J 0020/85 (Fehlende Ansprüche) 14-05-1986
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1. Bei Streitigkeiten zwischen dem Europäischen Patentamt und einem Verfahrensbeteiligten über Tatsachen, z.B. darüber ob ein Schriftstück an einem bestimmten Tag eingereicht worden ist, sollte die Beweisaufnahme unmittelbar nach Auftreten der Streitfrage durchgeführt werden.
2. Artikel 113(1) EPÜ ist besonders bei Streitigkeiten über Tatsachen von grösster Bedeutung, wenn die Gerechtigkeit in Verfahren zwischen dem Europäischen Patenamt und einem Verfahrensbeteiligten gewahrt bleiben soll. Eine Tatfrage darf vom Europäischen Patentamt erst dann zu Ungunsten eines Verfahrensbeteiligten entschieden werden, wenn alle Beweismittel, auf die sich die Entscheidung stützt, genannt und dem betreffenden Beteiligten mitgeteilt worden sind.
3. Obwohl in Artikel 17 EPÜ das Verfahren vor der Eingangsstelle nicht ausdrücklich genannt ist, ist diese befugt, Beweisaufnahmen durchzuführen.
Fehlende Anmeldungsunterlagen
Anmeldungsunterlagen/fehlende
Befugnis der Eingangsstelle zur Beweisaufnahme
Rechtliches Gehör
Beweislast
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin reichte am 27. September 1984 durch ihrenVertreter eine Reihe von Schriftstücken beim Europäischen Patentamt in München ein, die eine neue europäische Patentanmeldung bilden sollten (sie erhielt später die Nummer 84 111 579.3). Eine verschlossene Kartonhülle mit den Unterlagen war in einem Umschlag, der auch andere einzureichende Unterlagen, insbesondere drei andere europäische Patentanmeldungen, enthielt, am Abend des genannten Tages in den Briefkasten des Europäischen Patentamts eingeworfen worden.
II. Am 28. September 1984 wurde in der Patentamts eine Empfangsbescheinigung (EPA Form 1031) ausgestellt und der Beschwerdeführerin zugesandt. Sie enthielt Maschinen schriftliche Eintragungen in verschiedenen Feldern des vorgedruckten Formblatts, aus denen hervorging, daß alle nach Artikel 78 (1) EPÜ für eine europäische Patentanmeldung erforderlichen Unterlagen einschließlich der Ansprüche vorlagen. Auf der Höhe der vorgedruckten Angabe "Patentansprüche" war unter der Rubrik "Stückzahl" die Zahl "3" eingetragen, um anzugeben, daß drei Ausfertigungen der Patentansprüche eingereicht worden waren. Zwischen der vorgedruckten Angabe "Patentansprüche" und dem Maschinen schriftlichen Eintrag "3" stand jedoch das Wort "missing", um anzuzeigen, daß die Ansprüche fehlten, als dieses Wort auf dem Formblatt vermerkt wurde.
III. Die Empfangsbescheinigung ging in der Kanzlei des Vertreters der Beschwerdeführerin in München ein; am 2. Oktober 1984 reichte dieser mehrere Seiten mit insgesamt 15 Patentansprüchen in dreifacher Ausfertigung beim Europäischen Patentamt in München ein und erklärte in einem Begleitschreiben, es sei ihm unbegreiflich, daß die Ansprüche in den beim Amt eingegangenen Unterlagen fehlen sollten. Er bat darum, daß die Akte nochmals auf die fehlenden Ansprüche hin überprüft werde und beantragte gegebenenfalls eine Berichtigung der Patentanmeldung nach Regel 88 EPÜ durch Hinzufügung der neuen Seiten.
IV. In dem am 27. September 1984 eingereichten Erteilungsantrag wurde die Priorität einer am 30. September 1983 in den Vereinigten Staaten eingereichten Voranmeldung in Anspruch genommen. Die Prioritätsfrist lief entsprechend Artikel 87 und Regel 85 EPÜ am Montag, den 1. Oktober 1984 ab.
