T 0261/88 (Beschwerdefähige Entscheidung) 28-03-1991
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Die folgenden Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung werden der Großen Beschwerdekammer vorgelegt:
1. Ist gegen eine Entscheidung des Direktors einer Direktion, zu der die Einspruchsabteilung verwaltungsmäßig gehört, die Beschwerde zu den Beschwerdekammern gegeben, wenn mit der Entscheidung der Einwand eines Beteiligten am Einspruchsverfahren zurückgewiesen wird, daß ein Mitglied der Einspruchsabteilung, das über einen bestimmten Fall entscheiden soll, wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werde?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
a) Sind für die Entscheidung über die Befangenheit eines Mitglieds der Einspruchsabteilung dieselben Erwägungen maßgeblich wie nach Artikel 24 EPÜ im Fall eines Beschwerdekammermitglieds?
b) Welches war im vorliegenden Fall das tatsächliche Datum der Entscheidung, das bei der Berechnung der Frist für die Einlegung einer Beschwerde zugrunde gelegt wird?
3. Ist im vorliegenden Fall die von der Beschwerdeführerin erklärte Ablehnung eines Mitglieds der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit ein rechtsgültiger Beschwerdegrund?
Besorgnis der Befangenheit eines Prüfers in der Einspruchsabteilung Beschwerdegrund?
Befassung der Großen Beschwerdekammer
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 45 117 wurde Discovision Associates erteilt; N. V. Philips' Gloeilampenfabrieken legte dagegen fristgerecht Einspruch wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit ein, wobei sie sich auf bestimmte Vorveröffentlichungen bezog, und beantragte eine mündliche Verhandlung.
Im Namen der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) wurde eine Stellungnahme zur Einspruchsschrift und im Namen der Einsprechenden (Beschwerdegegnerin) eine weitere Stellungnahme eingereicht. In dieser Phase erließ die Einspruchsabteilung einen vom 9. März 1987 datierten Bescheid an die Verfahrensparteien nach Artikel 101 (2) und Regel 58 (1) bis (3) EPÜ. In diesem Bescheid wurde neben den fünf von der Beschwerdegegnerin herangezogenen Dokumenten auf ein weiteres Dokument zum Stand der Technik Bezug genommen und die Auffassung vertreten, daß "das Patent wahrscheinlich nach Artikel 102 (1) EPÜ widerrufen wird." Der Bescheid war von einem Formalsachbearbeiter und vom beauftragten Prüfer der Einspruchsabteilung unterzeichnet. Die Parteien wurden zur Stellungnahme aufgefordert.
Die Beschwerdeführerin reichte die vom 10. September 1987 datierte Stellungnahme rechtzeitig ein und stellte vorab die Frage, ob der beauftragte Prüfer die gleiche Person sei, die an einem früheren Verfahren teilgenommen habe, in dem im Namen der Beschwerdegegnerin Einspruch gegen ein anderes europäisches Patent der Beschwerdeführerin erhoben worden sei. Wenn dies der Fall sei, beantrage sie, die Einspruchsabteilung neu zu besetzen, und zwar ausschließlich mit Personen, die noch keine direkte Verbindung mit der Beschwerdeführerin oder der Beschwerdegegnerin gehabt hätten. Als Antwort darauf erhielt die Beschwerdeführerin ein vom 19. November 1987 datiertes Schreiben des für die Besetzung der betreffenden Einspruchsabteilung zuständigen Direktors, in dem bestätigt wurde, daß der beauftragte Prüfer bei der Beschwerdegegnerin angestellt gewesen sei und "dieses Unternehmen viele Male in Prüfungs- und Einspruchsverfahren vertreten" habe. In dem Schreiben wurde weiter festgestellt:
"(1) Im EPÜ ist ein Ausschluß bzw. eine Ablehnung nur in Artikel 24 vorgesehen, der den Mitgliedern der Beschwerdekammer verbietet, an der Erledigung einer Sache mitzuwirken, an der sie ein persönliches Interesse haben, in der sie vorher als Vertreter eines Beteiligten tätig gewesen sind oder an deren abschließender Entscheidung in der Vorinstanz sie mitgewirkt haben.
