G 0009/91 (Prüfungsbefugnis) 31-03-1993
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I. Im Jahr 1986 war der Firma Rohm and Haas Company das europäische Patent Nr. 76 691 für bestimmte Anhydrid- und Imidpolymere und Verfahren zu deren Herstellung erteilt worden. Innerhalb der neunmonatigen Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ wurde von der BASF AG Einspruch gegen dieses Patent eingelegt. In der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ beantragte die Einsprechende, das Patent wegen mangelnder Patentierbarkeit seines Gegenstands nach den Artikeln 52 - 57 EPÜ (d. h. wegen des in Artikel 100 a) EPÜ genannten Einspruchsgrunds) in dem Umfang zu widerrufen, in dem es Anhydrideinheiten enthaltende Polymere betraf. Der auf Polymere mit Imideinheiten gerichtete Teil des Patents wurde von der Einsprechenden im Einspruchsverfahren nicht angefochten. Mit Zwischenentscheidung vom 28. August 1989 erhielt die Einspruchsabteilung das Patent in geändertem Umfang mit einem Satz von elf Ansprüchen aufrecht, von denen die Ansprüche 1 - 8 auf ein Polymer mit Imidgruppen und dessen Herstellung und die Ansprüche 9 - 11 auf ein Polymer mit Anhydrideinheiten und dessen Herstellung gerichtet waren.
II. Die Einsprechende legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein, die der Beschwerdekammer 3.3.3 zugewiesen wurde (Sache T 580/89). Sie beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des (gesamten) Patents, wobei sie erstmals nicht nur dem auf Anhydridpolymere, sondern auch dem auf Imidpolymere (einschließlich der jeweiligen Herstellung) gerichteten Gegenstand die Patentierbarkeit absprach.
III. Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens erhob außerdem auch ein Dritter Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ und machte geltend, daß der auf beide Arten von Polymeren gerichtete Gegenstand wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht patentierbar sei. (Tatsächlich waren diese Einwendungen schon während des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden, jedoch erst nach Erlaß der Einspruchsentscheidung zur Akte gelangt und daher von der Einspruchsabteilung nicht berücksichtigt worden.)
IV. Die Patentinhaberin bot daraufhin an, zur Ausräumung der Beschwerde die auf Anhydridpolymere gerichteten Ansprüche 9 - 11 zu streichen; zugleich vertrat sie die Auffassung, die Kammer dürfe sich nicht zu der nunmehr geltend gemachten Ungültigkeit der in der Einspruchsschrift nicht angefochtenen Ansprüche 1 - 8 für Imidpolymere (vgl. vorstehend Nr. I) äußern, da dies eine Prüfung nach sich zöge, die gemäß der von der Beschwerdekammer 3.3.1 in der Sache T 9/87 (ABl. EPA 1989, 438) vertretenen Auslegung im Widerspruch zu Artikel 114 (1) EPÜ stünde.
V. Hierauf brachte der vorstehend genannte Dritte weitere Einwendungen vor, in denen er darauf abhob, daß das EPA gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet sei, den Sachverhalt nach Artikel 114 (1) EPÜ von Amts wegen zu ermitteln; in diesem Zusammenhang verwies er insbesondere auf die Entscheidung der Beschwerdekammer 3.4.1 in der Sache T 156/84 (ABl. EPA 1988, 372). Die Patentinhaberin hielt an ihrem Standpunkt fest und machte geltend, daß Artikel 99 (1) EPÜ eine verbindliche Frist vorsehe, die sinnlos wäre, wenn Artikel 114 EPÜ unter den gegebenen Umständen entsprechend der Forderung der Einsprechenden angewandt würde.
VI. Die Beschwerdekammer 3.3.3 sah in dem vorstehend dargelegten Streitpunkt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ und beschloß daher am 29. August 1991, die Große Beschwerdekammer mit folgenden Fragen zu befassen (Aktenzeichen G 9/91):
1. Hängt die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder - aufgrund der Regel 66 (1) EPÜ - einer Beschwerdekammer, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, von dem Umfang ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird?
