T 0585/92 (Desodorierendes Reinigungsmittel) 09-02-1995
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Bayer AG
PROCTER & GAMBLE
Henkel
1. Die vorzeitige Veröffentlichung einer Patentanmeldung durch eine Regierungsbehörde infolge eines Versehens stellt nicht zwangsläufig einen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ dar, so verhängnisvoll und nachteilig deren Folgen auch sein mögen.
2. Wenn festgestellt werden soll, ob ein Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ vorliegt, spielt es eine Rolle, welche Absichten derjenige verfolgt, der "mißbräuchlich" handelt.
Ausreichende Offenbarung - bejaht - im Lichte weiterer Experimente des Beschwerdeführers
Klarheit und Stützung - bejaht
Priorität - in Ordnung
Neuheit - bejaht
Erfinderische Tätigkeit - bejaht
Offensichtlicher Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders - vorzeitige eröffentlichung durch das brasilianische Patentamt nicht als solcher betrachtet
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 003 172, das sich auf die Verwendung einer desodorierenden Reinigungsmittelzusammensetzung und eine Methode zur Unterdrückung von unangenehmem Körpergeruch bezieht, wurde mit 15 Ansprüchen auf der Grundlage der am 10. Januar 1979 unter Inanspruchnahme der Priorität der britischen Anmeldung 1286/78 vom 12. Januar 1978 eingereichten europäischen Patentanmeldung Nr. 79 300 039.9 erteilt.
II. Gegen das erteilte Patent wurden drei Einsprüche eingelegt. Von den zahlreichen Entgegenhaltungen, die während des Einspruchsverfahrens angeführt wurden, sind folgende Dokumente auch für die vorliegende Entscheidung noch relevant:
BR-A-81-7604601 (1)
GB-A-838 240 (3)
DE-A-2 433 703 (6)
DE-A-2 805 767 (15)
III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent, hielt aber den beanspruchten Gegenstand gegenüber dem von den Dokumenten (1) und (6) gebildeten nächstliegenden Stand der Technik sowohl für neu als auch für erfinderisch; den Einwand nach Artikel 100 b) EPÜ betrachtete sie als begründet. ...
IV. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Am 9. Februar 1995 fand eine mündliche Verhandlung statt.
V. Zusammen mit der Beschwerdebegründung reichte der Beschwerdeführer einen neuen Hauptantrag und fünf Hilfsanträge ein. Einen sechsten Hilfsantrag wollte er in der mündlichen Verhandlung stellen. Die vom Beschwerdeführer sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Der Beschwerdeführer erklärte sich mit den Feststellungen der Einspruchsabteilung in bezug auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit im großen und ganzen einverstanden. Er wies allerdings darauf hin, daß über die Frage, ob die vorzeitige Veröffentlichung des Dokuments (1) durch das brasilianische Patentamt einen Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ darstelle, in keiner Phase des Verfahrens entschieden worden sei.
Für Dokument (1), eine am 14. Juli 1976 in Brasilien eingereichte Anmeldung, war ursprünglich die Priorität mehrerer GB-Anmeldungen in Anspruch genommen worden; die älteste dieser Anmeldungen war am 15. Juli 1975 eingereicht worden. Nach brasilianischem Patentrecht hätte das Dokument (1) am 16. August 1977 veröffentlicht werden müssen. Am 31. Dezember 1976 verzichtete der Anmelder jedoch auf alle beanspruchten Prioritäten, was zu einem Aufschub der Veröffentlichung um 12 Monate hätte führen müssen. Trotz dieses Prioritätsverzichts wurde die Anmeldung versehentlich am 16. August 1977, d. h. vor dem Prioritätstag des Streitpatents, veröffentlicht.
VI. ...
Die Beschwerdegegner wollten die Argumente des Beschwerdeführers hinsichtlich der vorzeitigen Veröffentlichung des brasilianischen Dokuments (1) nicht gelten lassen. Diese sei zwar auf ein Versehen des brasilianischen Patentamts zurückzuführen, aber nach Auffassung der Beschwerdegegner sei ein solches Versehen nicht als "offensichtlicher Mißbrauch" im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ zu betrachten.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der am 3. August 1992 eingereichten Hauptanträge oder eines der Hilfsanträge 1, 2, 6, 3, 4 oder 5, die mit Ausnahme des dritten Hilfsantrags ("Hilfsantrag 6") alle am 3. August 1992 eingereicht worden waren.