(2) Bei Prüfungs- und Einspruchsverfahren in der ersten Instanz versuchen wir, die Prüfer nach Möglichkeit von Fällen ihrer früheren Arbeitgeber auszuschließen. Das ist aber nicht immer möglich. Wegen praktischer Schwierigkeiten können wir (den beauftragten Prüfer) in den vielen Fällen, in denen die Beschwerdegegnerin Anmelderin oder Einsprechende ist, nicht aus der Prüfungs- bzw. Einspruchsabteilung ausschließen.
Wir können Ihnen jedoch zusichern, daß (der beauftragte Prüfer) im vorliegenden wie auch in ähnlich gelagerten Fällen objektiv handeln wird. Auch ist die Tatsache, daß jede Prüfungs- bzw. Einspruchsabteilung aus drei Mitgliedern besteht, ein Schutz für den Anmelder, Patentinhaber oder Einsprechenden."
Dieses Schreiben wurde nicht zur Einspruchsakte genommen, und sie enthält auch keinen Hinweis darauf, daß es der Beschwerdegegnerin zugesandt wurde.
Am 29. Dezember 1987 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung am 23. Februar 1988.
Mit Schreiben vom 11. Februar 1988 erklärte die Beschwerdegegnerin, daß sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde. Bei Abschluß der mündlichen Verhandlung verkündete die Einspruchsabteilung (in der der beauftragte Prüfer der gleiche geblieben war) die Entscheidung, daß das Patent widerrufen werde. Das Protokoll der mündlichen Verhandlung und eine schriftliche Entscheidung wurden am 19. April 1988 ordnungsgemäß ausgefertigt, aber diese Unterlagen enthalten keinen Hinweis darauf, daß die Beschwerdeführerin die Besetzung der Einspruchsabteilung beanstandet hätte.
II. Die Beschwerdeführerin legte am 23. Juni 1988 ordnungsgemäß Beschwerde ein und reichte am 18. August 1988 eine Beschwerdebegründung ein, in der sie nicht nur die Widerrufsgründe, sondern auch die Widerrufsentscheidung mit der Begründung anfocht, daß "bei der Durchführung des Einspruchsverfahrens wegen der Bestimmung des beauftragten Prüfers der Einspruchsabteilung eine ungebührliche und unfaire (wenn auch unbeabsichtigte) Voreingenommenheit" bestanden habe. Um diese Begründung zu untermauern, bezeichnete die Beschwerdeführerin die in Abschnitt 1 des Schreibens vom 19. November 1987 enthaltene Aussage, daß "Artikel 24 EPÜ die einzigen Umstände darstellt, unter denen für einen Bediensteten des EPA die Mitwirkung an Verfahren einer bestimmten Art unangebracht wäre", als "ausgemachten Unsinn und dem Prinzip der natural justice widersprechend". (Anm. d. Red.: "natural justice" = Begriff des englischen Rechts, der insbesondere zwei Grundsätze des Verfahrensrechts umfaßt, nämlich das Prinzip der Unparteilichkeit des Richters (nemo iudex in causa sua) und den Grundsatz, daß jedem, dessen Rechte durch die Entscheidung berührt werden könnten, ausreichend Gelegenheit gewährt werden muß, seinen Standpunkt vorzutragen (audi et alteram partem). Sie verwies auf Artikel 19 EPÜ, der die Zusammensetzung der Einspruchsabteilung behandele und nur eine einzige Ausschlußbestimmung enthalte, nämlich daß "ein Prüfer, der am Erteilungsverfahren mitgewirkt hat, nicht den Vorsitz führen kann." Sie behauptete jedoch, daß "es noch viele andere Umstände gibt, unter denen es offenkundig nicht im Sinne der Gerechtigkeit wäre, wenn ein Mitglied der Einspruchsabteilung an der Sache ein persönliches Interesse hätte", und führte Beispiele dafür an. Insbesondere machte sie geltend, daß der Einspruchsabteilung in dieser Sache insofern