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T 0373/12 (Prüfung der Klarheit von geänderten Ansprüchen durch die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern) 02-04-2014
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Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Befugnis der Einspruchsabteilungen und der Beschwerdekammern zur Prüfung von Klarheitseinwänden
Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Fragen vorgelegt:
1. Ist der Begriff "Änderungen" in der Entscheidung G 9/91 der Großen Beschwerdekammer (s. Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe) so zu verstehen, dass er die wörtliche Übernahme von a) Elementen aus abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung und/oder b) vollständigen abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung in einen unabhängigen Anspruch umfasst, sodass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern nach Artikel 101 (3) EPÜ verpflichtet sind, so im Verfahren geänderte unabhängige Ansprüche immer auf Klarheit zu prüfen?
2. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 bejaht, ist dann eine Prüfung des unabhängigen Anspruchs auf Klarheit in solchen Fällen auf die übernommenen Merkmale beschränkt oder kann sie sich auch auf Merkmale erstrecken, die bereits im unveränderten unabhängigen Anspruch enthalten waren?
3. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 verneint, ist dann eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit immer ausgeschlossen?
4. Falls die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommt, dass eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit weder immer erforderlich noch immer ausgeschlossen ist, welche Kriterien sind dann bei der Entscheidung anzuwenden, ob eine Prüfung auf Klarheit in einem bestimmten Fall infrage kommt?
Sachverhalt und Anträge
I. Die Einspruchsabteilung hatte das europäische Patent Nr. 1 814 480 mit ihrer am 19. Dezember 2011 zur Post gegebenen Entscheidung widerrufen.
II. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hatte am 20. Februar 2012 gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und am selben Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung war am 20. April 2012 eingereicht worden.
III. Am 12. Dezember 2013 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des mit Schreiben vom 20. April 2012 eingereichten Hauptantrags oder eines der ebenfalls mit Schreiben vom 20. April 2012 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 9 oder eines der mit Schreiben vom 7. November 2013 eingereichten Hilfsanträge 10 bis 13.
V. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde. Ferner beantragte sie, der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorzulegen:
"Verhindert die Änderung eines unabhängigen Anspruchs im Einspruchsverfahren die Prüfung auf Klarheit (Art. 84 EPÜ), wenn der geänderte Anspruch eine Kombination aus einem erteilten unabhängigen Anspruch und Elementen eines erteilten abhängigen Anspruchs ist? (entgegen den Entscheidungen T 459/09 und T 409/10)"
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags, der dem Anspruch 1 der erteilten Fassung entspricht, lautet wie folgt:
"Medizinische Prothese, die Folgendes umfasst:
eine Prothesenauskleidung mit einer Schirmbefestigung, dadurch gekennzeichnet, dass diese Auskleidung zumindest eine Schicht (47) aus einem schützenden und gleitfähigen Überzug, der auf den Umfang der Auskleidung (38) aufgebracht wurde, umfasst, wobei die Auskleidung aufgrund des erniedrigten Reibungskoeffizienten von Anwendern mit einer körperlichen Behinderung oder von einem Anwender mit nur einer Hand an- und ausgezogen werden kann und worin die Schirmbefestigung eine verbesserte Schirmbefestigung (17, 8, 9, 10) ist, die eine Kolbenbewegung zwischen der Unterseite der Auskleidung und verstärkten Abschnitten neben und über dieser verringert, worin die Prothese ferner zumindest eine Überzugsschicht (47) aus Parylen umfasst."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags durch die Hinzufügung eines Merkmals aus dem abhängigen Anspruch 3 der erteilten Fassung, wonach
"die Prothesenauskleidung (38) im Wesentlichen über ihrer gesamten Oberfläche beschichtet ist".
VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin in Bezug auf den Hauptantrag und den Hilfsantrag 1 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Beide Ansprüche entsprächen den Erfordernissen des EPÜ.
Die Einwände nach Artikel 100 a) und b) EPÜ, die die Beschwerdegegnerin gegen den Hauptantrag vorgebracht habe, seien nicht gerechtfertigt.
Hilfsantrag 1 sei als Reaktion auf die Diskussion über die Bedeutung des Begriffs "Umfang" in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden und sollte daher zum Beschwerdeverfahren zugelassen werden.