2. Wenn ja, gibt es Ausnahmen hiervon?
VII. Am 4. Oktober 1991 legte der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer in Ausübung seiner Befugnis nach Artikel 112 (1) b) EPÜ die folgende Rechtsfrage vor (Aktenzeichen G 10/91):
Muß die Einspruchsabteilung bei der Prüfung des Einspruchs alle in Artikel 100 EPÜ aufgeführten Einspruchsgründe überprüfen, oder ist die Prüfung auf die vom Einsprechenden in der Einspruchsbegründung vorgetragenen Einspruchsgründe beschränkt?
VIII. Der Präsident begründete seine Vorlage insbesondere damit, daß die Beschwerdekammer 3.3.1 in den Verfahren T 320/88 (unveröffentlicht) und T 182/89 (ABl. EPA 1991, 391) über die vorstehende Rechtsfrage anders entschieden habe als die Beschwerdekammer 3.4.1 in der Sache T 493/88 (ABl. EPA 1991, 380). Dadurch war nach Auffassung des Präsidenten eine erhebliche Rechtsunsicherheit darüber entstanden, wie das Einspruchsverfahren nach dem EPÜ durchzuführen sei. Er gab ferner zu bedenken, daß weder eine generelle Verpflichtung zur Überprüfung aller in Artikel 100 EPÜ aufgeführten Einspruchsgründe noch eine generelle Beschränkung der Prüfung auf die vom Einsprechenden vorgebrachten Einspruchsgründe eine angemessene Lösung darstellen würde. Es gelte vielmehr, einen Weg zu finden, der dem Zweck des Einspruchsverfahrens gerecht werde, die Entscheidungen des EPA über die Gültigkeit europäischer Patente auf eine breitere Grundlage als im Erteilungsverfahren zu stellen, und gleichzeitig den Einspruchsabteilungen eine praktikable Linie zur Erreichung dieses Zwecks biete.
IX. In seiner Vorlage wies der Präsident auch darauf hin, daß zwischen der von ihm vorgelegten und der in der Sache G 9/91 (s. vorstehend Nr. VI) zu klärenden Rechtsfrage ein enger Zusammenhang bestehe, weil der Gesamtrahmen des Einspruchs nach Regel 55 c) EPÜ dadurch bestimmt werde, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt werde.
X. Am 15. April 1992 beschloß die Große Beschwerdekammer, die ihr in der Sache G 9/91 und in der Sache G 10/91 unterbreiteten in Anbetracht der ähnlich gearteten Rechtsfragen nach Artikel 8 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln.
XI. In einer Mitteilung vom 27. April 1992 wurden die Verfahrensbeteiligten in der Sache G 9/91 (T 580/89) über die vom Präsidenten des EPA unter dem Aktenzeichen G 10/91 vorgelegte Rechtsfrage unterrichtet und aufgefordert, sich gegebenenfalls zu den der Großen Kammer vorliegenden Fragen zu äußern. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) in der Sache G 9/91 reichte mit Schreiben vom 25. August 1992 eine solche Stellungnahme ein, während die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) erklärte, daß sie nicht Stellung zu nehmen gedenke.
XII. Am 30. November 1992 fand vor der Großen Kammer in Anwesenheit von Vertretern der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) in der Sache G 9/91 und eines Vertreters des Präsidenten des EPA in der Sache G 10/91 eine mündliche Verhandlung statt; die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) in der Sache G 9/91 hatte der Kammer mitgeteilt, daß sie an der Verhandlung nicht teilnehmen wolle.
1. Die Fragen, mit denen die Große Beschwerdekammer in den vorliegenden Fällen befaßt wurde, betreffen grundlegende Aspekte des im EPÜ vorgesehenen Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens.
