daß ein solcher nicht kommerziell erhältlich gewesen sei, stelle kein Kriterium für die Ausführbarkeit der Erfindung dar. Das vorliegende Patent habe dem Fachmann eindeutig mindestens einen Weg zur Ausführung der Erfindung aufgezeigt, womit die Erfindung ausreichend offenbart sei (T 292/85, ABl. EPA 1989, 275). Allfällige wirtschaftliche Nachteile einer Ausführung mit Helium als Kältemittel (z. B. kürzere Nachfüllintervalle) stellten keinen Grund für mangelnde Ausführbarkeit dar (vgl. T 881/95, nicht im Amtsblatt veröffentlicht). Es habe kein objektives Hindernis gegeben, andere Kältemittel einzusetzen. Die Erfindung stehe auch nicht im Widerspruch zu den Naturgesetzen und sei daher im ganzen Bereich ausführbar gewesen. Die vom Beschwerdeführer genannte Entscheidung T 409/91 stelle keinen analogen Fall dar, da nicht alle möglichen Transformatorausführungen verfügbar sein müßten. Es sei auch kein Zusammenhang zwischen der Entscheidung T 412/93 auf dem Gebiet der Gentechnik und dem Streitpatent erkennbar, weil im vorliegenden Fall auch der abhängige Anspruch 2 in der beanspruchten Kombination ausführbar gewesen sei.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Offenbarung der Erfindung in der Patentschrift
2.1. Die Erfindung, wie sie in der Patentschrift dargestellt ist, betrifft ein elektrisches Schienentriebfahrzeug der üblichen Leistungsklassen, welches im normalen Betrieb praktisch sinnvoll einsetzbar sein soll. Bei einem solchen Einsatz sollen gegenüber dem Stand der Technik insgesamt technische Vorteile erzielt werden. Die Beschreibung geht von der Feststellung aus, daß Transformatoren zur Stromversorgung von Schienentriebfahrzeugen aufgrund von Gewichts- und Raumbeschränkungen im Vergleich zu stationären Transformatoren hohe Verlustleistungen aufweisen (Spalte 1, Zeilen 6 bis 24). Trotz dieser Beschränkungen könne ein guter Wirkungsgrad eines Schienentriebfahrzeugs erreicht werden, wenn der Transformator supraleitend mit einem als Kältemitteltank dienenden Flüssiggasbehälter als ausschließlicher Kältemittelversorgungseinrichtung ausgeführt werde (Spalte 1, Zeilen 32 bis 46; Patentanspruch 1). Die supraleitende Ausführung reduziere die Gesamtverluste, das Gewicht und den Raumbedarf des Transformators gegenüber einem mit Normalleitern ausgeführten, ölgekühlten Transformator (Spalte 3, Zeilen 3 bis 27). Somit werde es möglich, einen Kältemitteltank unterzubringen, der ausreichend groß sei, um den Transformator zu kühlen, bis der Tank ausgetauscht oder nachgefüllt werden könne (Spalte 2, Zeilen 34 bis 55). Wenn flüssiger Stickstoff (bei 77 K) statt teurem Helium (bei 4 K) als Kältemittel verwendet werde (was nur mit Hochtemperatur- Supraleitern möglich ist), brauche für die Erzeugung von 1 W Kälteleistung nur noch 15 bis 35 W statt 350 bis 1500 W aufgewendet werden (Spalte 1, Zeile 47 bis Spalte 2, Zeile 26). Weiter weise flüssiger Stickstoff im Vergleich zu Helium eine 10-fache Verdampfungswärme auf. Mit 1 bis 2 m³ (ca. 3 t) Kältemittel könne dann (trotz der beschränkten Platzverhältnisse) die Kühlung eines Transformators zur Stromversorgung eines Schienentriebfahrzeugs für 2 bis 3 Tage gewährleistet werden (Spalte 2, Zeilen 27 bis 33; Spalte 3, Zeilen 28 bis 33).