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin in Bezug auf den Hauptantrag und den Hilfsantrag 1 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Das Patent offenbare den Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht so deutlich und vollständig, dass der Fachmann ihn ausführen könne. Ferner sei der Gegenstand von Anspruch 1 nicht erfinderisch.
Hilfsantrag 1 sei nicht zum Einspruchsverfahren zugelassen worden und sollte auch nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen werden.
Sollte er dennoch in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden, sei er wegen Verstoßes gegen Artikel 84 EPÜ zurückzuweisen, da das Merkmal, wonach "die Prothesenauskleidung (38) im Wesentlichen über ihrer gesamten Oberfläche beschichtet ist", aufgrund der Formulierung "im Wesentlichen" unklar sei. Unter Berufung auf die Entscheidungen der Beschwerdekammern T 459/09 und T 409/10 sei jedoch die Auffassung zu vertreten, dass auch solche Merkmale eines unabhängigen Anspruchs, die wörtlich aus einem erteilten abhängigen Anspruch in einen unabhängigen Anspruch übernommen wurden (sog. "satzbauliche Eingliederung"), sowohl im Einspruchsverfahren als auch in der Beschwerde auf Klarheit zu untersuchen seien. Soweit sich aus der Entscheidung T 1855/07 etwas anderes ergebe, sei die Rechtsprechung der Beschwerdekammern uneinheitlich, sodass der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die unter Nummer V widergegebene Frage vorzulegen sei.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Schlussfolgerungen der Kammer
2.1 Nach der Erörterung in der mündlichen Verhandlung kam die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents so deutlich und vollständig offenbart ist, dass der Fachmann ihn ausführen kann, dass er jedoch nicht erfinderisch ist. Außerdem ließ die Kammer den Hilfsantrag 1 zum Verfahren zu.
2.2 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 besteht aus einer Kombination der Merkmale des Anspruchs 1 der erteilten Fassung und des abhängigen Anspruchs 3 der erteilten Fassung, der auf Anspruch 1 zurückverweist. Die Frage, ob in einem solchen Fall die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft werden können, scheint tatsächlich, wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht, in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedlich beurteilt worden zu sein. Die Kammer hat daher entschieden, den Fall zur Klärung dieser Frage der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
3. Gründe für die Befassung der Großen Beschwerdekammer
3.1 Nach Artikel 112 (1) a) EPÜ legt die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, der Großen Beschwerdekammer von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten konkrete Rechtsfragen zur Beantwortung vor, wenn sie eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung für erforderlich hält oder der Klärung der vorgelegten Rechtsfragen nach ihrer Auffassung grundsätzliche Bedeutung zukommt.
3.2 Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung ist erforderlich, wenn die Rechtsprechung der Beschwerdekammern voneinander abweicht und deshalb eine einheitliche Rechtsanwendung nicht gewährleistet ist (vgl. Benkard/Günzel, EPÜ, 2. Aufl., Art. 112, Rdn. 5). Nach Auffassung der Kammer ist dies hier der Fall.
Die der Vorlagefrage zugrunde liegende Problematik, ob - und wenn ja, in welchem Umfang und unter welchen gegebenenfalls erforderlichen weiteren Voraussetzungen - die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts berechtigt oder sogar verpflichtet sind, die Klarheit von unabhängigen Ansprüchen zu prüfen, in die Bestandteile aus ursprünglich erteilten abhängigen Ansprüchen oder komplette abhängige Ansprüche aufgenommen wurden, wird in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts unterschiedlich gelöst.
3.2.1 Der rechtliche Rahmen für die Befugnis zur Prüfung der Klarheit von Ansprüchen im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren wird einerseits durch den Umstand vorgegeben, dass ein Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ kein Einspruchsgrund im Sinne von Artikel 100 EPÜ ist und die Vorschriften des Artikels 101 (1) und (2) EPÜ den Umfang der Prüfung eines Einspruchs ausdrücklich auf die in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe beschränken.
