G 0009/93 (Einspruch der Patentinhaber) 06-07-1994
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Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 223 659, das eine Gepäckraumabdeckung für Kraftfahrzeuge und damit ausgestattete Fahrzeuge zum Gegenstand hat, wurde 1989 erteilt. Die beiden Patentinhaber legten gemäß Artikel 99 EPÜ Einspruch gegen das Patent mit der Begründung ein, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung keine erfinderische Tätigkeit aufweise (Art. 100 a) EPÜ), und beantragten die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem (eingeschränktem) Umfang auf der Grundlage eines neuen Anspruchssatzes. Hinsichtlich der Zulässigkeit dieses gegen das eigene Patent eingelegten Einspruchs verwiesen sie auf die Sache G 1/84 (ABl. EPA 1985, 299), in der die Große Beschwerdekammer entschieden hatte, daß ein Einspruch gegen ein europäisches Patent nicht allein deshalb unzulässig sei, weil er vom Inhaber des Patents eingelegt worden sei. Die Einspruchsabteilung vertrat die Auffassung, daß der Einspruch zwar zulässig, aber nicht ausreichend begründet sei, und verwarf ihn deshalb aufgrund von Artikel 102 (2) EPÜ.
II. Die beiden Patentinhaber legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragten erneut die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang. Die Sache wurde der Beschwerdekammer 3.2.1 zur Bearbeitung zugewiesen (T 788/90, ABl. EPA 1994, 708). In der Zwischenzeit hatte die Große Beschwerdekammer am 31. März 1993 in der Sache G 9/91 eine Entscheidung getroffen und in der Sache G 10/91 eine Stellungnahme abgegeben (ABl. EPA 1993, 408, 420). In der Begründung zu dieser Entscheidung und dieser Stellungnahme äußerte die Große Beschwerdekammer Zweifel an der Richtigkeit der der Entscheidung G 1/84 zugrunde liegenden rechtlichen Auslegung des im EPÜ vorgesehenen Einspruchsverfahrens. Unter diesen Umständen stellte sich die Beschwerdekammer 3.2.1 die Frage, ob die in der Sache G 1/84 erlassene Entscheidung in der Frage der Zulässigkeit eines vom Patentinhaber gegen sein eigenes Patent eingelegten Einspruchs weiterhin anwendbar ist.
Da sie dieser Frage grundsätzliche Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ beimaß, legte sie der Großen Beschwerdekammer am 28. Oktober 1993 folgende Rechtsfragen vor:
1. Ist der Einspruch des Inhabers eines europäischen Patents gegen sein eigenes europäisches Patent angesichts der neuen Betrachtungsweise, die die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 zu den grundlegenden Aspekten des Einspruchsverfahrens formuliert hat, zulässig?
2. Wenn ja, hängt die Befugnis der Beschwerdekammer in einem solchen Fall davon ab, in welchem Umfang in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde?
III. Auf eine Aufforderung zur Stellungnahme hin, die die Große Beschwerdekammer nach Artikel 11a ihrer Verfahrensordnung an den Präsidenten des EPA gerichtet hatte, äußerte sich dieser mit Schreiben vom 30. März 1994 zu den der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen. Er vertrat darin die Auffassung, daß der Einspruch des Inhabers eines europäischen Patents gegen sein eigenes Patent angesichts der neuen Betrachtungsweise, die die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 zu den grundlegenden Aspekten des Einspruchsverfahrens formuliert hat, zulässig sei.
VI. Die beiden Inhaber des Streitpatents haben weder zu den der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen noch zur Äußerung des Präsidenten des EPA Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
1. Wie der Begründung der Vorlageentscheidung (vgl. T 788/90, Nr. 2, 3 und 4) zu entnehmen ist, hat die Beschwerdekammer 3.2.1 festgestellt, daß in den Entscheidungen in den Sachen G 9/91 und G 10/91 einerseits und G 1/84 andererseits in der Frage der Zulässigkeit eines vom Patentinhaber gegen sein eigenes Patent eingelegten Einspruchs voneinander völlig verschiedene Auffassungen bezüglich des Grundkonzepts des im EPÜ verankerten Einspruchsverfahrens vertreten werden. Dies trifft durchaus zu. In der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 ist nämlich die Große Beschwerdekammer - anders als in der Entscheidung G 1/84 - der Ansicht, daß das gemäß dem EPÜ der Erteilung nachgeschaltete Einspruchsverfahren aufgrund dieser seiner besonderen Natur als Streitverfahren zwischen in der Regel gegenteilige Interessen vertretenden Parteien und somit als zweiseitiges Verfahren anzusehen sei. Diese Auffassung entspricht offensichtlich nicht der in der Entscheidung G 1/84 geäußerten Vorstellung, daß das Einspruchsverfahren auch von Amts wegen durchgeführt werden könne (einseitiges Verfahren). Unter diesen Umständen ist die von der Beschwerdekammer 3.2.1 gestellte Frage als durchaus berechtigt anzusehen und zu prüfen, ob die Entscheidung G 1/84 über die Zulässigkeit eines vom Patentinhaber gegen sein eigenes Patent eingelegten Einspruchs weiterhin gültig ist.
2. Die Große Beschwerdekammer in ihrer jetzigen Besetzung hält an der in den Entscheidungen G 9/91 und G 10/91 zum Einspruchsverfahren formulierten Betrachtungsweise fest. Sie hat jedoch untersucht, ob es für den Einspruch des Patentinhabers gegen sein eigenes Patent eine Rechtsgrundlage im EPÜ gibt, wie in der Entscheidung G 1/84 behauptet wird. Für die Beantwortung dieser Frage ist natürlich die Auslegung des Artikels 99 EPÜ von ausschlaggebender Bedeutung.