eine Fehlbeurteilung oder ein Rechtsirrtum unterlaufen sei, "als es eindeutig dem Grundsatz der "natural justice"2 widerspricht, wenn die Hauptverantwortung für die Interpretation der Entgegenhaltungen, ja sogar für die Entscheidung aller Streitfragen in der Sache einer Person zufällt, deren Blick durch ihre frühere Tätigkeit (für die Beschwerdegegnerin) getrübt ist." Der Einwand gegen den beauftragten Prüfer bestehe "nicht nur darin, daß er früher als zugelassener Vertreter für (die Beschwerdegegnerin) tätig war (obschon ... das allein ausreichen würde), sondern daß er (die Beschwerdegegnerin) in einer Reihe von Einspruchsverfahren gegen (die derzeitige Beschwerdeführerin) vertreten hat, wobei es um eine Technologie ging, die zudem sehr nahe mit dem Gegenstand des vorliegenden (europäischen Patents) verwandt ist." Daß der beauftragte Prüfer früher für die Beschwerdegegnerin in Fällen tätig gewesen sei, an denen die gleiche Einsprechende und die gleiche Patentinhaberin beteiligt gewesen seien und bei denen es um eine sehr nahe verwandte Technologie gegangen sei, beeinflusse seine Haltung in dieser Sache zwangsläufig zugunsten der Beschwerdegegnerin, wie durch viele einzeln aufgeführte Passagen aus der Entscheidung der Einspruchsabteilung belegt werde. Beweise für die Tätigkeit des beauftragten Prüfers für die Beschwerdegegnerin in einem nahe verwandten Einspruchsverfahren im Jahre 1985 seien zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden.
Aus den oben dargelegten Gründen machte die Beschwerdeführerin geltend, daß die Bestimmung und die Beibehaltung dieses beauftragten Prüfers der Einspruchsabteilung einen schwerwiegenden Verfahrensmangel darstellten; sie beantragte die Erstattung der Beschwerdegebühr. Die Beschwerdegegnerin nahm zur Beschwerdebegründung nicht Stellung.
III. Angesichts des Inhalts der Beschwerdebegründung erging an beide Parteien ein Bescheid im Namen der Beschwerdekammer, in dem unter anderem vorgeschlagen wurde, der Großen Beschwerdekammer die folgende Frage vorzulegen:
"Ist gegen eine Entscheidung des Direktors einer Direktion, zu der die Einspruchsabteilung verwaltungsmäßig gehört, die Beschwerde zu den Beschwerdekammern gegeben, wenn mit der Entscheidung der Einwand eines Beteiligten am Einspruchsverfahren zurückgewiesen wird, daß ein Mitglied der Einspruchsabteilung, das über einen bestimmten Fall entscheiden soll, wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werde?"
IV. In ihrer Erwiderung führte die Beschwerdeführerin aus: Wenn das vom 19. November 1987 datierte Schreiben denn eine beschwerdefähige Entscheidung darstelle, so sei dies jedenfalls nicht in dem Schreiben deutlich gemacht worden; sie schlage daher vor, daß aus Gründen der Gerechtigkeit nötigenfalls eine Fristverlängerung gewährt werde, zum Beispiel bis zum 18. August 1988, an dem die eigentliche Beschwerdeschrift eingereicht worden sei.
V. Die Beschwerdeführerin schlug vor, der Großen Beschwerdekammer die folgenden weiteren Fragen vorzulegen:
1) Widerspricht es dem Prinzip der "natural justice", daß jemand, der als zugelassener Vertreter für einen Einsprechenden tätig gewesen ist und ihn in Einspruchsverfahren gegen denselben Patentanmelder auf einem technischen Gebiet vertreten hat, das mit dem bei einem Einspruch behandelten Gebiet nahe verwandt ist, im Einspruchsverfahren als beauftragter Prüfer eingesetzt wird?