V. Am 10. Oktober 1984 erließ die Eingangsstelle des Europäischen Patentamts eine Mitteilung nach Regel 39 EPÜ, die sich mit dem Schreiben des Vertreters vom 2. Oktober 1984 kreuzte und in der die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen wurde, daß die Erfordernisse des Artikels 80 EPÜ für die Zuerkennung eines Anmeldetages nicht erfüllt seien, weil "die Anmeldung ... keine Patentansprüche enthält", und daß ferner die beanspruchte Priorität in jedem Falle hinfällig sei, weil nach Einreichung der Ansprüche ein neuer Anmeldetag zuerkannt werden müsse.
VI. Am 18. Oktober 1984 reichte der Vertreter der Beschwerdeführerin Beweismittel für seine Behauptung ein, daß am 27. September 1984 tatsächlich Patentansprüche eingereicht worden seien; in einem Begleitschreiben wies er die Behauptung der Eingangsstelle zurück, daß die Ansprüche bei der Einreichung der Anmeldung gefehlt hätten. Hilfsweise beantragte er eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ mit der Begründung, daß aus den übrigen am 27. September 1984 eingereichten Unterlagen sofort erkennbar sei, daß zumindest nichts anderes beabsichtigt sein konnte als die Fassung des Anspruchs 1. Er führte weiter aus, daß die maschinenschriftliche Eintragung in der Empfangsbescheinigung "bestätigt, daß drei Ausfertigungen der Patentansprüche vorgelegen haben, auch wenn diese später als fehlend gemeldet worden sind". Unter Berufung auf die eingereichten Beweismittel äußerte er ferner die Vermutung, "daß die Unterlagen wohl eher in der Annahmestelle des Patentamtes verlorengegangen sind." Der Antrag auf Berichtigung nach Regel 88 EPÜ wurde damit begründet, daß die Seite 6 der am 27. September 1984 eingereichten Beschreibung eine "consistory clause" (die wesentlichen Merkmale der Erfindung enthaltender Passus) enthalte, die dem Wortlaut nach mit dem Anspruch 1 des am 2. Oktober 1984 eingereichten Anspruchssatzes im wesentlichen identisch sei. Es sei sofort erkennbar, daß für den Anspruch 1 nichts anderes beabsichtigt gewesen sein konnte als der Wortlaut dieser "consistory clause".
VII. Am 26. Oktober 1984 teilte die Eingangsstelle des Europäischen Patentamts der Beschwerdeführerin in einer Mitteilung, die sich mit dem Schreiben vom 18. Oktober kreuzte, mit, daß keine Ansprüche eingegangen seien und daß sie beabsichtige, den Antrag nach Regel 88 EPÜ zurückzuweisen.
VIII. Die Beschwerdeführerin reichte am 2. November 1984 weitere weitere Beweismittel ein, die sich auf die Erstellung der am 27. September 1984 eingereichten Unterlagen bezogen; in dem dazugehörigen Begleitschreiben vom 30. Oktober 1984 machte sie zu dem Antrag nach Regel 88 EPÜ weitere Ausführungen.
IX. Am 16. November 1984 teilte die Eingangsstelle der Beschwerdeführerin mit, daß der Juristische Dienst "Patenterteilungsverfahren" um eine Stellungnahme zu den Schreiben der Beschwerdeführerin vom 2., 18. und 30. Oktober 1984 gebeten worden sei und daß eine Entscheidung getroffen werde, sobald diese Stellungnahme vorliege.
X. Die Anmelderin reichte am 5. Dezember 1984 und am 2. Januar 1985 zwei weitere Schreiben ein, in denen sie eingehend darlegte, daß hilfsweise keine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ erforderlich sei, weil Seite 6 der Beschreibung einen Passus enthalte, die für die Zwecke des Artikels 80 EPÜ als Anspruch gelten könne. Beide Schreiben schlossen mit der Bitte um formlose telefonische oder persönliche Rücksprache. Daraufhin fanden telefonische Rücksprachen zwischen dem Vertreter der Beschwerdeführerin und dem Leiter des Juristischen Dienstes des Europäischen Patentamts statt.
