T 0110/82 (Benzylester) 08-03-1983
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Sachverhalt und Anträge
I. Die am 25. April 1979 eingegangene und am 23. Januar 1980 veröffentlichte europäische Patentanmeldung 79 101 242.0 (Veröffentlichungsnr. 0 006 978), für welche die Priorität der deutschen Voranmeldung vom 5. Mai 1978 in Anspruch genommen wird, wurde, durch die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 1. April 1982 zurückgewiesen. Der Entscheidung liegen die mit Eingabe vom 7. April 1981 eingereichten 13 Patentansprüche, eingegangen am 21. April 1981, zugrunde.
II. In dieser Entscheidung wird - ohne Angabe von Gründen - festgestellt, daß die Anmeldung fünf unterschiedliche Erfindungen enthalte und somit den Erfordernissen nach Art. 82 und R. 46(1) EPÜ nicht genüge. Mit den fünf unterschiedlichen Erfindungsgegenständen sind offenbar die Benzylester der Formel I
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und deren Vorprodukte, wie die Benzylalkohole
der Formel III
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die Benzylhalogenide der Formel V
(FORMEL)
die Aldehyde der Formel VI
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und die Benzylamine der Formel VIII
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gemeint. Ohne auf die Bedeutung der Reste im Detail einzugehen, sei - zum Verständnis der vorliegenden Entscheidung - hervorgehoben, daß R1 jedenfalls Fluoralkoxy oder Fluoralkylmercapto bedeutet oder zwei benachbarte Reste gemeinsam mit den angrenzenden C-Atomen ein- oder mehrfach durch Fluor substituierte Sauerstoff enthaltende heterocyclische Fünf- oder Sechsringe bilden, R2 für Wasserstoff, C1 4-Alkyl, Cyan oder Ethinyl steht, R3 für Reste der Formel
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R4 und R5 für Chlor oder Brom stehen.
III. Gegen diese Entscheidung vom 1. April 1982 hat die Beschwerdeführerin am 15. Mai 1982 mit Schreiben vom 13. Mai 1982 Beschwerde erhoben und diese am 9. Juli 1982 begründet. Die Beschwerdegebühr wurde am 15. Mai 1982 gezahlt. Da keine Begründung für die angeblich mangelnde Einheitlichkeit der Anmeldung gegeben worden sei, so führt die Beschwerdeführerin aus, sei man auf Vermutungen angewiesen. Vermutlich habe die Prüfungsabteilung die Anmeldung deshalb als uneinheitlich angesehen, weil sie sowohl Zwischenprodukte als auch deren Weiterverarbeitungsprodukte mit Wirkstoffeigenschaften umfasse. Indes komme all diesen Verbindungen ein gemeinsames Strukturmerkmal zu; da die Struktur chemischer Stoffe eine ihrer Eigenschaften sei, wiesen die beanspruchten Stoffe, unabhängig davon, ob die Zwischenprodukte in einer oder in mehreren Stufen in die Weiterverarbeitungsprodukte überführt würden, eine gemeinsame Eigenschaft auf und verwirklichten damit - wie in Art. 82 EPÜ gefordert - eine einzige allgemeine erfinderische Idee. Übrigens zeige die zur Auslegung von Art. 82 bestimmte R. 30 c) EPÜ, daß ein Erzeugnis, das Verfahren zu seiner Herstellung und ein Mittel zur Ausführung dieses Verfahrens als einheitlich anzusehen seien, unabhängig davon, ob Erzeugnis und Mittel dieselben Eigenschaften besäßen.
Außerdem erwarte die Öffentlichkeit, daß die an einem Tag angemeldete und in dieser Form veröffentlichte Anmeldung, die alle wichtigen Informationen über die Wirkstoffe und deren Vorprodukte enthalte, aus Gründen der Rechtssicherheit in einer und nicht in mehreren Patenten geschützt werde. Nachdem ohnehin die Schutzfähigkeit der Zwischenprodukte mit den unerwartet überlegenen Eigenschaften der Weiterverarbeitungsprodukte begründet werde, würde eine Aufteilung lediglich zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand bei den Erteilungsbehörden ohne erkennbaren Vorteil für die Öffentlichkeit führen.
Im übrigen sei inzwischen die Frage der Einheitlichkeit von Zwischenprodukten und hieraus hergestellten Weiterverarbeitungsprodukten von der chemischen Beschwerdekammer positiv entschieden worden.
Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der am 21. April 1981 eingegangenen Patentansprüche unter Berücksichtigung des Antrags vom 8. November 1982 zu erteilen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Art. 106 bis 108 und R. 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Die nunmehr geltende Anspruchsfassung ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, weil sie in den ursprünglichen Untertagen ihre ausreichende Stütze findet (vgl. Ansprüche 1 bis 10, 13 und 14 in Verbindung mit der Beschreibung Seite 16, 1. vollständiger Absatz).
3. Die Kammer hat bereits zur Frage der Einheitlichkeit von Zwischenprodukt-Endprodukt-Erfindungen in der Entscheidung "Copolykarbonate" (OJ 8/1982, 306) Stellung genommen und entschieden, daß diese Erfindungen einheitlich sind, wenn sie miteinander in technologischem Zusammenhang stehen und durch die Zielrichtung auf die Endprodukte zu einem einzigen Gesamtkonzept zusammengeschlossen sind. In der Entscheidung wird ausgeführt, daß die Zweckbestimmung der neuen Zwischenprodukte als Einbaukomponente für die Endprodukte bei der Bewertung des Einheitlichkeitskriteriums nicht außer Betracht bleiben darf (unter 4). Die Kammer hat sich in ihrer Entscheidung ausschließlich auf Art. 82 EPÜ gestützt, ohne die Vorschrift nach R. 30 c) EPÜ heranzuziehen, die nach Auffassung der Beschwerdeführerin auf gleichzeitig Zwischen- und Endprodukte betreffende Anmeldungen anwendbar ist.
In der genannten Entscheidung ging es neben der Bereitstellung neuer heterocyclischer aromatischer Copolykarbonate (Endprodukte) auch um die Bereitstellung der hierfür geschaffenen neuen Bishalogenkohlensäureester bestimmter heterocyclischer Zuckeralkohole (Zwischenprodukte), welche die Fähigkeit besaßen, die anvisierten Endprodukte in einer einstufigen Reaktion mit (bekannten) aromatischen Diphenolen, ggf. unter Mitverwendung von Phosgen, zu liefern. Dabei belief sich der Beitrag der heterocyclischen, vom Zwischenprodukt stammenden Komponente zur Gesamtmenge an Carbonatstruktureinheiten des hochmolekularen Endprodukts auf 5 bis 50 Mol/
4. Stößt demnach die gemeinsame Behandlung von niedermolekularen Zwischenprodukten und hochmolekularen Endprodukten im Hinblick auf Art. 82 EPÜ, der die Behandlung mehrerer durch eine allgemeine erfinderische Idee verbundener Erfindungen in einer europäischen Patentanmeldung vorsieht, auf keine Bedenken, so ist auch kein stichhaltiger Grund ersichtlich, der dem Nebeneinander von Zwischen- und Endprodukten in der gleichen Anmeldung auf ausschließlich niedermolekularem Gebiet prinzipiell entgegenstünde. Zwischen beiden Gebieten bestehen zwar insofern Unterschiede, als Zwischenprodukte für Polymere und Polykondensate in der Regel den einzigen Schlüssel zu deren meist einstufigen Herstellung darstellen, während niedermolekulare Endprodukte durch eine Vielzahl meist mehrstufiger Synthesewege über zahlreiche Zwischenprodukte zugänglich sind; da aber im erstgenannten Fall unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit eine völlige Abdeckung des Umfelds des Hochmolekularen durch das Zwischenprodukt möglich ist, bestehen im zweiten Fall grundsätzlich keine Einwände gegen eine teilweise Abschirmung der näheren Umgebung niedermolekularer Endprodukte.
5. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß mit zunehmendem Abstand von Zwischen- und Endprodukt - wie dies auf dem rein niedermolekularen Gebiet möglich ist - der technische Zusammenhang dieses Paares immer lockerer und schließlich zur reinen Zufälligkeit wird. Von einer einzigen allgemeinen erfinderischen Idee im Sinn von Art. 82 EPÜ kann nur gesprochen werden, wenn eine Gruppe beanspruchter Erfindungen noch ein Mindestmaß an Übersichtlichkeit aufweist. Dies ist schon für einen rationellen Ablauf des Erteilungsverfahrens notwendig, wo Zusammengehöriges nicht unnötig zerstückelt und Verschiedenartiges nicht zum Zweck der Gebührenersparnis zusammengefaßt werden soll. Besondere Bedeutung kommt dem Erfordernis der Übersichtlichkeit eines Erfindungskomplexes im Hinblick auf die Information über angemeldete und bestehende Patente zu. Diese ist erforderlich, damit sich Wettbewerber leicht über die bestehende Schutzrechtslage unterrichten können und damit das in den Anmeldungen enthaltene technische Wissen durch die Patentdokumentation schnell und sicher verfügbar wird. Schließlich ist der Gesichtspunkt der Gebührengerechtigkeit in Betracht zu ziehen. Das Erteilungsverfahren wird aus dem Gebührenaufkommen finanziert. Es wäre ungerechtfertigt, Anmeldungen, die gerade wegen ihres heterogenen Inhalts zu einem weit überdurchschnittlichen Aufwand im Erteilungsverfahren, insbesondere im Bereich der Recherche, führen, als einheitlich anzusehen, da dieser Aufwand von den Gebühren aus anderen Anmeldungen mitgetragen werden müßte.