2.2. Die Patentschrift enthält keine Angaben, unter welchen Bedingungen ein anderes Kältemittel eingesetzt werden könnte. Es findet sich kein Hinweis, wie der wesentlich höhere Aufwand für die Kühlung mit flüssigem Helium (Gewicht, Raumbedarf, Komplexität) durch andere Maßnahmen wettgemacht werden könnte, um unter den vorgegebenen Bedingungen auf ein zusätzliches Kühlaggregat verzichten zu können und trotz der mindestens um den Faktor zehn kürzeren Nachfüll- oder Tauschintervalle (bzw. der größeren Kältemittelmenge) das Schienentriebfahrzeug praktisch sinnvoll betreiben zu können. Obwohl Helium in der Einleitung genannt ist und zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents praktisch das einzige allgemein bekannte Kältemittel darstellte, das als Alternative zu flüssigem Stickstoff in Frage kam, ist kein Patentanspruch des Streitpatents auf Helium als Kältemittel gerichtet. Dagegen stellt flüssiger Stickstoff das bevorzugte Kältemittel nach dem abhängigen Patentanspruch 2 dar (siehe auch Anspruch 3 und "Flüssiggas insbesondere Stickstoff" in Zeile 51 der Spalte 3). Flüssiger Stickstoff als Kältemittel und folglich ein Transformator mit Wicklungen aus Hochtemperatur- Supraleiter-Material mit einer Sprungtemperatur über 77 K gehören somit nach der Lehre des Patents zum Kern der Erfindung. Andere Kältemittel mögen in Zukunft als Varianten mit ähnlicher technischer Wirkung hinzutreten, wenn neue Supraleiter mit noch höheren Sprungtemperaturen gefunden werden. Solche künftigen Varianten sollen offensichtlich von Patentanspruch 1 ebenfalls umfaßt werden. Flüssiges Helium als Kältemittel ist nach dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 zwar nicht explizit ausgeschlossen, steht aber dem Fachmann nach der Lehre des Streitpatents nicht als eine Ausführungsart mit vergleichbarem Erfolg zur Verfügung.
3. Vollständigkeit der Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ)
3.1. Gemäß Artikel 100 b) EPÜ ist die Erfindung in einem europäischen Patent so "deutlich und vollständig" zu offenbaren, daß "ein Fachmann sie ausführen kann". Um dieses Erfordernis zu erfüllen, muß ein europäisches Patent also genügend Informationen enthalten, damit ein Fachmann anhand seines allgemeinen Fachwissens die der beanspruchten Erfindung innewohnende technische Lehre erkennen und entsprechend ausführen kann. Dieses Erfordernis muß bereits am Anmeldetag bzw. Prioritätstag erfüllt sein, weil ein entsprechender Mangel später nicht mehr geheilt werden kann, ohne daß gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen wird (siehe G 2/93, ABl. EPA 1995, 275, Punkte 4 und 10 zum entsprechenden Art. 83 EPÜ; Singer/Stauder-Teschemacher, Rdn 14; Schulte, Patentgesetz mit EPÜ, 6. Auflage, Heymanns, Köln 2001, §34, im folgenden "Schulte", Rdn 338).
3.2. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA muß die Offenbarung einer Patentanmeldung oder eines Patentes einen Fachmann in die Lage versetzen, daß er die beanspruchte Erfindung am relevanten Tag der Patentanmeldung im ganzen beanspruchten Bereich mit Erfolg praktisch verwirklichen kann. Ein einziges Ausführungsbeispiel kann eine ausreichende Offenbarung darstellen, wenn die angestrebte Wirkung ohne unzumutbaren Aufwand mit hinreichender Sicherheit über den gesamten beanspruchten Bereich erzielt werden kann. Gelegentliche Fehlschläge sowie die Unbrauchbarkeit einzelner Varianten sind unschädlich. Es müssen nicht alle Einzelheiten für die Ausführung der Erfindung beschrieben werden, wenn dem Fachmann die Ausgangsstoffe verfügbar sind und das Verfahren zur Herstellung einer beanspruchten Sache bekannt ist. Der Umfang der erforderlichen Offenbarung ist eine Tatfrage, die von Fall zu Fall zu entscheiden ist. Die einzelnen Komponenten oder Ausgangsstoffe mußten zum fraglichen Zeitpunkt nicht notwendigerweise kommerziell erhältlich sein. Aber der Durchschnittsfachmann mußte in Kenntnis der fraglichen Offenbarung am Stichtag in der Lage sein, die beanspruchte Erfindung der innewohnenden technischen Lehre entsprechend praktisch zu verwirklichen und die beanspruchte Sache herzustellen (vgl. die schon genannten Entscheidungen T 409/91, Punkte 2 und 3.5; T 435/91, Punkt 2.2.1; T 292/85, Punkte 3.1.2 und 3.1.5; und T 612/92, Punkte 12 und 13; siehe auch Singer/Stauder-Teschemacher, Rdn 11, 16, 21, 23-26 und 60; Schulte, Rdn 278, 279, 306, 315, 332 und 333).