2. Bei der Abgrenzung des allgemeinen Rahmens des im EPÜ verankerten Einspruchsverfahrens gilt es zu berücksichtigen, daß das Einspruchsverfahren erst nach Erteilung des europäischen Patents, d. h. zu einem Zeitpunkt einsetzt, zu dem der Patentinhaber in jedem der benannten Vertragsstaaten dieselben Rechte genießt, die ihm ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent gewähren würde (Art. 64 und 99 EPÜ). Ziel des Einsprechenden ist daher nicht wie im traditionellen, der Erteilung vorgeschalteten Einspruchsverfahren die Zurückweisung der Patentanmeldung, sondern der in allen benannten Vertragsstaaten ex tunc wirksame Widerruf des erteilten Patents (in vollem Umfang oder in einigen Teilen) (Art. 68 EPÜ). Da die Einspruchsgründe (Art. 100 EPÜ) überdies auf die im nationalen Recht vorgesehenen Nichtigkeitsgründe (Art. 138 EPÜ) beschränkt sind und sich im wesentlichen mit diesen decken, dürfte sich das Konzept des im EPÜ vorgesehenen Einspruchs nach Patenterteilung deutlich von dem des klassischen Einspruchs vor Patenterteilung unterscheiden und weist de facto in wichtigen Punkten größere Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des traditionellen Nichtigkeitsverfahrens auf (vgl. Haertel in GRUR INT., April 1970, S. 99: "Das nachträgliche Einspruchsverfahren kommt in seiner Wirkung einem europäischen Nichtigkeitsverfahren nahe."). Diese Besonderheit wurde noch verstärkt durch die erst in einer späten Phase der Vorarbeiten zum EPÜ aufgenommene Regelung, wonach gegen ein europäisches Patent auch dann Einspruch eingelegt werden kann, wenn der Patentinhaber für alle Vertragsstaaten auf dieses Patent verzichtet hat oder das Patent für alle diese Staaten erloschen ist (Art. 99 (3) EPÜ; vgl. den Bericht von Braendli im Rahmen der von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland herausgegebenen Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, S. 202: "..., daß diese Neuerung das Einspruchsverfahren noch eine Stufe höher auf die Ebene eines eigentlichen Nichtigkeitsverfahrens gehoben hat"). Unter diesen Umständen kann bezweifelt werden, ob die Aussage der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/84 (ABl. EPA 1985, 299, Nr. 4 der Entscheidungsgründe), daß es "falsch wäre, das (im EPÜ vorgesehene) Einspruchsverfahren im wesentlichen als Streit zwischen gegnerischen Parteien zu betrachten, bei dem der Spruchkörper eine neutrale Haltung einnimmt, wie es im Nichtigkeitsverfahren vor einem nationalen Gericht der Fall ist", - zumindest in der Verallgemeinerung - ganz richtig ist. Diese Aussage, die in den Diskussionen über die hier vorliegenden Fragen bisweilen als Argument für einen weit gefaßten Ermittlungsauftrag des EPA herangezogen wird, muß im besonderen Zusammenhang der Sache G 1/84 gesehen werden. Die Große Beschwerdekammer in ihrer jetzigen Besetzung ist jedenfalls der Meinung, daß das der Erteilung nachgeschaltete Einspruchsverfahren im Rahmen des EPÜ grundsätzlich als streitiges Verfahren zwischen Parteien angesehen werden muß, die in der Regel gegenteilige Interessen vertreten, die aber Anspruch auf die gleiche Behandlung haben.
3. Ein Wesensmerkmal jedes nachgeschalteten Einspruchsverfahrens besteht darin, daß das Patentamt von sich aus nichts gegen ein einmal erteiltes Patent unternehmen kann, auch wenn es dieses nach seiner Erteilung eindeutig als ungültig erkannt hat, es sei denn, es wird hierzu durch einen zulässigen Einspruch veranlaßt. Wird kein Einspruch eingelegt, so kann das Patent nur noch im Wege eines Nichtigkeitsverfahrens vor einem nationalen Gericht angefochten werden. Anders gesagt: Die Befugnis des Patentamts zur Prüfung des Patents hängt davon ab, welche Schritte der Einsprechende unternimmt.
