J 0011/87 (Verzicht) 26-11-1987
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Beschwerde gegen die Abhilfe einer Beschwerde
Auslegung einer Erklärung
Berücksichtigung von nach der Erklärung eingetretenen Sachverhalten
Zurücknahme der Anmeldung (verneint)
Verzicht (bejaht)
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 12. Oktober 1982 unter der Nummer PCT/FR 82/00166 eingereichte und unter der Nummer WO 83/01235 veröffentlichte Euro-PCT-Anmeldung erhielt die europäische Anmeldungsnummer 82 903 047.7 (europäische Veröffentlichungsnummer 0090006).
II. Am 28. November 1984 teilte der für die Prüfungsabteilung zuständige Formalsachbearbeiter dem Vertreter der Beschwerdeführerin gemäß Regel 51 (4) und (5) EPÜ mit, daß die Prüfungsabteilung die Erteilung eines europäischen Patents auf die obengenannte Anmeldung beabsichtige.
III. Mit Schreiben vom 23. Januar 1985 erwiderte der Vertreter der Beschwerdeführerin auf diese Mitteilung: "Ich beziehe mich auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) und (5) EPÜ vom 28. November 1984. Meine Mandantin hat beschlossen, auf diese europäische Patentanmeldung zu verzichten."
IV. Am 4. April 1985 übermittelte die Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des EPA der Beschwerdeführerin eine Entscheidung, mit der die europäische Patentanmeldung gemäß Artikel 97 (1) EPÜ mit folgender Begründung zurückgewiesen wurde: "Da die Anmelderin der vorgesehenen Fassung nicht zugestimmt hat, erfüllt die Patentanmeldung nicht die Voraussetzungen des EPÜ."
V. Mit Fernschreiben vom 31. Mai 1985, das durch ein am 3. Juni 1985 beim EPA eingegangenes Schreiben gleichen Datums bestätigt wurde, legte die Beschwerdeführerin unter Entrichtung der Beschwerdegebühr gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Am 18. Juni 1985 reichte sie dann die Übersetzungen der Ansprüche der Patentanmeldung beim EPA ein und entrichtete die Erteilungs- und die Druckkostengebühr.
VI. Der Leiter der Formalprüfungsstelle teilte dem Vertreter der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 6. Februar 1986 folgendes mit: "Die Mitteilung vom 4. April 1985 (Formblatt 2066), in der die Zurückweisung der betreffenden europäischen Patentanmeldung aufgrund von Artikel 97 (1) EPÜ festgestellt wurde, wird aufgehoben. Die Erklärung in Ihrem Schreiben vom 23. Januar 1985 (eingegangen am 26. Januar 1985), daß "Ihre Mandantin beschlossen hat, auf diese europäische Patentanmeldung zu verzichten", muß als klare, unmißverständliche Zurücknahmeerklärung betrachtet werden: Sie ist mit dem Tag der Abgabe der Erklärung sofort rechtswirksam geworden.
VII. Am 15. März 1986 beantragte die Beschwerdeführerin eine begründete Entscheidung (R. 69 (2) EPÜ). Auf diesen Antrag hin traf die Formalprüfungsstelle am 15. Juli 1986 eine neue Entscheidung, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 82 903 047.7 mit der bereits im Bescheid vom 6. Februar 1986 gegebenen Begründung mit Wirkung vom 26. Januar 1985 für zurückgenommen erklärt wurde.
VIII. Mit Fernschreiben vom 8. September 1986, das durch ein am 11. September 1986 beim EPA eingegangenes Schreiben gleichen Datums bestätigt wurde, legte die Beschwerdeführerin Beschwerde gegen diese neue Entscheidung ein. Sie entrichtete die entsprechende Gebühr am 16. September 1986 und reichte am 3. November 1986 eine ausführliche Begründung nach.
IX. In dieser Begründung hat die Beschwerdeführerin insbesondere darauf abgehoben, daß eine Verzichterklärung ihres Erachtens nicht als ausdrückliche Zurücknahme der Anmeldung ausgelegt werden dürfe, sondern einem passiven Verhalten gleichkomme, das besage, daß man nichts unternehmen wolle oder könne. Daß das EPA auf das "Verzichtschreiben" der Beschwerdeführerin nicht sofort reagiert habe, sondern zunächst eine Zurückweisungsentscheidung getroffen habe, bestätige die Auslegung, daß die Verzichterklärung eine bloße Information darstelle, für die kein Verfahren vorgesehen sei. Da der Verzicht im übrigen erst eingetragen werde, nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft seien, im vorliegenden Fall also noch nicht eingetragen worden sei, würden durch eine Fortsetzung des Erteilungsverfahrens keine rechtmäßigen Interessen Dritter verletzt.