Anderseits muss die Einspruchsabteilung gemäß Artikel 101 (3) b) EPÜ ein im Einspruchsverfahren geändertes Patent widerrufen, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass es den Erfordernissen des Europäischen Patentübereinkommens nicht genügt (so bereits: T 227/88 vom 15. Dezember 1988, ABl. EPA 1990, 292, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). Damit reicht die der Einspruchsabteilung durch Artikel 101 (3) EPÜ eingeräumte Prüfungsbefugnis grundsätzlich weiter als die in Artikel 101 (1) und (2) EPÜ vorgesehene. Gleiches gilt nach Artikel 111 (1) EPÜ für die Beschwerdekammern.
Weiter sind zur Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen die Vorgaben der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/91 vom 31. März 1993 (ABl. EPA 1993, 408) zu berücksichtigen. Unter Punkt 19 der Entscheidungsgründe hat die Große Beschwerdekammer ausgeführt:
"Um Missverständnissen vorzubeugen, sei schließlich noch betont, dass Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ (z. B. des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ) zu prüfen sind."
Weitere Ausführungen dazu, ob unter dem dort verwendeten Wort "Änderungen" jede Umgestaltung oder vielmehr nur eine - wie auch immer geartete qualitative - Änderung des fraglichen Anspruchs zu verstehen ist, lassen sich dieser Entscheidung nicht entnehmen. Sie ergeben sich auch nicht aus dem Kontext dieser Entscheidung, denn die Große Beschwerdekammer war in G 9/91 mit einer anderen Fragestellung befasst, nämlich den von den Instanzen des EPA zu beurteilenden Einspruchsgründen gemäß den Artikeln 99 (1) und 100 sowie Regel 55 c) EPÜ 1973 (Regel 76 (2) c) EPÜ). Einwände auf der Grundlage des Artikels 84 EPÜ gehören hingegen nicht zu den in Artikel 100 EPÜ erschöpfend aufgezählten möglichen Einspruchsgründen (so auch: T 381/02 vom 26. August 2004, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).
3.2.2 Allerdings haben die Technischen Beschwerdekammern in mehreren Entscheidungen - teilweise auch schon vor Erlass der Entscheidung G 9/91 - die Auffassung vertreten, dass nur solche Änderungen eine erneute Klarheitsprüfung erlauben, die keine bloße "satzbauliche Eingliederung" sind, sondern zu einer sachlichen Änderung des Anspruchsinhalts führen.
3.2.2.1 In T 301/87 vom 16. Februar 1989 (ABl. EPA 1990, 335) hat die Kammer einerseits den Grundsatz aufgestellt, dass ein im Einspruchsverfahren geänderter Anspruch gemäß Artikel 102 (3) EPÜ 1973 (Artikel 101 (3) EPÜ) von einer der beiden Instanzen daraufhin zu prüfen ist, ob es durch die Änderung zu einem Verstoß gegen irgendein Erfordernis des Übereinkommens, also auch des Artikels 84 EPÜ, gekommen ist. Andererseits lasse Artikel 102 (3) EPÜ 1973 keine auf Artikel 84 EPÜ gestützten Einwände zu, wenn diese nicht durch die Änderungen der Anspruchsfassung bedingt sind. Es erscheine deshalb einigermaßen absurd, wenn wegen einer geringfügigen Änderung außerhalb des Artikels 100 EPÜ 1973 liegende Einwände erhoben werden könnten, die mit der Änderung selbst überhaupt nicht im Zusammenhang stehen (Nrn. 3.7 und 3.8 der Entscheidungsgründe).
3.2.2.2 Die in der Entscheidung T 301/87 angelegte Differenzierung zwischen Klarheitsproblemen, die durch die Änderung der Anspruchsfassung bedingt sind, und solchen, die mit der Änderung selbst nicht in Zusammenhang stehen, wurde in späteren Entscheidungen wieder aufgegriffen.