4. Ein System mit der Erteilung nachgeschaltetem Einspruch kann unterschiedlich ausgestaltet sein. Denkbar wäre beispielsweise, daß sich der Einsprechende darauf beschränken kann, auf der Grundlage einiger allgemeiner Bemerkungen lediglich eine generelle Neuprüfung der eingereichten Patentanmeldung zu beantragen. Das im EPÜ vorgesehene Einspruchsverfahren nach Patenterteilung ist jedoch anders konzipiert. Wie Artikel 99 in Verbindung mit Regel 55 c) EPÜ zu entnehmen ist, muß die Einspruchsschrift unter anderem eine Erklärung darüber enthalten, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird, sowie die zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel angeben. Die Bedeutung dieses Erfordernisses wird dadurch noch unterstrichen, daß im Falle seiner Nichterfüllung innerhalb der in Artikel 99 (1) EPÜ vorgesehenen neunmonatigen Frist der Einspruch nach Regel 56 (1) EPÜ unzulässig wird, was zur Folge hat, daß das Patent der Zuständigkeit des EPA gänzlich entzogen wird.
5. Die Kernfrage in den der Großen Kammer nun vorliegenden Fällen lautet deshalb, ob - und inwieweit - eine Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer bei der Prüfung eines Einspruchs oder einer Beschwerde an die Erklärung des Einsprechenden nach Regel 55 c) EPÜ gebunden ist, in der er angibt, in welchem Umfang gegen das Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird. Es stellt sich also mit anderen Worten die Frage, ob diese Erklärung die Befugnis und die Verpflichtung des EPA zur Prüfung des Falls einschränkt oder ob sich die Prüfung über den Umfang des Einspruchs hinaus auch auf andere, in der Erklärung nicht genannte Teile des Patents und Einspruchsgründe erstrecken kann oder gar soll. Als weitere Frage ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob für Verfahren vor einer Einspruchsabteilung und für Beschwerdeverfahren in Anbetracht ihrer unterschiedlichen Rechtsnatur dieselben Grundsätze gelten sollen.
6. Nach Artikel 101 (2) EPÜ ist die Prüfung des Einspruchs nach Maßgabe der Ausführungsordnung (d. h. der Regeln) durchzuführen. Liest man Regel 55 c) EPÜ nur in Verbindung mit Regel 56 (1) EPÜ, so könnte der Eindruck entstehen, daß der Inhalt der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ nur ein Formerfordernis für die Zulässigkeit des Einspruchs darstellt und auf die Prüfung des Einspruchs keine weiteren rechtlichen Auswirkungen hat. Auf diesen Standpunkt scheint sich die Einsprechende (Beschwerdeführerin) in der Sache G 9/91 zu stellen. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer wird damit aber die Funktion der Regel 55 c) EPÜ zu eng gesehen. Die Bestimmung muß im Gesamtzusammenhang des Übereinkommens gewürdigt werden, wobei dem vorstehend umrissenen besonderen Charakter des im EPÜ vorgesehenen nachgeschobenen Einspruchsverfahrens Rechnung zu tragen ist. Bei solch ganzheitlicher Betrachtung ergibt Regel 55 c) EPÜ nur dann einen Sinn, wenn ihr im Zuge der Auslegung eine Doppelfunktion zugesprochen wird, die darin besteht, daß sie zum einen (zusammen mit anderen Bestimmungen) die Zulässigkeit des Einspruchs regelt und zum anderen den rechtlichen und faktischen Rahmen festlegt, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist. Diese zweite Funktion ist insofern von besonderer Bedeutung, als sie dem Patentinhaber eine gute Gelegenheit bietet, seine Lage schon in einer frühen Verfahrensphase beurteilen zu können.
