T 0840/93 (Orale Zusammensetzungen) 11-07-1995
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Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 297 213 wurde auf der Grundlage von sechs in der europäischen Patentanmeldung Nr. 88 103 996.0 enthaltenen Ansprüchen erteilt. Die Anmeldung war eine Teilanmeldung aus der europäischen Patentanmeldung Nr. 83 303 417.6 (Veröffentlichungsnr. 0 097 476), die wiederum auf die am 22. Juni 1982 eingereichte US-Anmeldung Nr. 391 040 zurückging.
II. Gegen das erteilte Patent wurden sechs Einsprüche eingelegt. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent wegen mangelnder Neuheit aufgrund der Entgegenhaltung US-A-3 934 002 (1), die sie für den nächstliegenden Stand der Technik hielt. Diese Entge- genhaltung bezieht sich auf orale Zusammensetzungen, die spezielle Bisbiguanide enthalten, die die Bildung von Zahnbelag hemmen. Die Zusammensetzungen nach der Entgegenhaltung 1 enthalten ferner der Zahnsteinbildung entgegenwirkende Stoffe und - in den Beispielen - Fluoride. Obwohl darin Pyrophosphat nicht als bevorzugtes Mittel zur Verhinderung von Zahnsteinbildung genannt ist, vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, daß das Ausführungsbeispiel XX der Entgegenhaltung 1 eine Zusammensetzung offenbare, die für den Anspruch 1 sowohl des Haupt- als auch des Hilfsantrags neuheitsschädlich sei.
Mehrere Einsprechende hatten unter Berufung auf Artikel 100 c) EPÜ geltend gemacht, daß der Gegenstand der Teilanmeldung über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung hinausgehe. Die Einspruchsabteilung hielt jedoch die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ für erfüllt.
III. Der Beschwerdeführer legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein. Am 11. Juli 1995 fand eine mündliche Verhandlung statt.
In der Beschwerdebegründung wurde auf das Vorliegen eines Vorurteils abgehoben, das den Fachmann angeblich davon abgehalten hätte, Pyrophosphate und Fluoride gemeinsam in einer oralen Zusammensetzung zu verwenden.
Der Beschwerdeführer betonte, die Ansprüche der Teilanmeldung seien auf die Verwendung von Pyrophosphatsalz zur Herstellung einer Zusammensetzung zur Verringerung der Zahnsteinbildung gerichtet. Eine Zusammensetzung, die diese Verwendung nicht offenbare, könne auch nicht neuheitsschädlich sein.
Mit am 8. Mai 1995 beim EPA eingegangenen Schriftsätzen versuchte der Beschwerdeführer später, drei weitere Hilfsanträge in das Verfahren einzuführen. In der mündlichen Verhandlung nahm er den ursprünglichen Hauptantrag zurück, auf dem die Entscheidung der Einspruchsabteilung beruhte. Bei dem neuen Hauptantrag handelte es sich um den Hilfsantrag, dem die Einspruchsabteilung die Neuheit abgesprochen hatte und der dahingehend geändert worden war, daß der Anteil des Zahnschleifmittels mit 10 - 70 Gew.-% spezifiziert wurde.
Der Beschwerdeführer verteidigte den neuen Hauptantrag gegen die von den Beschwerdegegnern erhobenen Einwände nach Artikel 100 c) EPÜ.
IV. Nur einer der Beschwerdegegner bezweifelte die formale Zulässigkeit der neuen Anträge und ermahnte die Kammer, bei Hilfsanträgen Vorsicht walten zu lassen, wenn noch weitere auf ähnliche Gegenstände gerichtete Teilanmeldungen anhängig seien. Er machte ferner geltend, daß der neue Hauptantrag nicht in der ernstzunehmenden Absicht eingereicht worden sei, die Einwände der Einspruchsabteilung auszuräumen.
Einige der Beschwerdegegner argumentierten, daß der neue Hauptantrag sich auf die Verwendung eines nicht näher spezifizierten "löslichen Pyrophosphatsalzes" beziehe und damit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße. Die Passage auf Seite 3, Zeilen 23 bis 26 der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung Nr. 83 303 417.6 beziehe sich auf "Gemische bestimmter Pyrophosphatsalze"; darunter könnten nicht "beliebige aus ... ausgewählte lösliche Pyrophosphatsalze" verstanden werden. Außerdem sei der von Seite 9 auf Seite 10 übergreifende Abschnitt, in dem die brauchbaren Pyrophosphate aufgeführt seien, mit "Di- und Tetraalkalimetallsalze" überschrieben. Schließlich sei darauf hinzuweisen, daß in den genannten Gemischen ausschließlich Dialkalimetallsalze verwendet würden; Tetraalkalimetallsalze hingegen würden niemals allein, sondern nur in Verbindung mit einem Dialkalimetallsalz verwendet.
V. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Verwendung eines löslichen Pyrophosphatsalzes zur Herstellung einer oralen Zusammensetzung in Form einer Zahnpaste zur Verringerung der Bildung von Zahnstein auf dem Zahnschmelz, wobei das lösliche Pyrophosphatsalz in einer Menge verwendet wird, die mindestens 1,5 Gew.-% der Zusammensetzung an Pyrophosphationen (P2O7-4) ergibt, und die Zusammensetzung außerdem einen ph-Wert von 6,0 bis 10,0 aufweist und eine Fluoridionenquelle umfaßt, die mengenmäßig ausreicht, um 50 bis 3500 ppm Fluoridionen und 10 bis 70 Gew.-% eines Zahnschleifmittels zu liefern."
VI. Der Beschwerdeführer beantragte, daß die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufgehoben und das Patent auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 1995 eingereichten Hauptantrags oder aber des ersten, des zweiten oder des dritten Hilfsantrags aufrechterhalten wird, die am 8. Mai 1995 als zweiter, dritter und vierter Hilfsantrag eingereicht worden waren.
Die Beschwerdegegner beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zu klärende Fragen
Entgegen der vom Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung aufgestellten Behauptung bleiben die von den Beschwerdegegnern im Einspruchsverfahren erhobenen Beanstandungen nach Artikel 100 c) EPÜ im Beschwerdeverfahren bestehen, obwohl die Beschwerdegegner keine Beschwerde eingelegt haben. Sie hatten dazu auch keinen Grund, weil das streitige Patent wegen mangelnder Neuheit widerrufen worden war. Die Beschwerdegegner waren also durch die Entscheidung nicht beschwert (Art. 107 EPÜ).
3. Zulässigkeit der Anträge
3.1 Entsprechend der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/91 (ABl. EPA 93, 408, Nr. 18 der Entscheidungsgründe) besteht der Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens darin, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Ein Patentinhaber, der im Einspruchsverfahren unterlegen ist, hat somit das Recht, die zurückgewiesenen Anträge von der Beschwerdekammer erneut prüfen zu lassen.
Will er jedoch andere Anträge prüfen lassen, so liegt es im Ermessen der Beschwerdekammer, sie zum Verfahren zuzulassen; einen Rechtsanspruch hat er darauf nicht. Dieses Ermessen im Beschwerdeverfahren ist gleichzusetzen mit der Vorschrift der Regel 86 (3) EPÜ, daß die Prüfungsabteilung weiteren Änderungen zustimmen muß. Es bedarf allerdings guter Gründe, damit die Kammern dieses Ermessen zugunsten des Patentinhabers ausüben und auch solche Anträge zum Verfahren zulassen, die der Einspruchsabteilung noch nicht vorgelegen haben.
3.2 Bisher sind die Beschwerdekammern in dieser Hinsicht ausgesprochen großzügig verfahren und haben nicht nur solche Anträge des Patentinhabers berücksichtigt, die mit den im Einspruchsverfahren geprüften identisch waren, sondern auch neue Anträge mit vom Umfang her erheblich geänderten Ansprüchen, die unter Umständen ganz andere Streitfragen als die von der Einspruchsabteilung geprüften aufwarfen. Eine entscheidende Rolle hat dabei das Argument gespielt, daß die neuen Anträge für den Patentinhaber oft die letzte Möglichkeit darstellen, doch noch ein Patent für den betreffenden Gegenstand zu erlangen.
3.2.1 Dieses Argument gibt in der Regel nur dann den Ausschlag zugunsten einer Zulassung der Anträge, wenn diese zweifelsfrei erkennen lassen, daß sie die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ (Erweiterungsverbot), des Artikels 84 EPÜ (Klarheit) und nach Möglichkeit auch des Artikels 54 EPÜ (Neuheit) eindeutig erfüllen. Dementsprechend haben bisher die Beschwerdekammern in der Regel geänderte Anträge oder Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren zugelassen, sofern sie in der ernstzunehmenden Absicht gestellt worden waren, Beanstandungen auszuräumen, und außerdem eindeutig gewährbar waren (s. z. B. T 406/86, ABl. EPA 1989, 302, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe; T 295/87, ABl. EPA 1990, 470, Nr. 3 der Entscheidungsgründe; T 127/85, ABl. EPA 1989, 271, Nr. 7.1 der Entscheidungsgründe). Diese Praxis muß jedoch unter Umständen im Licht der neueren Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 9/91, G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) und G 4/93 (siehe Fußnote zu G 9/92, ABl. EPA 1994, 875) überprüft werden.