XI. In der angefochtenen Entscheidung der Eingangsstelle vom 26. April 1985 heißt es, die Poststelle habe ausdrücklich bestätigt, daß die Ansprüche bei Einreichung der Anmeldung gefehlt hätten. Die Eingangsstelle berief sich dabei auf einen internen Bericht. In der Entscheidung wurden der Antrag auf Berichtigung nach Regel 88 EPÜ sowie die Behauptung, der Passus auf Seite 6 der Beschreibung könne als Anspruch im Sinne des Artikels 80 EPÜ gelten, zurückgewiesen, und es wurde die Auffassung vertreten, daß als Tag der Patentanmeldung der 2. Oktober 1984, das Datum des Eingangs der Ansprüche, zu betrachten sei.
XII. Die Beschwerdeführerin legte mit Schreiben vom 25. Juni 1985, das noch am selben Tag beim Amt einging, Beschwerde ein und entrichtete die entsprechende Gebühr ordnungsgemäß. In ihrer am 5. September 1985 nachgereichten Beschwerdebegründung brachte sie folgendes vor:
1. Am 27. September 1984 seien aller Wahrscheinlichkeit nach ein Anspruchssatz in dreifacher Ausfertigung sowie andere Unterlagen, die nach Artikel 80 EPÜ für die Festlegung des Anmeldetags unbedingt erforderlich seien, in den Briefkasten der Poststelle des Europäischen Patentamts in München eingeworfen worden.
2. Hilfsweise enthalte Seite 6 der Beschreibung einen Passus, der für die Zwecke des Artikels 80 d) EPÜ als "Anspruch" gelten könne.
3. Hilfsweise sollte es der Beschwerdeführerin im Hinblick auf diesen Passus erlaubt werden, die Anmeldung gemäß Regel 88 EPÜ durch Hinzufügung mindestens eines Anspruches mit entsprechen dem Wortlaut zu berichtigen; das Fehlen herkömmlich numerierter Ansprüche weise nämlich darauf hin, daß ein Fehler unterlaufen sei, der berichtigt werden sollte, weil "sofort erkennbar ist, daß nichts anderes beabsichtigt sein konnte" als ein Anspruch mit diesem Wortlaut. Zu jeder dieser Hilfskonstruktionen brachte die Beschwerdeführerin vor, daß die europäische Patentanmeldung den 27. September 1984 als Anmeldetag erhalten sollte. Schließlich beantragte die Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung für den Fall, daß die Beschwerdekammer der Auffassung sei, sie habe keine andere Wahl, als diese Argumente zu verwerfen.