7. Nach diesen Ausführungen stellt sich die Frage, ob es Ausnahmen gibt, die den vorstehend abgesteckten grundsätzlichen Rahmen für die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs durchbrechen. Nach Auffassung der Kammer muß hier zwischen den beiden Haupterfordernissen unterschieden werden, denen die Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ zu genügen hat, nämlich der Angabe des Umfangs, in dem gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird, einerseits und der Angabe der Einspruchsgründe andererseits.
8. Zum ersten Erfordernis, um das es in der Sache G 9/91 geht, ist festzustellen, daß eine Beschränkung des Einspruchs auf einen bestimmten Teil (Gegenstand) des Patents in der Praxis eher ungewöhnlich ist. In der Regel wird das Patent in seinem gesamten Umfang angefochten. Gelegentlich ist in der Einspruchsschrift nicht ausdrücklich angegeben, wohl aber indirekt enthalten, daß sich der Einspruch gegen das Patent als Ganzes richtet. Es können also Fälle auftreten, in denen die Einspruchsschrift in diesem Sinne ausgelegt werden muß, und zwar insbesondere dann, wenn in ihr nur auf bestimmte Ansprüche ausdrücklich Bezug genommen wird (vgl. Entscheidung T 192/88 vom 20. Juli 1989). Die Große Kammer sieht jedoch in diesem Zusammenhang keine Veranlassung, auf dieses Problem näher einzugehen, sondern wird ihre Überlegungen im wesentlichen auf die Fälle beschränken, in denen - wie in der hier bei der vorlegenden Beschwerdekammer 3.3.3 anhängigen Sache (s. vorstehend Nr. I und nachstehend Nr. 11) - aus der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ eindeutig hervorgeht, daß das Patent nur in gewissem Umfang angefochten wird.
9. Vorausgeschickt sei, daß diese Frage in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bisher kaum behandelt worden ist. Tatsächlich scheint es nur eine einzige Entscheidung - nämlich die vorstehend unter Nummer IV angesprochene Sache T 9/87 - zu geben, in der eingehender analysiert wird, welche rechtlichen Auswirkungen es hat, wenn in der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ nur in begrenztem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird. In dieser Entscheidung heißt es, daß sich die Prüfung eines Einspruchs gemäß Artikel 101 EPÜ auf den Umfang beschränken müsse, in dem laut Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird. Artikel 114 (1) EPÜ trete hier hinter Artikel 101 EPÜ zurück. In der Entscheidung wird weiter festgestellt, daß weder die Einspruchsabteilung noch die Beschwerdekammer verpflichtet oder befugt sei, über den Umfang des Einspruchs hinaus zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden kann. Die Entscheidung geht offenbar im wesentlichen von der Überlegung aus, daß das Einspruchsverfahren eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des EPÜ darstellt, wonach ein europäisches Patent nach seiner Erteilung nicht mehr der Zuständigkeit des EPA unterliegt, sondern in ein Bündel von Patenten zerfällt, für die die Gerichte der benannten Vertragsstaaten zuständig sind. In ihrem Vorbringen vor der Großen Beschwerdekammer hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) in der Sache G 9/91 diese Entscheidung angefochten und insbesondere geltend gemacht, daß sie dem Vorrang des Artikels 114 EPÜ nicht gebührend Rechnung trage.
10. Die Schlußfolgerung, zu der die Große Beschwerdekammer in diesem Punkt gelangt, kommt der vorstehenden Entscheidung T 9/87 recht nahe. Das in Regel 55 c) EPÜ enthaltene Erfordernis, wonach innerhalb der in Artikel 99 (1) EPÜ festgelegten Frist anzugeben ist, in welchem Umfang gegen das Patent Einspruch eingelegt wird, wäre offensichtlich sinnlos, wenn später auch andere Teile des Patents ohne weiteres in das Verfahren einbezogen werden könnten. Dies widerspräche auch dem im EPÜ verankerten Grundkonzept des Einspruchs nach Patenterteilung, wie es vorstehend erläutert wurde. Indem der Einsprechende seinen Einspruch auf einzelne Gegenstände des Patents beschränkt, verzichtet er ganz bewußt auf die Ausübung seines im EPÜ vorgesehenen Rechts, auch die übrigen unter das Patent fallenden Gegenstände anzugreifen. Diese Gegenstände unterliegen daher genau genommen keinem "Einspruch" im Sinne der Artikel 101 und 102 EPÜ und auch keinem "Verfahren" im Sinne der Artikel 114 und 115 EPÜ. Infolgedessen ist das EPA nicht befugt, sich überhaupt mit ihnen zu befassen.