2) Wenn das Schreiben des Direktors eine beschwerdefähige Entscheidung war, ist dann aus Gründen der Gerechtigkeit eine Verlängerung der Beschwerdefrist bis zum 18. August 1988 oder darüber hinaus zu gewähren und die von der Anmelderin am
18. August 1988 eingelegte Beschwerde als Beschwerde gegen die genannte beschwerdefähige Entscheidung anzusehen? Die Beschwerdeführerin trug vor, daß die Besorgnis der Befangenheit des beauftragten Prüfers in diesem Beschwerdeverfahren in jedem Fall ein rechtsgültiger Beschwerdegrund sei.
VI. Von der Beschwerdegegnerin ging innerhalb der angegebenen Frist weder eine Erwiderung auf den Bescheid der Kammer noch eine sonstige Stellungnahme ein.
Entscheidungsgründe
1. Artikel 112 (1) a) EPÜ berechtigt eine Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, von Amts wegen die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn sie eine Entscheidung zu einer aufgetretenen Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung für erforderlich hält. Im vorliegenden Fall ist nach Auffassung der Beschwerdekammer in bezug auf bestimmte Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die sich, wie im folgenden dargelegt, gestellt haben, eine solche Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich.
2. Wie aus der Zusammenfassung des Sachverhalts und der Anträge ersichtlich, hat die Beschwerdeführerin als Beschwerdegrund die Befangenheit des beauftragten Prüfers der Einspruchsabteilung angegeben. Würde diese Begründung anerkannt, so würde sie aufgrund der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammer die Feststellung rechtfertigen, daß die von der Einspruchsabteilung getroffene Entscheidung nichtig und rechtsunwirksam ist, so daß die Sache zur weiteren Prüfung und Entscheidung an eine ordnungsgemäß besetzte Einspruchsabteilung zurückverwiesen werden müßte.
2.1 In diesem Zusammenhang wird auf die Entscheidungen T 390/86 (ABl. EPA 1989, 30), T 243/87 (30. August 1989) und T 251/88 (14. November 1989) verwiesen. In den ersten beiden Fällen war die Besetzung der Einspruchsabteilung zwischen der Verkündung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung und der schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung geändert worden. Im dritten Fall verstieß die Zusammensetzung einer Einspruchsabteilung gegen Artikel 19 (2) EPÜ, weil zwei der drei Mitglieder in dem Verfahren zur Erteilung des Patents, auf das sich der Einspruch bezog, mitgewirkt hatten. In allen drei Fällen entschied die Beschwerdekammer, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und die Sache zur nochmaligen Prüfung an eine neu besetzte Einspruchsabteilung zurückzuverweisen sei.
2.2 Diese Beschwerdekammer ist jedoch der Auffassung, daß eine solche Entscheidung nicht unbedingt richtig ist, und zwar weder in den drei vorgenannten Fällen noch im vorliegenden. Es ließe sich auch die gegenteilige Ansicht vertreten, daß die Zusammensetzung einer Einspruchsabteilung eine interne Verwaltungsangelegenheit ist, die nicht von der Einspruchsabteilung selbst entschieden wird, und daß sie einer internen administrativen "Entscheidung" des Leiters der Direktion unterliegt, zu der die Einspruchsabteilung innerhalb des Organs des EPA gehört, das sich nach Artikel 15 d) EPÜ aus den Einspruchsabteilungen zusammensetzt. Eine solche interne administrative "Entscheidung" ist wohl keine Entscheidung im Sinne des Artikels 106 (1) EPÜ und daher gar nicht beschwerdefähig.