In T 367/96 vom 3. Dezember 1997 (Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe) folgte die Kammer der Entscheidung T 301/87 in der Feststellung, dass nach Artikel 102 (3) EPÜ 1973 keine Einwände unter Berufung auf Artikel 84 EPÜ erhoben werden dürften, wenn das in geänderter Form aufrechterhaltene Patent mangelnde Stützung im Sinne von Artikel 84 EPÜ aufweise und diese mangelnde Stützung bereits bei Erteilung bestanden habe und nicht nach der Erteilung in das Patent eingebracht worden sei, d. h. wenn diese Einwände sich nicht aus den vorgenommenen Änderungen ergäben. In dem dort entschiedenen Fall betraf dies Anspruch 1, der im Wesentlichen durch die Zusammenfassung der erteilten Ansprüche 1, 2 und 6 in Übereinstimmung mit den darin enthaltenen wechselseitigen Bezugnahmen gebildet worden war und sich somit auf ein Verfahren bezog, das bereits in der erteilten Fassung des Patents beansprucht war (vgl. auch: T 381/02 vom 26. August 2004, Nr. 2.3.5 der Entscheidungsgründe).
Zum gleichen Ergebnis kamen auch die jeweiligen Kammern in T 472/88 vom 10. Oktober 1990 (Nr. 2 der Entscheidungsgründe) und T 381/02 vom 26. August 2004 (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).
Auch in T 326/02 vom 11. Mai 2004 befand die Kammer unter Hinweis auf T 301/87, dass nach Artikel 102 (3) EPÜ 1973 geprüft werden müsse, ob es durch die Änderungen zu einem Verstoß gegen irgendein Erfordernis des Übereinkommens, also auch des Artikels 84 EPÜ, komme. Artikel 102 (3) EPÜ 1973 lasse jedoch keine auf Artikel 84 EPÜ gestützten, nicht durch die Änderungen bedingten Einwände zu (Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe).
Ebenso kommt nach der Entscheidung T 1855/07 vom 7. September 2010 die Prüfung der Klarheit bei einer satzbaulichen Eingliederung eines ursprünglich erteilten abhängigen Anspruchs grundsätzlich nicht in Betracht, während sachliche Änderungen nach Artikel 102 (3) EPÜ 1973 auf die Erfüllung der Erfordernisse des Übereinkommens zu überprüfen sind (siehe Nrn. 2.2 und 2.3 der Entscheidungsgründe).
Neben den in den zitierten Entscheidungen bereits angeführten Argumenten stellte die Kammer in dieser Entscheidung ferner darauf ab, dass die satzbauliche Eingliederung eines abhängigen in einen unabhängigen Anspruch auch deshalb keinen Anlass für einen Einwand nach Artikel 84 EPÜ darstellen könne, weil das Wesen abhängiger Ansprüche im Sinne der Regel 29 (4) EPÜ 1973 (Regel 43 (4) EPÜ) darin liege, eine weitere besondere Ausführungsart der bereits im unabhängigen Anspruch definierten Erfindung unter Schutz zu stellen. Ein abhängiger Anspruch, der eine Bezugnahme auf den die wesentlichen Merkmale der Erfindung wiedergebenden unabhängigen Anspruch im Sinne der Regel 29 (4) EPÜ 1973 (Regel 43 (4) EPÜ) enthalte, stelle deshalb genau dieselbe Ausführungsart unter Schutz wie ein Anspruch, in dem diese Bezugnahme durch die Aufnahme des vollständigen Wortlauts des unabhängigen Anspruchs ersetzt worden sei.
3.2.2.3 Im Ergebnis teilt die vorlegende Kammer die Bewertung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.03 in der Entscheidung T 381/02 (Nr. 2.3.7 der Entscheidungsgründe), wonach den zitierten Entscheidungen als gemeinsame Linie zugrunde liegt, dass der Begriff "Änderung" im Sinne der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer in G 9/91 stets als sachliche Änderung und nicht als bloße Zusammenführung des Wortlauts der erteilten Fassungen von unabhängigen und abhängigen Ansprüchen zu verstehen ist. Nach diesen Entscheidungen kommt somit eine Prüfung der Klarheit im Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren grundsätzlich nicht in Betracht. Eine Prüfungskompetenz ist jedoch (ausnahmsweise) gegeben, wenn durch die Übernahme einer Formulierung aus einem erteilten abhängigen Anspruch ein neues Klarheitsproblem entsteht, d. h. eines, das vorher in dem übernommenen Teil noch nicht bestand.