3.3. Für die Frage der ausreichenden Offenbarung einer Erfindung, für die in einem europäischen Patent Schutz begehrt wird, ist es daher unerheblich, ob sie am relevanten Tag der Anmeldung (Prioritätstag) in Form einer unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden Variante ausführbar war, wenn diese Variante nicht der technischen Lehre der Erfindung in ihrem Kernbereich entspricht, auf den sich das einzige konkret offenbarte Ausführungsbeispiel bezieht. Die etablierte Rechtsprechung (Ausführbarkeit im gesamten beanspruchten Bereich) setzt voraus, daß das einzige konkret beschriebene Ausführungsbeispiel als Basis für die Verallgemeinerung und als stellvertretend für den ganzen Bereich angesehen und auch praktisch verwirklicht werden konnte. Eine Variante, die offensichtlich nicht auf derselben technischen Wirkung beruht, ist nicht als eine solche Basis für die Verallgemeinerung geeignet.
3.4. Im vorliegenden Fall ist die entscheidende Frage also, ob der Fachmann in Kenntnis des vorliegenden Patents am Prioritätstag in der Lage war, einen supraleitenden, mit flüssigem Stickstoff gekühlten Transformator zur Stromversorgung eines elektrischen Schienentriebfahrzeuges praktisch auszuführen. Nur wenn dem Fachmann die hierfür erforderlichen Komponenten als Ausgangsprodukte oder in Form allgemeinen Fachwissens um ihre Herstellung verfügbar waren, kommt es auf die Offenbarung von Einzelheiten zur Herstellung supraleitender Transformatorwicklungen nicht an. Der technische Beitrag der Erfindung gegenüber dem allgemeinen Fachwissen am Stichtag könnte, unter dieser Prämisse, in der besonderen Kältemittelversorgungseinrichtung nach Patentanspruch 1 gesehen werden (vgl. Figur der Patentschrift).
3.5. Nach der Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleiter im Jahre 1986 durch Bednorz und Müller und der Entdeckung von Supraleitern im Jahre 1987, die oberhalb des Siedepunktes flüssigen Stickstoffs (77 K) supraleitend werden, setzten weltweit Entwicklungstätigkeiten ein. Es wurden mögliche Anwendungen untersucht, da eine erhebliche Reduktion des technischen Aufwandes für die Kühlung und wesentlich niedrigere Kosten mit flüssigem Stickstoff statt Helium als Kältemittel zu erwarten waren. Es ist unstrittig, daß bereits vor dem Prioritätstag des Streitpatents Labormuster relativ kurzer Drähte aus Hochtemperatur-Supraleiter-Materialien bekannt geworden sind. Basierend auf diesen Erkenntnissen sind Fallstudien zu verschiedenen Anwendungen, darunter auch Transformatoren, durchgeführt worden. Es ist weiter unbestritten, daß es am Prioritätstag des Streitpatents (30. September 1992) auch noch eine Reihe ungelöster Probleme mit diesen neuen Materialien gab, insbesondere bei der Herstellung langer Drähte aus dem spröden Oxidmaterial der bekannten Hochtemperatur-Supraleiter. Das Material war anisotrop, wenig duktil, und schlecht biegsam und wies relativ niedrige Werte der kritischen Stromdichte auf. Bei Transformatoren kamen noch unvermeidliche Wechselstromverluste sowie die Abnahme der kritischen Stromdichte bei höheren Biegungsbeanspruchungen (Wickeln der Spulen) hinzu. Es ist auch unbestritten, daß 1992 zwar schon stationäre Transformatoren mit Heliumkühlung, aber noch kein Transformator mit Hochtemperatur-Supraleitern, in der Praxis ausgeführt worden war.