Im EPÜ findet sich nirgendwo ein ausdrücklicher Hinweis darauf, daß ein Mitglied eines erstinstanzlichen Organs wegen Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung an einer Sache ausgeschlossen oder sogar abgelehnt werden kann. Dies steht zur Rechtsstellung der Mitglieder der Beschwerdekammern insofern in direktem Gegensatz, als ein Mitglied einer Beschwerdekammer nach Artikel 24 (2) EPÜ "aus einem sonstigen Grund" seinen eigenen Ausschluß beantragen und nach Artikel 24 (3) EPÜ von einer Partei "wegen Besorgnis der Befangenheit" abgelehnt werden kann. Somit ist fraglich, ob eine Partei in einem beim EPA anhängigen erstinstanzlichen Verfahren berechtigt ist, auch Mitglieder dieses Organs, die in einer bestimmten Sache entscheiden sollen, abzulehnen.
3. In dem Schreiben vom 19. November 1987 wird unterstellt, daß Artikel 24 EPÜ die einzigen möglichen Umstände darstellt, unter denen Bedienstete des EPA im Zusammenhang mit der Mitwirkung an Entscheidungen in Verfahren vor dem EPA ausgeschlossen oder abgelehnt werden können. Wenn das richtig ist, bedeutet dies im Extremfall, daß alle Mitglieder einer Einspruchsabteilung offen für eine Partei eingenommen sein könnten, ohne daß dagegen irgendein Rechtsmittel eingelegt werden könnte. Mit einer derartigen Zusammensetzung einer Einspruchsabteilung wäre die andere Partei aber wohl mit Recht unzufrieden. Ferner wird behauptet, daß es zum Schutz der anderen Partei völlig ausreiche, wenn die Einspruchsabteilung neben dem vielleicht nicht ganz objektiven Mitglied mit zwei weiteren Prüfern besetzt werde, die beide unparteiisch seien. Im vorliegenden Fall scheint die Beschwerdeführerin jedoch nicht bereit zu sein, dies anzuerkennen, und das ist gewiß verständlich. Im Prinzip gibt es wohl keinen Grund dafür, eine Verfahrenspartei so zu benachteiligen.
3.1 Seitens der Beschwerdeführerin wird zu verstehen gegeben, daß es gute Gründe für die Existenz des Artikels 24 EPÜ gebe, der sich nur mit den Ausschluß- oder Ablehnungsgründen in bezug auf Mitglieder der Beschwerdekammern befasse: Im EPÜ selbst seien nämlich Bestimmungen (Artikel 21 bis 24 EPÜ) verankert worden, die die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern und die Unparteilichkeit ihrer Mitglieder gewährleisten, weil die Kammern die letzte Rechtsmittelinstanz im EPA seien, die unter anderem für die Korrektur von Rechtsirrtümern der erstinstanzlichen Organe zuständig sei. Mit diesem Vortrag scheint die Beschwerdeführerin zumindest anzuerkennen, daß eine Garantie der Unparteilichkeit in bezug auf die Beschwerdekammern wichtiger ist als in bezug auf die erstinstanzlichen Organe.
3.2 Ferner bringt die Beschwerdeführerin vor, daß die Mitwirkung des beauftragten Prüfers der Einspruchsabteilung an der vorliegenden Sache dem Grundsatz der "natural justice"2 widerspreche und falsch sei.