3.2.2.4 Gemäß T 1459/05 liegt dem die Annahme zugrunde, dass die Prüfungsabteilung, bevor sie ein Patent erteilt, sämtliche Ansprüche sowohl im Hinblick auf ihren Wortlaut allein als auch im Hinblick auf ihre Relation zu vorangehenden Ansprüchen, auf die sich rückbeziehen, systematisch - insbesondere auch im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ - prüft. Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern hätten somit in nachfolgenden Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren - letztlich wegen der durch Artikel 100 EPÜ limitierten Zahl der Einspruchsgründe - in der Regel keine Befugnis, eine derartige Prüfung zu wiederholen (vgl. T 1459/05 vom 21. Februar 2008, Nr. 4.3.5 der Entscheidungsgründe).
3.2.2.5 Einen ähnlichen Ansatz hat die Kammer in anderer Besetzung auch in der Entscheidung T 1440/08 vom 5. August 2010 verfolgt (vgl. Nr. 4 der Entscheidungsgründe).
In diesem Fall war Anspruch 1 durch das Hinzufügen der Merkmale C bis E geändert worden, die den erteilten Ansprüchen 6 bis 8 entsprachen. Die Kammer stellte fest, dass es durch die Aufnahme dieser Merkmale zu einer Unklarheit des Anspruchs 1 bzw. zu einem Widerspruch zwischen dem Merkmal B und dem Merkmal C gekommen sei. Wenn aber gerade das Hinzufügen eines Merkmals zu einem Widerspruch im Anspruchswortlaut führe, sei dieser Klarheitsmangel, so die Kammer, als durch die Änderung hervorgerufen zu betrachten. Da der Klarheitsmangel in diesem Fall also eine direkte Folge der Änderung sei, sei die Kammer befugt zu prüfen, ob der Anspruch die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfülle.
Das heißt, eine Klarheitsprüfung sollte zulässig sein, wenn sie Widersprüche oder Unklarheiten innerhalb eines Anspruchs betrifft, die durch Änderungen hervorgerufen wurden (so auch: T 472/88 vom 10. Oktober 1990, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 420/00 vom 21. Januar 2003, Nr. 3.6.2 der Entscheidungsgründe; T 681/00 vom 26. März 2003, Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe).
3.2.3 Die von der Beschwerdegegnerin zitierte Entscheidung T 459/09 der Technischen Beschwerdekammer 3.4.01 vom 13. Dezember 2012 weicht nach Auffassung der vorlegenden Kammer von der unter 3.2.2 dargelegten Rechtsprechung ab.
3.2.3.1 In T 459/09 (Nr. 4.1.6 der Entscheidungsgründe) hatte die dortige Kammer ausgeführt:
"Angesichts des Vorstehenden ist die Kammer der Auffassung, dass ein geänderter unabhängiger Anspruch grundsätzlich auf Klarheit geprüft werden sollte, selbst wenn die Änderung nur in einer bloßen wortgetreuen Kombination von Ansprüchen des erteilten Patents besteht. Jeder andere Ansatz liefe nämlich Gefahr, die Pflicht zur Prüfung eines geänderten Patents unverhältnismäßig einzuschränken, die Artikel 101 (3) EPÜ einer mit einem geänderten Patenten befassten Einspruchsabteilung auferlegt."
Zur Begründung berief sich die Kammer darauf, dass Artikel 101 (3) EPÜ abweichend von der Regelung des Artikels 100 EPÜ - und damit auch abweichend von Artikel 101 (1) und (2) EPÜ - für den Fall der Prüfung geänderter Patentansprüche eine erweiterte Prüfungskompetenz der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammern vorsehe. Dabei sei die Formulierung des Artikels 101 (3) a) EPÜ insofern eindeutig, als sie allgemein von "den Erfordernissen dieses Übereinkommens" spreche. Eine restriktive Auslegung des Begriffs "Änderungen" lehnte die Beschwerdekammer 3.4.01 deshalb ab: Das geänderte Patent sollte unabhängig von der Art der Änderung im Hinblick auf alle Erfordernisse des Übereinkommens geprüft werden (vgl. Nr. 4.1.6 der Entscheidungsgründe). Die Kammer unterschied also zwischen einer auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 EPÜ beschränkten Prüfungskompetenz bei unveränderten Ansprüchen und einer unbeschränkten Prüfungskompetenz bei Ansprüchen, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren geändert wurden.