3.2.2 Eine Beschwerde, mit der versucht wird, die Aufhebung einer Entscheidung über einen der von der Einspruchsabteilung tatsächlich geprüften Anträge auf der Grundlage neuer Anträge zu erreichen, die von der Einspruchsabteilung überhaupt noch nicht untersuchte Fragen beinhalten, entspricht nicht dem von der Großen Beschwerdekammer festgestellten Hauptzweck des Beschwerdeverfahrens. Die einzige Rechtfertigung für die Zulassung verspätet eingereichter Anträge ist in dem Argument zu sehen, der Patentinhaber habe sonst keine Möglichkeit mehr, doch noch ein Patent zu erlangen. Die Kammer ist der Auffassung, daß dieses Argument im vorliegenden Fall nicht greift und sie sich deshalb auf ihre Rolle als Rechtsmittelinstanz beschränken und nur über die bereits von der Einspruchsabteilung geprüften Anträge entscheiden sollte. Sie macht damit von ihrem Ermessen Gebrauch, von der ersten Instanz nicht geprüfte Anträge nicht zum Verfahren zuzulassen.
3.2.3 Die Alternative, nämlich die Anträge zuzulassen, die Sache aber gleichzeitig zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen, kommt im vorliegenden Fall nicht in Frage, weil hier noch Teilanmeldungen zur selben Stammanmeldung anhängig sind, auf die auch das Streitpatent zurückgeht. Der Kammer liegt nicht daran, die Zahl der Verfahren zu erhöhen, in denen die Instanzen des EPA ein und denselben Sachverhalt zu prüfen haben.
3.3 Mit der Entscheidung T 28/92 vom 9. Juni 1994 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) wurde die Beschwerde zum europäischen Stammpatent Nr. 0 097 476 zurückgewiesen und das Patent widerrufen. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 1994 wollte der Beschwerdeführer einen dritten und vierten Hilfsantrag stellen. Diese Kammer ließ die Anträge mit der Begründung nicht zu, daß sie nicht eindeutig gewährbar seien. Außerdem seien ihres Wissens noch mehrere Teilanmeldungen anhängig, die auf Gegenständen beruhten, die dem Stammpatent entnommen oder mit dessen Gegenstand eng ver- wandt seien (s. Nrn. 2.2 und 2.3 der Entscheidungsgründe). Das Streitpatent im vorliegenden Beschwerdefall entstammt einer der in der Entscheidung T 28/92 genannten Teilanmeldungen.
3.4 Zum Zeitpunkt dieser Beschwerde sind noch andere Teilanmeldungen anhängig. Neben den europäischen Patenten Nr. 0 297 211 und Nr. 0 297 212, die Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens sind, sind noch zwei Anmeldungen mit der Nr. 89 111 576.8 und 90 108 274.3 (Veröffentlichungsnr. 345 821 bzw. 395 117) bekannt, die von der ersten Instanz noch geprüft werden. Nach Feststellung der Kammer beziehen sich diese Teilanmeldungen nicht auf klar abgegrenzte Gruppen von Gegenständen. So kommen z. B. Verwendungsansprüche, die denjenigen in der vorliegenden Anmeldung ähneln, auch in der gleichzeitig anhängigen Beschwerde T 98/94 zum europäischen Patent Nr. 0 297 212 als Hilfsanträge vor.
3.5 Nachdem diese anderen Teilanmeldungen noch bestehen, ist die vorliegende Beschwerde keineswegs die letzte Möglichkeit für den Beschwerdeführer, aus dem Untergang des Stammpatents noch etwas zu retten. Da die Teilanmeldungen nicht klar in einzelne Gruppen von Gegenständen aufgeteilt zu sein scheinen, besteht immer noch die Möglichkeit, daß ein Antrag in etwas abgewandelter Form in einer anderen Teilanmeldung wieder auftaucht. Das war auch der Grund, weshalb die Kammer in der Sache T 28/92 beschloß, keine weiteren Hilfsanträge zuzulassen (s. insbesondere Nr. 2.3).
3.6 Dementsprechend hält es die Kammer in der vorliegenden Beschwerdesache für ihre Pflicht, sich auf eine richterliche Überprüfung der in erster Instanz zurückgewiesenen Anträge zu beschränken. Da keiner der Anträge den in der ersten Instanz geprüften entspricht, hat die Kammer beschlossen, sie nicht zum Verfahren zuzulassen.
4. Obwohl das von den Beschwerdegegnern vorgebrachte Argument, wonach die in erster Instanz gestellten Anträge aufgrund des Artikels 100 c) EPÜ nicht gewährbar seien, einiges für sich hat, weil diese Anträge ja im Beschwerdeverfahren zurückgenommen worden sind, sieht die Kammer keine Veranlassung, hierüber förmlich zu entscheiden.
5. Nachdem keine zulässigen, vom Beschwerdeführer eingereichten oder akzeptierten Anträge vorliegen, muß die Beschwerde zurückgewiesen werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.