Die Beschwerdegegner beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Änderungen (Hauptantrag)
3. Ausreichende Offenbarung (Art. 83 EPÜ)
4. Klarheit und Stützung (Art. 84 EPÜ)
5. Priorität (Art. 87 EPÜ) ...
6. Mißbrauch (Art. 55 EPÜ)
6.1 In der Entscheidung T 173/83 (ABl. EPA 1987, 465) war die Frage, ob die Ausdrücke "Einreichung der europäischen Patentanmeldung" in Artikel 55 (1) EPÜ und "Tag der europäischen Patentanmeldung" in Artikel 89 EPÜ rechtlich unterschiedliche Bedeutungen haben, wie dies die Regeln für die Auslegung von Verträgen vorschreiben (vgl. das in der Entscheidung G 1/83, ABl. EPA 1985, 60 zitierte Wiener Übereinkommen), zwar geprüft, aber bewußt nicht beantwortet worden. Die Kammer stellt dennoch fest, daß die ausführliche rechtliche Erörterung in der vorstehend genannten Entscheidung (siehe Nr. 5 der Entscheidungsgründe) wohl zu der Schlußfolgerung führen würde, die zu ziehen die Kammer in dem betreffenden Fall aber nicht für erforderlich erachtet hatte, daß den Ausdrücken tatsächlich eine unterschiedliche Bedeutung zukommt.
6.1.1 Auch wenn die Kammer volles Verständnis für das im Namen eines der Einsprechenden vorgebrachte Argument zeigt, wonach im Interesse der Harmonisierung das EPA automatisch der Entscheidung eines nationalen schweizerischen Gerichts folgen solle, in der ebenfalls die vorstehend genannte Schlußfolgerung gezogen wird, so kann sie dennoch nicht gelten lassen, daß die Harmonisierung des Patentrechts im Wege einer Anpassung des EPÜ - auch wenn dieses nicht völlig eindeutig ist - an Einzelentscheidungen erfolgen solle, die von nationalen Gerichten der Vertragsstaaten getroffen werden und mehr oder weniger zufälligen Charakter haben.
6.2 Im vorliegenden Fall jedoch läßt sich die Frage der unschädlichen Offenbarung dadurch klären, daß man entscheidet, ob die versehentliche Veröffentlichung durch das brasilianische Patentamt rechtlich einen offensichtlichen Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) EPÜ darstellte. In diesem Zusammenhang brachten die Beschwerdegegner vor, das brasilianische Patentamt sei eine Behörde einer souveränen Regierung und unterliege deshalb ebenso wie die brasilianische Regierung keinerlei Beschränkungen bei der Behandlung der bei ihm eingereichten Patentanmeldungen. Da souveräne Regierungen und ihre Behörden somit völlig frei nach eigenem Belieben vorgehen könnten, könne die versehentliche Veröffentlichung a priori nicht "verwerflich" sein. Auf eine Frage der Kammer an einen der Beschwerdegegner machten diese von Rechts wegen geltend, daß jeder offensichtliche Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) EPÜ verwerflich zu sein habe; da dies aber im vorliegenden Fall nicht zutreffen könne, gehöre die brasilianische Patentanmeldung zum Stand der Technik.
6.3 Als Gegenargument brachte der Beschwerdeführer vor, daß sich das brasilianische Patentamt an brasilianisches Recht zu halten habe und daß die versehentliche Veröffentlichung der Patentanmeldung durch das brasilianische Amt einen Rechtsbruch darstelle und deshalb verwerflich sei. Auch wenn er dies nicht ausdrücklich erklärte, so erkannte der Beschwerdeführer mit seiner Argumentation implizit die Richtigkeit der Behauptung an, jeder offensichtliche Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) EPÜ habe verwerflich zu sein.