11. Demnach muß die erste der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 9/91 vorgelegte Rechtsfrage bejaht werden. Einschränkend gilt allerdings folgendes: Auch wenn der Einspruch ausdrücklich nur gegen den Gegenstand eines unabhängigen Anspruchs eines europäischen Patents gerichtet ist, können doch auch Ansprüche, die von einem solchen unabhängigen Anspruch abhängen, auf ihre Patentierbarkeit hin geprüft werden, wenn der unabhängige Anspruch im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vernichtet wird, sofern die Gültigkeit dieser abhängigen Ansprüche durch das bereits vorliegende Informationsmaterial prima facie in Frage gestellt wird (s. T 293/88, ABl. EPA 1992, 220). Es muß davon ausgegangen werden, daß ein solcher abhängiger Gegenstand durch die Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ implizit mit abgedeckt ist (s. vorstehend Nr. 8).
12. Damit kommt die Kammer zu dem in der Vorlage G 10/91 angesprochenen zweiten Haupterfordernis, das die Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ erfüllen muß, d. h. der Angabe der Einspruchsgründe, auf die sich der Einspruch stützt. Die hier zutage tretenden Probleme unterscheiden sich von den vorstehend im Zusammenhang mit dem ersten Haupterfordernis behandelten Fragen in folgender Hinsicht: Während es beim Umfang des Einspruchs um die formale Kompetenz einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer geht, sich mit einem innerhalb der Frist nicht angefochtenen Teil eines europäischen Patents zu befassen, betreffen die mit den Einspruchsgründen zusammenhängenden Probleme eher die Verfahrensgrundsätze, die im Einspruchsverfahren anzuwenden sind, wenn das europäische Patent (oder ein Teil desselben) entsprechend Regel 55 c) EPÜ unter Berufung auf mindestens einen der in Artikel 100 EPÜ angeführten Einspruchsgründe ordnungsgemäß angefochten worden ist. Im letzteren Fall steht das Patent (oder der entsprechende Teil des Patents) gewissermaßen schon unter Beschuß.
13. Wie vom Präsidenten des EPA vorgetragen, haben die Beschwerdekammern in ihrer Rechtsprechung zu dieser Rechtsfrage sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten. Insbesondere geben die Entscheidungen T 493/88 und T 182/89 zwei völlig unvereinbare Standpunkte wieder. In der Sache T 493/88 wurde die Auffassung vertreten, daß sich die Artikel 101 (1) und 102 (2) EPÜ eindeutig auf alle in Artikel 100 a) - c) EPÜ genannten Einspruchsgründe bezögen und daß sie den Umfang der von der Einspruchsabteilung durchzuführenden Prüfung nicht auf die Einspruchsgründe beschränkten, die der Einsprechende in seiner Einspruchsschrift gemäß Regel 55 c) EPÜ geltend gemacht habe; eine gegenteilige Betrachtungsweise stünde außerdem im Widerspruch zu dem in Artikel 114 (1) EPÜ verankerten Grundsatz der Amtsermittlung. Mit anderen Worten würde dies bedeuten, daß die Einspruchsabteilung nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, sämtliche in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe zu prüfen, und zwar unabhängig davon, ob der Einsprechende in der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ den Einspruch nur auf einen oder zwei der insgesamt drei Gründe gestützt hat. Im Gegensatz hierzu befand die Kammer in der Sache T 182/89, daß Artikel 114 (1) EPÜ grundsätzlich nicht so auszulegen sei, daß die Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer verpflichtet sei zu untersuchen, ob Einspruchsgründe, die vom Einsprechenden nicht substantiiert vorgetragen wurden, begründet seien; vielmehr müsse der Artikel dahingehend ausgelegt werden, daß dem EPA die Möglichkeit gegeben sei, Einspruchsgründe, die entsprechend Regel 55 c) EPÜ sowohl genannt als auch substantiiert vorgetragen wurden, in vollem Umfang zu überprüfen. In ihren Ausführungen vor der Großen Beschwerdekammer hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) in der Sache G 9/91 den im Fall T 493/88 vertretenen Standpunkt nachdrücklich befürwortet; der andere Standpunkt berge die Gefahr, daß ungültige europäische Patente aufrechterhalten würden, und sei damit der Attraktivität des EPÜ abträglich.