Der Begriff "natural justice" erscheint nicht ausdrücklich im EPÜ. Jedoch wird gemeinhin angenommen, daß dieser Rechtsgrundsatz in der Gesamtheit der "allgemeinen Rechtssätze" enthalten ist, die in Ländern wie etwa den Vertragsstaaten des EPÜ generell anerkannt werden. Das Recht auf eine objektive Anhörung vor einem unparteiischen Gericht gilt überall als der "natural justice"2 entsprechend und als einer dieser allgemeinen Rechtssätze. Vom Verwaltungsgericht der ILO wurde dieses Recht beispielsweise wie folgt formuliert (Urteil Nr. 179, Varnet gegen UNESCO, 8. November 1971):
"Es ist ein allgemeiner Rechtssatz, daß jemand, der eine Entscheidung fällen soll, die die Rechte oder Pflichten seiner Gerichtsbarkeit unterstehender anderer Personen berührt, sich in den Fällen einer Mitwirkung enthalten muß, in denen seine Unparteilichkeit aus triftigen Gründen zweifelhaft ist. Dabei ist es unerheblich, ob er sich subjektiv für fähig hält, eine unvoreingenommene Entscheidung zu fällen; es reicht aber auch nicht aus, daß die von der Entscheidung betroffenen Personen deren Urheber der Voreingenommenheit verdächtigen. Personen, die in beratender Eigenschaft an den Verfahren von Entscheidungsorganen teilnehmen, unterliegen gleichfalls dem obenerwähnten Rechtsgrundsatz. Er gilt auch für Mitglieder von Gremien, die Empfehlungen an Entscheidungsorgane richten sollen. Obwohl sie selbst keine Entscheidungen fällen, können diese beiden Arten von Gremien manchmal einen entscheidenden Einfluß auf die Entscheidungsfindung ausüben.
Weil der Zweck dieses Rechtssatzes im Schutz des Individuums vor Willkür besteht, gilt er in internationalen Organisationen auch dann, wenn er nicht kodifiziert worden ist. Daraus folgt, daß sich die betreffenden Amtsträger bei Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung in den Vorschriften der Mitwirkung enthalten müssen, wenn sie sich zur Sache schon in einer Weise geäußert haben, die ihre Unparteilichkeit zweifelhaft erscheinen läßt, oder wenn aus anderen Gründen ihre Befangenheit zu besorgen ist." In ähnlicher Weise führte das Verwaltungsgericht der Weltbank in der Entscheidung Nr. 28 (WBAT Reports, 1986) aus:
"Es ist eine Grundregel bei gerichtlichen wie auch gerichtsähnlichen Verfahren, daß jeder, der ein Urteil über einen anderen fällen soll, seine Aufgabe frei von jeder möglichen, durch eine frühere Mitwirkung an der Sache entstandenen Voreingenommenheit wahrnehmen muß".
Die Bestimmung von Mitgliedern einer Einspruchsabteilung ist wohl eine Verfahrensfrage, und Artikel 125 EPÜ schreibt vor: "Soweit dieses Übereinkommen Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, berücksichtigt das Europäische Patentamt die in den Vertragsstaaten im allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts." Die in dem Schreiben vom 19. November 1987 vorgebrachten Argumente enthalten keinerlei Hinweis auf diese allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts (die wohl den oben erwähnten "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" entsprechen).
Wenn Artikel 125 EPÜ bei der Sachlage des vorliegenden Falls anwendbar ist, liefert möglicherweise auch die Straßburger Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten einen gewissen Anhaltspunkt dafür, was in den Vertragsstaaten als Grundsatz des Verfahrensrechts allgemein anerkannt wird, wenn in Artikel 6 (1) erklärt wird: "Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ... zu entscheiden hat." Es kann jedoch in Frage gestellt werden, ob ein erstinstanzliches Organ wie etwa eine Einspruchsabteilung des EPA ein Gericht ist, das diesen Artikel der Straßburger Konvention bzw. andere allgemein anerkannte, für Gerichtsverfahren maßgebende Rechtssätze beachten muß.
4. Die von der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung und ihrer Erwiderung zur Mitteilung der Kammer vorgebrachten Argumente werfen eine grundsätzliche Rechtsfrage auf, nämlich ob die Besorgnis der Befangenheit eines Mitglieds einer Einspruchsabteilung ein Beschwerdegrund sein kann oder nicht. Nach Auffassung der Kammer gibt das EPÜ selbst keine klare Antwort auf diese Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Daher hat die Kammer beschlossen, sie zur Sicherung der Rechtseinheitlichkeit der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
Wenn ein derartiger Beschwerdegrund zulässig ist, erheben sich weitere Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung.
5. Wenn Mitglieder eines erstinstanzlichen Organs wie z. B. einer Einspruchsabteilung von einer Partei mit der Begründung des persönlichen Interesses oder der Befangenheit abgelehnt werden können, stellt sich die Frage, welcher Grad der Befangenheit nachgewiesen werden muß, damit die Ablehnung Erfolg hat.