6.4 Selbst wenn durch die Veröffentlichung der Patentanmeldung brasilianisches Recht verletzt worden sein sollte, so muß diese Verletzung als solche nach Ansicht der Kammer nicht zwangsläufig gleichbedeutend sein mit einem offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders. Jede Regierung kann, ebenso wie ihre Behörden, subjektive Rechte verletzen, einschließlich der hier in Frage stehenden gewerblichen Rechte. Allerdings stellt nicht jede Verletzung örtlichen Rechts einschließlich des brasilianischen Patentrechts zwangsläufig einen Mißbrauch zum Nachteil der Rechte des Anmelders dar. Ob örtliches Recht verletzt oder beachtet wird, ist - mit anderen Worten - kein relevantes, geschweige denn entscheidendes Kriterium dafür, ob ein offensichtlicher Mißbrauch zum Nachteil der Rechte des Anmelders im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ vorliegt. Der in Artikel 55 EPÜ verwendete Begriff "Mißbrauch" ist nämlich weder mit einer bloßen Nichtbeachtung noch mit einer klaren Verletzung der Rechte des Anmelders gleichbedeutend; die beiden Begriffe decken sich nicht. Es mag zwar durchaus zutreffen, daß jeder Mißbrauch der Rechte eines Anmelders auch mit einer Beeinträchtigung oder Verletzung seiner Rechte verbunden ist, aber das Gegenteil ist nicht zwangsläufig der Fall. Wie nachstehend erläutert, ist es bei einem Mißbrauch von entscheidender Bedeutung, welche Absichten derjenige verfolgt, der "mißbräuchlich" handelt.
6.5 Die Art dieser Absichten ergibt sich zwangsläufig aus dem persönlichen und spezifischen Verhältnis zu dem Anmelder oder wird zumindest dadurch beeinflußt. Wenn es zur unerlaubten Offenbarung von Informationen kommt, hat der Geber der vertraulichen Informationen dem Empfänger in der Regel eine rechtlich durchsetzbare Geheimhaltungspflicht auferlegt. Diese Verpflichtung kann aus den Umständen der Offenbarung selbst herrühren oder, wie dies meistens der Fall ist, in einer ausdrücklichen Vertraulichkeits- oder Geheimhaltungsvereinbarung festgelegt sein. In beiden Fällen ist dem Empfänger der Informationen bekannt bzw. müßte ihm bekannt sein, welche wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen eine unerlaubte Offenbarung aller Voraussicht nach hat. Wenn eine solche Offenbarung entweder vorsätzlich geschieht, um einen Schaden (hier: wirtschaftlichen Schaden) zu verursachen, oder in voller Kenntnis (vgl. Vermutung) des Schadens, der sich hieraus ergeben würde bzw. vernünftigerweise zu erwarten wäre, so käme dies einem Mißbrauch zum Nachteil des Inhabers der Informationen gleich. Andere Maßstäbe gelten allerdings bei einer Offenbarung durch einen Informationsempfänger, der nicht in einem persönlichen oder spezifischen Vertragsverhältnis zu dem Offenbarenden steht, sondern lediglich der Öffentlichkeit gegenüber generell verpflichtet ist, einer Offenbarung vorzubeugen. Im Falle einer solchen Offenbarung infolge bloßer Unachtsamkeit oder eines tatsächlichen Irrtums ist - so verhängnisvoll und nachteilig deren Folgen auch sein mögen - die erforderliche tatsächliche Kenntnis bzw. Vermutung des Schadens und somit eine schuldhafte Unachtsamkeit nicht gegeben, so daß sie auch nicht als offensichtlicher Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ betrachtet werden kann.
6.6 Wie durch Herrn Dr. Tongs Erklärung bestätigt wird, ging im vorliegenden Fall die Offenbarung durch das brasilianische Patentamt auf einen "bedauerlichen Irrtum" zurück, und bedauerliche Irrtümer bzw. einfache Fehler dürfen nicht, wie vorstehend dargelegt, als "Mißbrauch" und schon gar nicht als offensichtlicher Mißbrauch gewertet werden, der gemäß Artikel 55 (1) a) EPÜ als verwerflich gilt. Aus den vorstehend genannten Gründen ist die Kammer der Ansicht, daß die Veröffentlichung der brasilianischen Anmeldung nicht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers zurückging und daß die Anmeldung folglich für die Zwecke der Artikel 54 und 56 EPÜ zum Stand der Technik gehört.
7. Aufgabe und Lösung
8. Neuheit
9. Erfinderische Tätigkeit
10. Da die Kammer beschlossen hat, dem Hauptantrag des Beschwerdeführers stattzugeben, braucht auf die Hilfsanträge nicht mehr eingegangen zu werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls die Beschreibung entsprechend zu ändern.