14. Das der Entscheidung T 493/88 zugrunde liegende Denkmodell ist ganz offensichtlich nicht mit dem Grundsatz vereinbar, den die Große Beschwerdekammer ausgehend von dem im EPÜ verankerten Konzept des nachgeschalteten Einspruchsverfahrens aufgestellt hat (s. vorstehend Nr. 6). Daß in den Artikeln 101 (1) und 102 (2) EPÜ auf die in Artikel 100 EPÜ genannten "Einspruchsgründe", d. h. alle diese Gründe, Bezug genommen wird, kann auch nicht bedeuten, daß unabhängig vom Vorbringen des Einsprechenden stets sämtliche Gründe geprüft werden müssen. Eine solche, rein wörtliche Auslegung des Artikels 102 (1) EPÜ würde es z. B. unmöglich machen, ein Patent zu widerrufen, wenn nicht alle in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe seiner Aufrechterhaltung entgegenstehen; dies wäre natürlich absurd. Die verwendete Pluralform ("Einspruchsgründe") dient nur als rechtlich-technisches Hilfsmittel, um den gesamten möglichen Rahmen der Prüfung abzudecken. Außerdem steht die in der Sache T 493/88 vertretene Auffassung dem allgemeinen Interesse der Verfahrensökonomie entgegen.
15. Der im Verfahren T 182/89 vertretene Standpunkt läßt sich mit dem vorstehend umrissenen Konzept des im EPÜ vorgesehenen nachträglichen Einspruchs zweifellos besser in Einklang bringen. Die Große Beschwerdekammer schließt sich der Auffassung an, daß Artikel 114 (1) EPÜ keine Rechtsgrundlage für eine obligatorische Prüfung von Einspruchsgründen bietet, die in der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht erfaßt sind. Die eigentliche Schlüsselfrage ist jedoch, ob Artikel 114 (1) EPÜ die Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer überhaupt zur Prüfung dieser Gründe ermächtigt.
16. Obwohl im Wortlaut des Artikels 114 EPÜ formell von den Einspruchsgründen keine Rede ist, scheint sich in den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ ein Beleg für die Auffassung zu finden, daß der in Artikel 114 EPÜ verankerte Grundsatz der Amtsermittlung zumindest im Verfahren vor der Einspruchsabteilung auch für die Einspruchsgründe gelten sollte (s. BR/87/71, Nr. 9). Dies hat auch in die Praxis des EPA Eingang gefunden (s. Richtlinien für die materiellrechtliche Prüfung beim Einspruch, Teil D, Kapitel V). Die Große Beschwerdekammer sieht keinen hinreichenden Anlaß, diese Praxis zu ändern, soweit sie das Verfahren vor der Einspruchsabteilung betrifft. Die Regelung soll offenkundig verhindern, daß ungültige europäische Patente aufrechterhalten werden. Daher kann eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ einen durch die Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht abgedeckten Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden (oder nach Artikel 115 EPÜ von einem Dritten) nach Ablauf der Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen. Die Große Beschwerdekammer legt aber zugleich Wert auf die Feststellung, daß die Einspruchsabteilung nur dann von dem von der Kammer unter Nummer 6 aufgestellten Grundsatz abweichen und über den eigentlichen Inhalt der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ hinausgehende Einspruchsgründe prüfen sollte, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würden. Natürlich sollte dabei auch bedacht werden, daß nach Artikel 114 (2) EPÜ die Möglichkeit besteht, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zur Stützung neuer Einspruchsgründe unberücksichtigt zu lassen.