XIII. Wie unter XI angegeben, hat die Eingangsstelle anhand eines internen Berichts der Poststelle entschieden, daß die Ansprüche bei Einreichung der europäischen Patentanmeldung fehlten. Der Inhalt dieses Berichts ist jedoch dem Vertreter der Beschwerdeführerin vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung nicht mitgeteilt worden.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die erste in der Beschwerdebegründung gestellte Frage ist von erheblicher Bedeutung; es geht darum, ob die am 27. September 1984 beim Europäischen Patentamt in München eingereichten Unterlagen mindestens einen Anspruchssatz enthielten. Wenn diese Frage bejaht wird, braucht über die übrigen Beschwerdegründe nicht mehr entschieden zu werden; der Patentanmeldung muß dann entsprechend Artikel 80 EPÜ der 27. September 1984 als Anmeldetag zuerkannt werden, und der Prioritätsanspruch bleibt bestehen. Diese Frage ist für die Beschwerdeführerin und ihren Vertreter aus zwei Gründen von erheblicher Bedeutung. Wird sie verneint (und wird auch die übrige Beschwerdebegründung verworfen), so kann erstens die europäische Patentanmeldung möglicherweise nicht mit dem 2. Oktober 1984 als Anmeldetag aufrechterhalten werden, und zweitens wird (unabhängig von der Entscheidung über die übrige Beschwerdebegründung) die Kompetenz des zugelassenen Vertreters der Beschwerdeführerin oder seiner Angestellten in Zweifel gezogen. Wie bereits dargelegt, haben die Beschwerdeführerin und ihr Vertreter seit dem 2. Oktober 1984 die Behauptung des Europäischen Patentamts immer wieder zurückgewiesen, daß die Seiten mit den 15 Patentansprüchen nicht bei den Unterlagen waren, die am 27. September 1984 eingereicht worden sind. Um seine Behauptung zu belegen, daß die Seiten mit den Ansprüchen damals (getrennt von der Beschreibung) tatsächlich eingereicht worden sind, legte der Vertreter der Beschwerdeführerin am 18. Oktober 1984 zwei unterzeichnete Erklärungen von Personen vor, die in der Münchner Kanzlei der die Beschwerdeführerin vertretenden Sozietät beschäftigt sind, und am 2. November 1984 zwei eidesstattliche Versicherungen von zwei weiteren Personen, die in der Chicagoer Kanzlei dieser Sozietät arbeiten.
3. In Artikel 114 (1) EPÜ heißt es: "In den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt ermittelt das Europäische Patentamt den Sachverhalt von Amts wegen ..." Im vorliegenden Fall mußte die Eingangsstelle angesichts der obengenannten Argumente und Beweismittel eingehende Nachforschungen darüber anstellen, was im Europäischen Patentamt mit den Unterlagen geschehen war, nachdem der Umschlag in der Poststelle geöffnet worden war. Sie hat denn auch von der Poststelle einen ausführlichen Bericht angefordert, der im wesentlichen auf Seite 7 ihrer Entscheidung wiedergegeben ist.
4. Die Kammer, die nach Artikel 111 (1) und 114 (1) EPÜ ebenfalls verpflichtet ist, von Amts wegen zu ermitteln, kann sich jedoch der Entscheidung insoweit nicht anschließen, als sie sich mit der Frage befaßt, ob nun ein Anspruchssatz eingereicht worden ist oder nicht, und zwar aus folgenden Gründen:
a) Artikel 113 (1) EPÜ schreibt vor, daß Entscheidungen "nur auf Gründe gestützt werden ¦dürfen¦, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten". Diese Bestimmung des Europäischen Patentübereinkommens ist von größter Bedeutung, wenn die Gerechtigkeit im Verfahren zwischen dem Europäischen Patentamt und den Verfahrensbeteiligten gewahrt bleiben soll; dies gilt besonders dann, wenn sich eine Tatfrage stellt, z. B. ob ein Schriftstück an einem bestimmten Tag eingereicht worden ist oder nicht, und wenn die Tatsachenbehauptungen des Europäischen Patentamts im Widerspruch zu denen eines Verfahrensbeteiligten stehen. Außerdem kann es entsprechend den allgemeinen Grundsätzen unter Umständen angezeigt sein, den betreffenden Beteiligten vor Ergehen der Entscheidung nicht nur die Möglichkeit zu geben, sich zu den Gründen zu äußern, sondern