X. Auf einen Bescheid des Berichterstatters der Juristischen Beschwerdekammer vom 26. August 1987 hin wiederholte die Beschwerdeführerin die in ihrer Beschwerdebegründung enthaltenen Argumente und bestand insbesondere darauf, daß das EPA gemäß Artikel 125 EPÜ die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze berücksichtigen müsse, da das EPÜ keine einschlägigen Bestimmungen über das Zurücknahmeverfahren enthalte. Deshalb müsse die Kammer insbesondere der Tatsache Rechnung tragen, daß in Frankreich und in Deutschland eine besondere Zurücknahmevollmacht verlangt werde; dies bedeute, daß die bloße Abgabe einer Verzichterklärung wirkungslos sei.
XI. Im übrigen mache der Umstand, daß die Prüfungsabteilung zunächst eine Zurückweisungsentscheidung aufgrund von Artikel 97 (1) EPÜ getroffen habe, deutlich, daß sie das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 23. Januar 1985 zunächst nicht als Zurücknahmeerklärung aufgefaßt habe. Dadurch, daß die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung zehn Monate später umgestoßen habe, habe sie der Beschwerdeführerin einen schweren Schaden zugefügt, weil diese gutgläubig davon ausgegangen sei, daß sie nach ihrer Beschwerde gegen die erste, auf Artikel 97 (1) EPÜ gestützte Zurückweisungsentscheidung ein Patent erhalte.
Entscheidungsgründe
1. Angefochtene Entscheidung Im vorliegenden Fall hat die Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des EPA am 4. April 1985 eine erste Entscheidung aufgrund von Artikel 97 (1) EPÜ getroffen, die am 31. Mai 1985 mit einer Beschwerde angefochten wurde.
1.1. Mit Entscheidung vom 6. Februar 1986 hat die Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 diese erste Entscheidung aufgehoben, ohne die Akte an die Beschwerdekammer weiterzuleiten. Damit hat sie, wenn auch verspätet, der Beschwerde nach Artikel 109 (1) EPÜ abgeholfen; diese Abhilfe ist rechtskräftig.
1.2. Nach Aufhebung der Entscheidung befand sich die Anmeldung wieder in den verherigen Verfahrensstand und konnte somit Gegenstand einer neuen Entscheidung werden, die sich allerdings auf einen anderen Grund stützen mußte.
1.3. Die zweite Entscheidung der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 vom 15. Juli 1986 erfüllt diese Bedingung, da sie sich auf einen neuen Grund, nämlich die Zurücknahme der Patentanmeldung, stützt. Sie ist demnach wirksam; daher muß nur die Beschwerde, die am 8. September 1986 von der Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung eingelegt worden ist, von der Beschwerdekammer geprüft werden.
2. Zulässigkeit der Beschwerde Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
3. Materielle Prüfung der Beschwerde
3.1. Im vorliegenden Fall geht es nur um die Frage, ob das Schreiben, mit dem der Vertreter der Beschwerdeführerin dem EPA am 23. Januar 1985 mitgeteilt hat, daß seine Mandantin beschlossen habe, auf die europäische Patentanmeldung zu verzichten, als bloße, rechtlich unwirksame Absichtserklärung auszulegen ist - wie die Beschwerdeführerin behauptet - oder ob es einer unwiderruflichen Zurücknahmeerklärung gleichzusetzen ist.
3.2. Entsprechend ihrer ständigen Rechtsprechung ist die Juristische Beschwerdekammer der Auffassung, daß es bei der Auslegung einer Erklärung im wesentlichen auf deren objektiven Inhalt ankommt, der aber nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang auszulegen ist (vgl. J 24/82, J 25/82, J 26/82, ABl. EPA 1984, 467).
3.3. Falls sich also aus der Erklärung eines Patentanmelders klar und eindeutig ergibt, daß er auf seine Patentanmeldung uneingeschränkt und vorbehaltlos verzichtet, so muß diese Erklärung nach Auffassung der Kammer unabhängig von der verwendeten Formulierung als Zurücknahme der Anmeldung ausgelegt werden (vgl. Entscheidungen J 06/86 (ABl. EPA 1988, 124), Riker Laboratories, vom 28. Januar 1987, Nr. 4 und J 15/86*), Zurücknahme der Anmeldung/AUSONIA, vom 9. Oktober 1987, Nr. 4).
3.4. Die Kammer hat jedoch den Begleitumständen einer solchen Erklärung immer größte Aufmerksamkeit gewidmet und die Auffassung vertreten, daß diese Auslegung nur dann angebracht ist, wenn die wahre Absicht des Beschwerdeführers zweifelsfrei erkennbar ist.