6. Zusammenfassend ergibt sich, daß die Entscheidung über die Einheitlichkeit von Zwischenprodukt-Endprodukt-Erfindungen "Copolykarbonate" auch auf Erfindungen im rein niedermolekularen Bereich anwendbar ist, sofern ein hinreichend enger technischer Zusammenhang gewahrt ist und dem Ordnungscharakter der Vorschrift nach Art. 82 EPÜ gebührend Rechnung getragen wird (Verbot ungerechtfertigter Gebührenersparnis, Gebot der Übersichtlichkeit).
7. Wendet man diesen Bewertungsmaßstab auf die Gruppe der hier zur Diskussion stehenden Erfindungen an, so zeigt sich, daß sowohl die unmittelbaren Vorprodukte der anvisierten Benzylester, nämlich die Benzylhalogenide der Formel V und die Benzylalkohole der Formel III, als auch die möglichen drei Vorprodukte für die Benzylalkohole, nämlich die Benzaldehyde der Formel VI, die Benzylamine der Formel VIII sowie die Benzylhalogenide der Formel V (vgl. Verfahrensanspruch 5 c) das gemeinsame Strukturelement
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enthalten. Dieses wird in einer, höchstens in zwei Reaktionsstufen durch diese Zwischenprodukte in das Molekül der Benzylester nach Formel I eingebaut. Es liegt auch strukturell nicht so weit vom Endprodukt ab, daß der Zusammenhang des jeweiligen Zwischenprodukt-Endprodukt-Paares als zu locker anzusehen wäre. Die hier neben den Endprodukten (Benzylester) beanspruchten Zwischenprodukte (Benzylalkohole, Benzylhalogenide, Benzylamine und Benzaldehyde) stellen demnach eine Einbaukomponente in das Molekül der Benzylester dar und führen ein wesentliches Strukturelement in die Endprodukte ein. Zwischenprodukte und Endprodukte bilden also zusammen eine komplexe Gesamterfindung, deren Teilaspekte (Zwischenprodukte) in hinreichend engem technischem Zusammenhang stehen und durch die Zielrichtung auf die Endprodukte zu einer einzigen allgemeinen erfinderischen Idee verbunden sind. Dem steht nicht entgegen, daß für die Zwischenprodukte eine andere Aufgabe formuliert werden kann als für die Endprodukte, denn durch die Zielrichtung der Zwischenprodukte auf die Endprodukte können die den Zwischenprodukten zugrundeliegenden Teilaufgaben zu einer einheitlichen Gesamtaufgabe zusammengefaßt werden, zu deren Lösung die hierfür geschaffenen Zwischenprodukte beitragen.
8. Wie unter 5 angedeutet, würde allerdings das Verbot unnötiger Zerstückelung einer komplexen Erfindung und das Gebot nach Behandlung zusammenhängender Sachfragen in einem Verfahrenszug dann seinen Zweck verfehlen, wenn die Ordnungsfunktion der Einheitlichkeitsvorschrift im Hinblick auf die anderen dort genannten Gesichtspunkte überdehnt wird. Dies trifft hier nicht zu, wenngleich betont werden soll, daß der vorliegende Fall diesbezüglich dem Grenzfall nahekommt.