z. B. auch - wie in Artikel 117 EPÜ vorgesehen - die Vernehmung wichtiger Tatzeugen zu beantragen. Die Kammer hat zur Kenntnis genommen, daß in Artikel 117 EPÜ ("Beweisaufnahme") zwar von den "Verfahren vor einer Prüfungabteilung, einer Einspruchsabteilung, der Rechtsabteilung oder einer Beschwerdekammer" die Rede ist, aber das Verfahren vor der Eingangsstelle nicht ausdrücklich genannt wird. Dies könnte die Vermutung nahelegen, daß die Eingangsstelle nicht zur Beweisaufnahme befugt ist. Wenn dieser Artikel auch keine ausdrückliche Bezugnahme auf die Eingangsstelle enthält, so darf er nach Ansicht der Kammer doch nicht so ausgelegt werden, daß ihr damit die Befugnis abgesprochen wird, im Einzelfall vor Erlaß einer Entscheidung eine Beweisaufnahme in geeigneter Weise durchzuführen. Da die Eingangsstelle Entscheidungen treffen darf, ist diese Befugnis zwangsläufig in Artikel 113 (1) EPÜ mit enthalten und entspricht durchaus den "in den Vertragsstaaten im allgemeinen anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts" (Art. 125 EPÜ). Ferner können Anträge nach Regel 75 EPÜ auf Beweissicherung im Zusammenhang mit Tatsachen, die für eine vom Europäischen Patentamt zu treffende Entscheidung von Bedeutung sein können, selbstverständlich auch bei der Eingangsstelle gestellt werden. Auch wenn im vorliegenden Fall kein derartiger Antrag gestellt worden ist, wird diese Auslegung des Artikels 117 EPÜ allein schon dadurch erhärtet, daß es die Regel 75 EPÜ gibt. Im vorliegenden Fall hat Artikel 113 (1) EPÜ zur Folge, daß die Eingangsstelle die Feststellung, daß der Anmeldetag der Patentanmeldung auf einen späteren Zeitpunkt als den 27. September 1984 festzusetzen ist, erst hätte treffen dürfen, nachdem alle Beweismittel, auf die sich diese Feststellung stützt, ermittelt und der Anmelderin oder ihrem Vertreter zur Stellungnahme mitgeteilt worden waren. Obwohl die Eingangsstelle, wie unter Nummer 3 dargelegt, vor Erlaß der Entscheidung tatsächlich eine Stellungnahme der Poststelle eingeholt hat (s. Nr. XIII), hat sie diese der Beschwerdeführerin nicht vorher mitgeteilt. Dies ist an sich schon ein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ und somit Grund genug für die Kammer, die Entscheidung aufzuheben.
b) Wie bereits erwähnt, wies die Empfangsbescheinigung, die der Beschwerdeführerin zuging, den maschinenschriftlichen Eintrag "3" auf, was prima facie darauf hindeutet, daß zum Zeitpunkt dieser Eintragung drei Ausfertigungen der Ansprüche vorlagen. Des weiteren ist dem von Hand eingetragenen Wort "missing" prima facie zu entnehmen, daß die Ansprüche zum Zeitpunkt dieser handschriftlichen Eintragung in der Akte fehlten. Die beiden Eintragungen sind zu keinem Zeitpunkt miteinander vereinbar, und aus der Bescheinigung selbst ist nicht zu ersehen, in welcher Reihenfolge die Eintragungen erfolgt sind. Dem ersten Anschein nach war jede Eintragung zu dem Zeitpunkt, als sie gemacht wurde, korrekt. Somit geht aus dem in der Empfangsbescheinigung eigens vorgenommenen Eintrag dem Anschein nach hervor, daß am 27. September 1984 beim Europäischen Patentamt tatsächlich drei Anspruchssätze zusammen mit den anderen Unterlagen zu dieser Patentanmeldung eingereicht worden sind. Dem Anschein nach erhärtet deshalb die Empfangsbescheinigung die Behauptung der Beschwerdeführerin. Das gesamte Beweismaterial für die Behauptung der Beschwerdeführerin, daß am 27. September 1984 tatsächlich Ansprüche eingereicht worden sind (d. h. das von der Beschwerdeführerin vorgelegte schriftliche Beweismaterial in Verbindung mit der Empfangsbescheinigung), reicht nach Ansicht der Kammer bis zur Erbringung eines stichhaltigeren Gegenbeweises sicherlich aus, um glaubhaft zu machen, daß an diesem Tag tatsächlich drei Anspruchssätze eingereicht worden sind. Damit verlagert sich die Beweislast zum Europäischen Patentamt; es hätte den Gegenbeweis antreten müssen, um mit Fug und Recht feststellen zu können, daß