3.5. Nach Auffassung der Kammer stellen daher Erklärungen wie "Die Anmelderin möchte auf diese Anmeldung verzichten" und "Die Anmelderin ist an der oben genannten europäischen Patentanmeldung nicht mehr interessiert und hat beschlossen, darauf zu verzichten" unwiderrufliche Zurücknahmeerklärungen dar, wenn der Gesamtzusammenhang, in dem diese Erklärungen abgegeben worden sind, keine andere sinnvolle Auslegung zuläßt (vgl. die oben genannten Entscheidungen J 06/86 und J 15/86).
3.6. Besteht hingegen auch nur der geringste Zweifel an der wahren Absicht des Beschwerdeführers, sei es, weil die Zurücknahmeerklärung an eine Bedingung geknüpft ist (vgl. Entscheidung J 11/80, ABl. EPA 1981, 141) oder weil der Gesamtzusammenhang die wahre Absicht des Anmelders nicht mit letzter Sicherheit erkennen läßt (vgl. die noch nicht veröffentlichte Entscheidung J 7/87*), Verzicht/SCHWARZ ITALIA, vom 28. Oktober 1987), so hat die Kammer immer die Auffassung vertreten, daß eine solche Erklärung nur dann als Zurücknahmeerklärung ausgelegt werden darf, wenn sich im nachhinein bestätigt, daß dies der wahren Absicht des Beschwerdeführers entspricht. So haben sich die beiden oben genannten Entscheidungen, in denen eine Verzichterklärung als Rücknahmeerklärung ausgelegt worden ist, bei der Feststellung der Zurücknahmeabsicht der Beschwerdeführerin im wesentlichen darauf gestützt, daß sie auf die Mitteilung der Prüfungsabteilung über die Zurücknahme der Anmeldung nicht sofort reagiert hatte (vgl. J 06/86, Nr. 4, letzter Absatz und Entscheidung J 15/86, Nr. 5).
3.7. Im vorliegenden Fall hat der Vertreter der Beschwerdeführerin der Prüfungsabteilung mit Schreiben vom 23. Januar 1985 auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) und (5) EPÜ hin mitgeteilt, daß die Beschwerdeführerin beschlossen habe, auf die europäische Patentanmeldung zu verzichten.
3.8. Eine solche Erklärung kann zwar durchaus als Zurücknahmeerklärung ausgelegt werden, sie kann aber genausogut als bloße Information an die Prüfungsabteilung verstanden werden, daß die Beschwerdeführerin auf die Mitteilung nichts weiter erwidern werde, zumal sie offensichtlich kein Interesse daran hatte, die Anmeldung in diesem Verfahrensstadium zurückzunehmen. Diese zweite Auslegung entsprach im übrigen der Absicht der Beschwerdeführerin, wie sich aus ihren späteren Erklärungen und aus der Tatsache ergibt, daß sie gegen die Zurückweisungsentscheidung vom 4. April 1985 Beschwerde eingelegt hat.
3.9. Daß diese Zurückweisungsentscheidung mehr als drei Monate nach Eingang des "Verzichtschreibens" der Beschwerdeführerin getroffen wurde, zeigt außerdem, daß auch die Prüfungsabteilung ursprünglich von dieser Auslegung ausgegangen war. Damit steht eindeutig fest, daß das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 23. Januar 1985 zwei verschiedene Auslegungen zuließ. Unter diesen Umständen ist die Kammer der Auffassung, daß die Erklärung der Beschwerdeführerin nicht als Zurücknahme der Anmeldung hätte ausgelegt werden dürfen, zumal alle späteren Umstände für eine gegenteilige Auslegung sprachen. Aus diesem Grund muß die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden.
3.10. Da die in Regel 51 (4) EPÜ genannten Bedingungen erfüllt sind, die Beschwerdeführerin also die Erteilungs- und die Druckkostengebühr entrichtet und die erforderlichen Übersetzungen der Ansprüche eingereicht hat, kann die erste Instanz nunmehr die letzten Formalitäten zur Erteilung des Patents vornehmen.
3.11. Da das Schreiben, das die Beschwerdeführerin am 23. Januar 1985 an die Prüfungsabteilung gerichtet hat, nach Auffassung der Beschwerdekammer keine Zurücknahme der Anmeldung darstellt, braucht die Kammer nicht zu prüfen, ob das Europäische Patentamt nach Artikel 125 EPÜ die Wirksamkeit von Zurücknahmeerklärungen von besonderen Handlungen, z. B. der von der Beschwerdeführerin erwähnten Vorlage einer Zurücknahmevollmacht, abhängig machen sollte.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
1. Die Entscheidung der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des EPA vom 15. Juli 1985 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz zurückverwiesen.