Die Beschwerdekammer 3.4.01 sah sich dabei im Einklang mit der Entscheidung G 9/91, denn die Große Beschwerdekammer habe mit dem Satz, dass geänderte Patentansprüche "in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ [...] zu prüfen sind", die Kompetenz der Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern zur Prüfung der Klarheit solcher Ansprüche grundsätzlich anerkannt (vgl. Nr. 4.1.3 der Entscheidungsgründe).
Darüber hinaus gab die Kammer zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen "sachlichen" und "nicht sachlichen Änderungen", wie sie der hier unter Nummer 3.2.2 zitierten Rechtsprechung zugrunde liegt, problematisch sei. Die Aufnahme eines technisch relevanten Merkmals in einen unabhängigen Anspruch erfolge in der Regel im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren mit dem Ziel, einen Einwand nach Artikel 100 EPÜ zu entkräften. Nach Auffassung der Beschwerdekammer 3.4.01 seien deshalb alle Änderungen, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen würden, "sachlich" und erlaubten eine uneingeschränkte Klarheitsprüfung. Insbesondere sei es in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die Änderung in der Übernahme eines Merkmals aus der Beschreibung in den unabhängigen Anspruch oder in der wortgetreuen Kombination erteilter Ansprüche bestehe (Nr. 4.1.7 der Entscheidungsgründe).
3.2.3.2 In der Entscheidung T 409/10 vom 8. Oktober 2013 stellte die Kammer 3.3.10 unter Berufung auf T 459/09 fest: "Jede Änderung, die als sachliche Änderung angesehen werden kann, rechtfertigt im Prinzip eine uneingeschränkte Ausübung der Prüfungsbefugnis nach Artikel 101 (3) EPÜ einschließlich der Prüfung auf Klarheit, und zwar unabhängig davon, ob bei der Änderung ein Merkmal aus der Beschreibung übernommen wird oder Ansprüche des erteilten Patents miteinander kombiniert werden" (T 409/10, Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe).
3.2.3.3 Auch die Beschwerdekammer 3.2.03 bejahte in ihrer Entscheidung T 1459/05 vom 21. Februar 2008 die Kompetenz zur Klarheitsprüfung eines Merkmals, das während des Verfahrens aus einem erteilten abhängigen Anspruch wörtlich in den unabhängigen Anspruch übernommen wird, wenn auch nur in dem konkreten Einzelfall. Die Kammer gab dabei zu bedenken, dass die Annahme, die Prüfungsabteilung habe im Erteilungsverfahren sämtliche Merkmale der abhängigen Ansprüche eines erteilten Patents sowohl im Hinblick auf ihren Wortlaut allein als auch im Hinblick auf ihre Relation zu vorangehenden Ansprüchen, auf die sich rückbeziehen, bereits systematisch im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft, nicht mehr uneingeschränkt gelten könne. In Anbetracht der in den letzten Jahren enorm gestiegenen Anzahl der in einer Patentanmeldung enthaltenen Ansprüche stelle sich vielmehr die Frage, inwieweit die Klarheitsaspekte sämtlicher in einem komplexen Anspruchssatz beanspruchten Kombinationsmöglichkeiten vor der Erteilung überhaupt so im Detail geprüft würden bzw. geprüft werden könnten, dass davon ausgegangen werden könne, dass sämtliche Klarheitsprobleme gelöst seien (Nr. 4.3.5 der Entscheidungsgründe).
Die Kammer sah sich deshalb in Ausübung des ihr zustehenden Ermessens zu einer Prüfung der Klarheit befugt, weil in dem zur Entscheidung stehenden Fall eine Situation entstanden wäre, in der die weitere Prüfung der geänderten Patentunterlagen, z. B. im Rahmen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit, erheblich erschwert worden wäre oder gar zu keinem sinnvollen Ergebnis geführt hätte (a. a. O., so auch: T 1440/08 vom 5. August 2010, Nr. 4 der Entscheidungsgründe).
3.3 Vorlagegrund "Grundsätzliche Bedeutung"
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern dazu befugt und verpflichtet sind, im Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren geänderte Ansprüche auf ihre Klarheit hin zu untersuchen, stellt sich in der Praxis häufig. Sie hat daher grundsätzliche Bedeutung im Sinne von Artikel 112 (1) EPÜ.