keine Anspruchssätze eingereicht worden sind. In der angefochtenen Entscheidung (S. 9) heißt es wie folgt: "Das Europäische Patentamt muß in erster Instanz davon ausgehen, daß die Ansprüche nicht am 27.9.1984 eingereicht worden sind. Die Ausführungen und Erklärungen der Vertreter beweisen nicht, daß die Ansprüche tatsächlich am 27.9.1984 beim Europäischen Patentamt eingereicht worden sind ..." Anschließend werden die Beweismittel der Beschwerdeführerin kritisiert: "Die Sekretärin der Vertreter, die für die Zusammenstellung der Anmeldungsunterlagen zuständig gewesen ist, hat nur angegeben, sie erinnere sich nicht daran, daß die Ansprüche gefehlt hätten; der zugelassene Vertreter der Münchner Kanzlei, der für die Einreichung der europäischen Patentanmeldung zuständig gewesen ist, hat lediglich erklärt, es sei ihm nicht aufgefallen, daß keine Ansprüche vorhanden gewesen seien." Was diese Kritik anbelangt, so ist die Kammer davon überzeugt, daß von der Sekretärin und dem zugelassenen Vertreter wohl kaum mehr zu erwarten war, als sie pflichtgemäß den einschlägigen Sachverhalt schilderten, soweit sie sich nach drei Wochen noch daran erinnern konnten. Der Bericht des Beamten, der zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Poststelle zuständig war, ist auf Seite 7 der Entscheidung wie folgt im wesentlichen wiedergegeben: "Die Poststelle München hat ausgeführt, daß ein Kreuz in dem Kästchen "Ansprüche" und die Bemerkung "missing" nicht widersprüchlich seien. Die Anmelderin habe keine Empfangsbescheinigung beigefügt. Wie in solchen Fällen üblich, sei die vorgedruckte Empfangsbescheinigung zunächst anhand der im Erteilungsantrag enthaltenen Kontrolliste ausgefüllt worden; erst dann seien die beigefügten Unterlagen auf ihre Vollständigkeit hin überprüft worden. Dabei sei festgestellt worden, daß die Ansprüche fehlten, und deshalb der Vermerk "missing" handschriftlich eingefügt worden. Es bestehe kein Zweifel daran, daß die Ansprüche nicht beigefügt waren." Zu diesem Bericht äußert sich die Kammer wie folgt:
i) Zweck einer Empfangsbescheinigung ist es, die tatsächlich eingegangenen Schriftstücke aufzuführen. Im vorliegenden Fall ist der Anmelderin eine Empfangsbescheinigung ausgestellt worden, aus der dem Anschein nach hervorgeht, daß am 27. September 1984 drei Anspruchssätze eingereicht worden waren und daß vor Absendung der Empfangsbescheinigung festgestellt wurde, daß diese Ansprüche fehlten.
ii) Die Empfangsbescheinigung wird durch die von natürlichen Personen zugunsten der Beschwerdeführerin abgegebenen und unterzeichneten schriftlichen Erklärungen und eides stattlichen Versicherungen gestützt. Um sie zu entkräften und hinreichend glaubhaft machen zu können, daß am 27. September 1984 keine Anspruchssätze eingereicht worden sind, hätte der Bericht ausführlicher und genauer sein und angeben müssen, welche Beamten des Europäischen Patentamts den Fall seit dem 27. September 1984 bearbeitet hatten. Außerdem hätte er der Beteiligten sofort zugänglich gemacht werden müssen. In dem Bericht der Poststelle, der von ihrem Leiter unterzeichnet ist, wird nur behauptet, es bestehe "kein Zweifel" daran, daß die Ansprüche nicht beigefügt waren. Er ist eindeutig nicht beweiskräftig genug, um die im Namen der Beschwerdeführerin vorgelegten Beweise dafür zu entkräften, daß die Ansprüche aller Wahrscheinlichkeit nach am 27. September 1984 eingereicht worden sind. Der in der angefochtenen Entscheidung wiedergegebene Bericht läßt durchaus die Möglichkeit zu, daß die Ansprüche eingegangen und dann im Europäischen Patentamt verlegt worden sind. Auch wenn der Bericht der Poststelle gemäß Artikel 113 (1) EPÜ der Beschwerdeführerin vor Ergehen der Entscheidung zur Stellungnahme zugesandt worden wäre, wäre er nach Ansicht der Kammer aus den obengenannten Gründen nicht beweiskräftig genug, um die Feststellung zu rechtfertigen, daß am 27. September 1984 keine Anspruchssätze eingereicht worden sind.