9. Hierbei läßt sich die Kammer von folgender Überlegung leiten. R. 46(1) EPÜ autorisiert die Recherchenabteilung zur vorläufigen Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung mit der Folge, daß bei festgestellter Uneinheitlichkeit die Recherche auf den in den Ansprüchen erstgenannten Teilgegenstand beschränkt werden kann. Von diesem Recht hat die Recherchenabteilung im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht; sie hat den auf die Benzylester von Cyclopropancarbonsäurederivaten gerichteten Gegenstand sowie die Herstellung und Verwendung dieser Stoffe nach den Ansprüchen 1, 2, 13 und 14 als einheitlich angesehen und diesen Gegenstand in nicht weniger als fünf durch die internationale Klassifikation (IPC) festgelegten Sachgebieten recherchiert. Die nach ihrer Ansicht sechs uneinheitlichen Gegenstände hat sie näher bezeichnet und den gesamten Anmeldungsgegenstand unter 17 IPC-Symbolen eingeordnet. Wenngleich dieser Zahlenvergleich wegen des unterschiedlichen Umfangs der einzelnen IPC-Klassen über den tatsächlichen Recherchenaufwand quantitativ wenig aussagt, so ist doch eine Vervielfachung der Recherche bei Anerkennung der Einheitlichkeit der gesamten Erfindung offensichtlich. Die im Europäischen Patentamt erhobenen Gebühren, wie die Recherchengebühr, stellen Abgaben für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen seiner Organe dar. Hierbei wird von dem Grundsatz ausgegangen (Art. 40(1) EPÜ), daß sich das Europäische Patentamt selbst tragen muß (vgl. Singer, Das neue Europäische Patentsystem, 1. Auflage, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft 1979, 96). Aus fiskalischen Gründen kann nicht erwartet werden, daß für eine einzige Recherchengebühr beliebig viele Gruppen von Erfindungen in einer Anmeldung recherchiert werden. Andererseits würde eine rigorose Aufteilung der Anmeldung im Sinne der angefochtenen Entscheidung für jede Teilanmeldung eine ganze Reihe anderer Gebühren verursachen, welche die zusätzlichen Recherchengebühren um ein Vielfaches überträfen. Wenngleich fiskalische Überlegungen für die Beurteilungen der Einheitlichkeit nicht im Vordergrund stehen, so sollen sie doch helfen, ungerechtfertigte Gebührenersparnis zu verhindern; ein solcher Fall liegt hier - zumal nach Ausscheidung eines Teilgegenstandes - noch nicht vor.
10. Auch die Übersichtlichkeit scheint im vorliegenden Fall gewahrt, wie die unter 9 vorgenommene Aufschlüsselung zeigt. Die durch Mehrfachklassifikation ausgewiesenen Teilbereiche der Erfindung sind für das Amt und für die interessierte Allgemeinheit überschaubar und ermöglichen eine sinnvolle Dokumentation, Information und Recherchierbarkeit der beanspruchten komplexen Erfindung.
11. Diesen Prinzipien gegenüber hat der von der Beschwerdeführerin vorgetragene Gesichtspunkt vom Anspruch der Öffentlichkeit auf Information über eine Gruppe von Erfindungen aus einer einzigen Patentschrift keinen unbedingten Vorrang.
12. Auf die Ansprüche 2, 4, 6, 8 und 10, die auf die Herstellung der Zwischen- und Endprodukte gerichtet sind, sowie auf die Ansprüche 11 und 12, welche bestimmte Insektizide und die Verwendung der Benzylester zur Insektenbekämpfung betreffen, braucht nicht näher eingegangen zu werden, weil nach Feststellung der Einheitlichkeit der Zwischen- und Endprodukte selbst auch Verfahren zu deren Herstellung und Verwendung im Hinblick auf R. 30 a) EPÜ einheitlich sind.
13. Die Prüfungsabteilung hat sich bei ihrer Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung außer auf Art. 82 zu Unrecht auch auf R. 46(1) EPÜ gestützt. Diese sich an die Recherchenabteilung richtende Regel bildet die Rechtsgrundlage für die Erstellung eines europäischen Teilrecherchenberichts und die Mitteilung an den Anmelder zur Zahlung einer weiteren Recherchengebühr; sie bietet aber keine Handhabe für die Zurückweisung einer Anmeldung durch die Prüfungsabteilung.
14. Nach alledem kann die angefochtene Entscheidung nicht bestehen bleiben. Indes ist die Erteilung des nachgesuchten Patents derzeit nicht möglich, weil bisher weder eine vollständige Recherche durchgeführt, noch eine Bewertung der Zwischenprodukte auf die Patentierungsvoraussetzungen hin erstinstanzlich vorgenommen wurde.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 1. April 1982 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zur weiteren Sachprüfung auf der Grundlage der zwölf Patentansprüche, eingegangen am 21. April 1981, unter Berücksichtigung des Antrags vom 8. November 1982 zurückverwiesen.