3.6. Strittig ist jedoch, ob der Fachmann mit den verfügbaren Materialien und Kenntnissen einen Transformator in der Leistungsklasse eines Schienentriebfahrzeugs (größer als 1. MVA) ausführen konnte, wenn er gewollt hätte, wie der Beschwerdegegner vorgetragen hat. Hierzu hat der Beschwerdeführer mit den Beweismitteln D14 bis D16 glaubhaft belegt, daß die Herstellung von Hochtemperatur-Supraleiter- Draht in der erforderlichen Länge (größer als 1000 m) und das Wickeln geeigneter Spulen mit ausreichend hoher kritischer Stromdichte am Prioritätstag des Streitpatents nicht zum allgemeinen Wissensstand des Fachmanns gehörten. Insbesondere D14 mit den zum Teil nachveröffentlichten Fachartikeln stellt für die Kammer in überzeugender Weise dar, daß Drähte mit den bekannten Verfahren nicht einfach nach Wunsch länger und mit höherer kritischer Stromdichte hergestellt werden konnten (siehe z. B. die Figur auf Seite 5 von D14). Die Dokumente sprechen von Rekordlängen, die erreicht wurden, und in keinem der Dokumente, auf die D14 Bezug nimmt, ist eine Möglichkeit erwähnt, kurze Stücke supraleitend zusammenzufügen.
3.7. Für die Beurteilung des Fachwissen am Prioritätstag stellen D14 bis D16 hoch relevante Beweismittel dar, die zusammen mit der Beschwerdebegründung oder schon vorher (D16) eingereicht wurden. Eine objektive Darstellung des Entwicklungsstandes am relevanten Stichtag durch Fachartikel kann praktisch nur mit einer Mehrzahl von zum Teil nachveröffentlichten Dokumenten gelingen, wenn nicht zufällig ein Dokument genau zu diesem Thema (nach dem Stichtag) publiziert wurde. D14 und D16 können daher im vorliegenden Fall nicht unberücksichtigt bleiben.
3.8. Die Kammer kommt unter Berücksichtigung der D14 bis D16 zu dem Schluß, daß dem Fachmann im September 1992 geeignete Hochtemperatur-Supraleiter-Wicklungen für einen Transformator der erwähnten Leistungsklasse nicht verfügbar waren. Desgleichen waren entsprechende Herstellungsverfahren nicht verfügbar, noch weniger präsentes Fachwissen, sondern waren Zielsetzung laufender Entwicklungstätigkeiten. Unter diesen Umständen ist die Offenbarung einer Erfindung nur vollständig, wenn sie dem Fachmann die fehlenden Informationen vermittelt, die ihn in die Lage versetzen, die Erfindung praktisch auszuführen. D17 kommt schon deswegen nicht als Beweismittel für die Verfügbarkeit dieser Kenntnisse im Rahmen des allgemeinen Fachwissens in Frage, weil es keine konkreten Angaben zur Herstellung langer Hochtemperatur-Supraleiter- Drähte enthält.
3.9. Im Hinblick auf diese Offenbarungslücke kann dahingestellt bleiben, ob es am Prioritätstag objektiv unmöglich war, die Lücke auszufüllen, d. h. ob der angestrebte und beanspruchte technische Effekt von niemandem erzielt werden konnte. Es kann z. B. nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß irgend jemand über das einem Durchschnittsfachmann nicht zugängliche Spezialwissen verfügte. Das vorliegende Patent erfüllt aber nicht das entscheidende Kriterium, indem es die Erfindung zumindest nicht so vollständig offenbart, daß der Durchschnittsfachmann sie am Prioritätstag in Kenntnis des Patents anhand seines allgemeinen Fachwissens ausführen konnte (siehe auch Singer/Stauder-Teschemacher, Rdn 18, 23, 29 und 33-35).
4. Die Kammer kommt daher zum Schluß, daß das vorliegende Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie am Prioritätstag ausführen konnte. Der in Artikel 100 b) EPÜ genannte Einspruchsgrund steht daher der Aufrechterhaltung des Streitpatentes entgegen und das Patent ist nach Artikel 102 (1) EPÜ zu widerrufen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.