5. Im Hinblick auf den bereits unter Nummer 3 angeführten Artikel 114 (1) EPÜ hat die Kammer geprüft, ob sie die Sache zur weiteren Ermittlung an die Eingangsstelle zurückverweisen oder den Sachverhalt in bezug auf die Bearbeitung der Unterlagen, die am 27. September 1984 in der Poststelle eingereicht worden sind, selbst ermitteln soll. Da jedoch die Beschwerdebegründung, wenn auch fristgerecht, erst im September 1985 eingereicht worden ist, würden Ermittlung und Beweisaufnahme zwangsläufig mehr als ein Jahr nach den maßgeblichen Ereignissen stattfinden. Unter diesen Umständen ist nicht anzunehmen, daß sich das Personal der Poststelle noch deutlich daran erinnern kann, was mit den Unterlagen in diesem Fall geschehen ist; es wäre daher weder der Beschwerdeführerin noch dem Europäischen Patentamt damit gedient, wenn eine solche Ermittlung zum jetzigen Zeitpunkt durchgeführt würde. Dies macht deutlich, wie wichtig es in einem Fall wie dem vorliegenden ist, daß die betreffende Dienststelle - wie unter Nummer 4 dargelegt - eine Beweisaufnahme veranlaßt, sobald es sich zeigt, daß zwischen dem Europäischen Patentamt und einem Verfahrensbeteiligten Uneinigkeit über eine Tatfrage besteht.
6. Die Kammer möchte ganz klar zum Ausdruck bringen, daß sie aufgrund der ihr vorliegenden Informationen keinen Grund hat, weder an der offensichtlich aufrichtigen Überzeugung der Beschwerdeführerin, daß die Anspruchssätze am 27. September 1984 zusammen mit den anderen Unterlagen eingereicht worden sind, zu zweifeln, noch an der des Leiters der Poststelle, daß sie nicht eingereicht worden sind. Da jedoch die Eingangsstelle nicht ordnungsgemäß vorgegangen und es so lange Zeit nach den fraglichen Ereignissen nicht mehr möglich ist, den Sachverhalt neu zu ermitteln, wäre es nach Ansicht der Kammer unbillig, zu Ungunsten der Beschwerdeführerin zu entscheiden.
7. Unter diesen Umständen braucht die Kammer die beiden anderen in der Beschwerdebegründung gestellten Fragen nicht zu entscheiden.
8. Aus den obengenannten Gründen hat die Kammer entschieden, daß der Beschwerde stattgegeben wird.
9. Die Kammer hat geprüft, ob gemäß Regel 67 EPÜ die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen ist. Wie unter Nummer 4 a dargelegt, hat die Eingangsstelle gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoßen; aufgrund dieses wesentlichen Verfahrensmangels hat die Kammer der Beschwerde stattgegeben. Nach Lage des Falles ist daher die Rückzahlung der Beschwerdegebühr eindeutig angezeigt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Eingangsstelle vom 26. April 1985 wird aufgehoben.
2. Als Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung Nr. 84 111 579.3 gilt der 27. September 1984.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.