3.4 Erforderlichkeit einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) hat geltend gemacht, dass die Formulierung "im Wesentlichen über ihrer gesamten Oberfläche" unklar im Sinne von Artikel 84 EPÜ sei. Diese Formulierung hatte die Beschwerdeführerin (Patentanmelderin) wörtlich aus dem ursprünglich erteilten abhängigen Anspruch 3 übernommen. Die Kammer teilt die Auffassung, dass die Verwendung der Formulierung "im Wesentlichen" im Hinblick auf die Anforderungen des Artikels 84 EPÜ problematisch ist. Allerdings beschränkt sich diese Problematik auf dieses Merkmal und wurde nicht erst durch die Änderung hervorgerufen. Der ursprüngliche abhängige Anspruch 3 war bereits von demselben Klarheitsmangel betroffen. Nach der unter Nummer 3.2.2 zitierten Rechtsprechung besteht demnach im vorliegenden Fall keine Möglichkeit, die Unklarheit des Begriffs "im Wesentlichen" zu berücksichtigen. Demgegenüber bestünde eine solche Möglichkeit nach der unter Ziffer 3.2.3 zitierten Rechtsprechung - zumindest unter bestimmten Voraussetzungen.
3.5 Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der von der Beschwerdegegnerin (Einsprechenden) aufgeworfenen Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern zur Klarheitsprüfung geänderter Ansprüche befugt sind, hat sich die Kammer entschlossen, die Vorlagefragen breit zu fassen. Von allgemeiner Bedeutung ist nicht nur die Frage, ob eine Klarheitsprüfung von im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren geänderten Ansprüchen immer erforderlich oder immer ausgeschlossen ist (Fragen 1 bis 3). Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, nach welchen der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten Kriterien zu entscheiden ist, ob eine Klarheitsprüfung - und sei es nur ausnahmsweise - in Betracht kommt (Frage 4).
Nach Auffassung dieser Kammer lassen sich die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern angewendeten Kriterien wie folgt zusammenfassen:
Neue Klarheitsprobleme ergeben sich infolge der Verschiebung eines für sich genommen a) klaren oder b) unklaren Merkmals aus einem ursprünglich erteilten abhängigen Anspruch in einen unabhängigen Anspruch etwa durch eine Wechselwirkung mit anderen Merkmalen (Ansatz z. B. der Entscheidungen T 367/96 und T 1440/08).
Ein so verschobenes Merkmal ist von Bedeutung für die Prüfung der Neuheit oder der erfinderischen Tätigkeit (Ansatz der Entscheidungen T 1459/05 und T 1440/08).
Europäische Patentanmeldungen enthalten heutzutage häufig eine große Zahl abhängiger Ansprüche und/oder komplexe abhängige Ansprüche. Folglich kann weder allgemein noch im Einzelfall davon ausgegangen werden, dass im Erteilungsverfahren die Klarheit erschöpfend geprüft wurde. Eine Prüfung der Klarheit im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren könnte somit angemessen sein (vgl. Ansatz in T 1459/05).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Fragen vorgelegt:
1. Ist der Begriff "Änderungen" in der Entscheidung G 9/91 der Großen Beschwerdekammer (s. Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe) so zu verstehen, dass er die wörtliche Übernahme von a) Elementen aus abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung und/oder b) vollständigen abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung in einen unabhängigen Anspruch umfasst, sodass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern nach Artikel 101 (3) EPÜ verpflichtet sind, so im Verfahren geänderte unabhängige Ansprüche immer auf Klarheit zu prüfen?
2. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 bejaht, ist dann eine Prüfung des unabhängigen Anspruchs auf Klarheit in solchen Fällen auf die übernommenen Merkmale beschränkt oder kann sie sich auch auf Merkmale erstrecken, die bereits im unveränderten unabhängigen Anspruch enthalten waren?
3. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 verneint, ist dann eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit immer ausgeschlossen?
4. Falls die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommt, dass eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit weder immer erforderlich noch immer ausgeschlossen ist, welche Kriterien sind dann bei der Entscheidung anzuwenden, ob eine Prüfung auf Klarheit in einem bestimmten Fall infrage kommt?