Ist jemand, der zum Mitglied eines erstinstanzlichen Organs bestimmt wird, von der Mitwirkung an der Entscheidung dieses Organs als beauftragter Prüfer oder überhaupt von jeder Mitwirkung auszuschließen, wenn er zum Beispiel an der Abfassung einer Patentanmeldung mitgewirkt hat, die Gegenstand eines Verfahrens vor dem EPA ist? Muß auch jemand von der Mitwirkung als beauftragter Prüfer oder überhaupt von jeder Mitwirkung ausgeschlossen werden, der kürzlich für eine Verfahrenspartei in einer Sache tätig war, die mit den in diesem Verfahren strittigen Punkten nahe verwandt ist, der jedoch nichts mit der Prüfung des eigentlichen Patents bzw. der Patentanmeldung zu tun hatte, die Gegenstand des Verfahrens ist? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die "nicht lange zurückliegende" Tätigkeit für eine Partei? Was ist mit einem "nahe verwandten" technischen Gebiet gemeint?
Hier handelt es sich um Tat- und nicht um Rechtsfragen, und aus diesem Grunde hält es die Kammer nicht für angezeigt, eine Frage wie etwa die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Frage 1 der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
5.1 Dennoch erhebt sich dadurch, daß das EPÜ keine Bestimmungen bezüglich der Mitglieder erstinstanzlicher Organe enthält, die dem Artikel 24 EPÜ über die Mitglieder der Beschwerdekammern entsprechen, die Frage, ob dieselben Kriterien der Unparteilichkeit sowohl auf die Mitglieder der Beschwerdekammern als auch auf die der erstinstanzlichen Organe wie z. B. der Einspruchsabteilungen anzuwenden sind.
6. Schließlich wirft das Vorbringen der Beschwerdeführerin Verfahrensfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf (wenn man davon ausgeht, daß Einwände gegen die Zusammensetzung einer Einspruchsabteilung Gegenstand einer beschwerdefähigen Entscheidung sein können).
Insbesondere erhebt sich die Frage, worin die beschwerdefähige Entscheidung besteht und welches Datum ihr zuzuordnen ist. So ist es im vorliegenden Fall fraglich, ob die beschwerdefähige Entscheidung in bezug auf die Zusammensetzung der Einspruchsabteilung in dem Schreiben vom 19. November 1987 oder in der Entscheidung vom 19. April 1988 besteht. Wenn das Schreiben vom 19. November 1987 eine beschwerdefähige Entscheidung war, entsprach sie nicht den Bestimmungen der Regel 68 EPÜ. Dann ist nach Auffassung der Kammer keine Verlängerung der in Artikel 108 EPÜ angegebenen Fristen möglich.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die folgenden Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung sind der Großen Beschwerdekammer vorzulegen:
1. Ist eine Entscheidung beschwerdefähig, mit der der Direktor einer Direktion, zu der die Einspruchsabteilung verwaltungsmäßig gehört, die durch einen der Beteiligten am Einspruchsverfahren wegen Besorgnis der Befangenheit erklärte Ablehnung eines Mitglieds der Einspruchsabteilung, das in einer bestimmten Sache entscheiden sollte, zurückgewiesen hat?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
a) Sind für die Entscheidung über die Befangenheit eines Mitglieds der Einspruchsabteilung dieselben Erwägungen maßgeblich wie nach Artikel 24 EPÜ im Fall eines Beschwerdekammermitglieds?
b) Welches war im vorliegenden Fall das tatsächliche Datum der Entscheidung, das bei der Berechnung der Frist für die Einlegung einer Beschwerde zugrunde gelegt wird?
3. Ist im vorliegenden Fall die von der Beschwerdeführerin erklärte Ablehnung eines Mitglieds der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit ein rechtsgültiger Beschwerdegrund?