17. Obwohl sich die der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 10/91 vorgelegte Rechtsfrage formal auf das Verfahren vor der Einspruchsabteilung beschränkt, erscheint es angebracht, in diesem Zusammenhang auch die Verhältnisse im Beschwerdeverfahren zu klären (s. R. 66 (1) EPÜ).
18. Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens ist es, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Die Prüfung von Einspruchsgründen, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient haben, entspricht nicht dieser Zweckbestimmung. Überdies ist das Beschwerdeverfahren - anders als das rein administrative Einspruchsverfahren - als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen, wie die Große Beschwerdekammer in ihren jüngst ergangenen Entscheidungen G 7/91 und G 8/91 (s. Nr. 7 der Entscheidungsgründe) dargelegt hat. Ein solches Verfahren ist seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet als ein Verwaltungsverfahren. Daher erscheint es gerechtfertigt, Artikel 114 (1) EPÜ, obwohl er sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstreckt, in einem solchen Verfahren generell restriktiver anzuwenden als im Einspruchsverfahren. Vor allem neue Einspruchsgründe dürfen nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer daher in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden. Diese Regelung verringert auch die verfahrenstechnischen Unwägbarkeiten für die Patentinhaber, die sich ansonsten auch noch in einer sehr späten Phase des Verfahrens auf unvorhersehbare Komplikationen einstellen müßten, die die Gefahr eines Widerrufs des Patents und damit eines unwiderruflichen Rechtsverlusts bergen. Einsprechende sind diesbezüglich besser gestellt, da sie immer noch die Möglichkeit haben, ein Nichtigkeitsverfahren vor den nationalen Gerichten einzuleiten, wenn ihnen vor dem EPA kein Erfolg beschieden ist. Eine berechtigte Ausnahme vom vorstehend dargelegten Grundsatz liegt jedoch dann vor, wenn der Patentinhaber mit der Prüfung eines neuen Einspruchsgrunds einverstanden ist: volenti non fit injuria. In einigen Fällen kann es nämlich durchaus in seinem eigenen Interesse sein, daß ein solcher Einspruchsgrund im zentralisierten Verfahren vor dem EPA nicht aus der Prüfung ausgeklammert wird. Es liegt jedoch auf der Hand, daß ein solcher Einspruchsgrund von der Kammer nur dann vorgebracht oder auf Antrag eines Einsprechenden im Verfahren zugelassen werden sollte, wenn er nach Einschätzung der Kammer schon dem ersten Anschein nach hochrelevant ist. Wird ein neuer Einspruchsgrund zugelassen, so sollte der Fall in Anbetracht der vorstehend definierten Zweckbestimmung des Beschwerdeverfahrens zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden, sofern nicht besondere Gründe für eine andere Vorgehensweise sprechen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen darf, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat. Zulässig ist dann nur der Hinweis, daß die Frage aufgeworfen worden ist.
19. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei schließlich noch betont, daß Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ (z. B. des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ) zu prüfen sind.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen sind wie folgt zu beantworten:
Die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, hängt von dem Umfang ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird. Allerdings können Ansprüche, die von einem im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren gefallenen unabhängigen Anspruch abhängig sind, auch dann auf die Patentierbarkeit ihres Gegenstands geprüft werden, wenn dieser nicht ausdrücklich angefochten worden ist, sofern ihre Gültigkeit durch das bereits vorliegende Informationsmaterial prima facie in Frage gestellt wird.