3. Wie der Begründung der Entscheidung G 1/84 zu entnehmen ist, hatte die Große Beschwerdekammer die Auffassung vertreten, daß der in Artikel 99 (1) EPÜ gebrauchte Begriff "jedermann" ("any person", "toute personne") den Patentinhaber nicht ausschließe, so daß also dieser gegen sein eigenes Patent gemäß Artikel 99 EPÜ Einspruch einlegen dürfe (vgl. insbesondere Nr. 3 und 6). Die Kammer in ihrer jetzigen Besetzung kann sich dieser Auslegung nicht anschließen. Natürlich hat der Begriff "jedermann" für sich genommen die Bedeutung von "irgend jemand". Für die Auslegung von Begriffen, die in Rechtstexten wie dem EPÜ verwendet werden, gilt jedoch, daß sie im Gesamtzusammenhang des betreffenden Textes und im Lichte seines Zieles und Zweckes zu sehen sind.
Nach Ansicht der Kammer in ihrer jetzigen Besetzung kann angesichts einer solchen Betrachtungsweise des in Teil V des EPÜ vorgesehenen Einspruchsverfahrens und insbesondere unter Berücksichtigung seines Zweckes und seiner besonderen Natur der in Artikel 99 (1) EPÜ gebrauchte Ausdruck "jedermann" vernünftigerweise nur als Bezugnahme auf die Öffentlichkeit ausgelegt werden, der Gelegenheit gegeben werden soll, die Gültigkeit des betreffenden Patents anzufechten. Den Patentinhaber in diesen Begriff einzuschließen, würde wohl zu weit gehen. Nach Auffassung der Kammer in der jetzigen Besetzung ist bei der Abfassung der Bestimmungen des Teils V des EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung eindeutig davon ausgegangen worden, daß Einsprechender und Patentinhaber verschiedene Personen sind und daß es sich beim Einspruchsverfahren immer um ein streitiges Verfahren handelt (vgl. insbesondere Art. 99 (4) und 101 (2) EPÜ sowie R. 57 EPÜ). So ist sie heute - anders als in der Entscheidung G 1/84 - der Auffassung, daß der Patentinhaber nicht unter den in Artikel 99 (1) EPÜ verwendeten Begriff "jedermann" fällt und daher nicht berechtigt ist, aufgrund dieser Bestimmung Einspruch gegen sein eigenes Patent einzulegen. Infolgedessen darf die mit der Entscheidung G 1/84 begründete Rechtsprechung nicht mehr angewandt werden.
4. Darüber hinaus hat die Große Beschwerdekammer noch folgende Bemerkungen zu den beiden in der Begründung der Entscheidung G 1/84 untersuchten Fragen.
4.1 Bei Prüfung der Frage nach der Zulässigkeit eines vom Patentinhaber gegen sein eigenes Patent eingelegten Einspruchs hat die mit der Sache G 1/84 befaßte Große Beschwerdekammer berücksichtigt, daß das EPÜ - im Gegensatz zu dem im übrigen noch nicht in Kraft getretenen Gemeinschaftspatentübereinkommen (GPÜ) - dem Patentinhaber nicht erlaubt, eine Beschränkung seines Patents zu beantragen. Da demnach der Inhaber eines europäischen Patents sein Patent im Einspruchsverfahren nicht einschränken könne, blieben ihm - so die Kammer - nur die im nationalen Recht gegebenenfalls vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten, was zwangsläufig mit Rechtsunsicherheit, Zeitverlust und Mehrkosten verbunden sei. Selbst wenn dies zuträfe, wären diese Nachteile nach Auffassung der Kammer in der jetzigen Besetzung nicht so schwerwiegend, daß sie die Nichtanwendung des Artikels 99 EPÜ rechtfertigen würden. Sollte man darin allerdings eine Quelle größerer Probleme sehen, so wäre es vielmehr Sache des Gesetzgebers, hier Abhilfe zu schaffen.
4.2 In der Begründung der Entscheidung G 1/84 betont die Große Beschwerdekammer, daß das EPÜ ausführliche Bestimmungen über die Sachprüfung und den Einspruch enthält, die sicherstellen sollen, daß - soweit dies in der Macht des Europäischen Patentamts steht - nur rechtsgültige europäische Patente erteilt und aufrechterhalten werden (vgl. Nr. 3 und 6). In seiner Stellungnahme weist der Präsident des EPA auf diese Überlegungen hin. Selbstverständlich will die jetzige Kammer keineswegs daran rütteln, daß das EPA darauf bedacht sein muß, nur Patente zu erteilen und aufrechtzuerhalten, die auch Bestand haben. Die Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen, müssen sich aber - wie die Große Beschwerdekammer in dem ähnlich gelagerten Fall G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346) festgestellt hat - im Rahmen allgemein anerkannter Verfahrensgrundsätze halten, wenn nicht schwerwiegende Gründe für eine Ausnahmeregelung vorliegen (Nr. 10.3 der Entscheidungsgründe). Dasselbe gilt für die Auslegung des EPÜ. Die jetzige Kammer ist der Auffassung, daß das angestrebte Ziel, nämlich nur rechtsgültige Patente zu erteilen und aufrechtzuerhalten, nicht als rechtliche Handhabe für eine Auslegung des Artikels 99 EPÜ dienen darf, wonach auch der Patentinhaber gegen sein eigenes Patent Einspruch einlegen kann.
5. Dementsprechend ist die erste der der Großen Beschwerdekammer hier vorgelegten Fragen zu verneinen. Auf die zweite Frage braucht deshalb nicht mehr eingegangen zu werden.
6. Die Große Beschwerdekammer weist darauf hin, daß sie hier erstmals eine von ihr in einer früheren Entscheidung formulierte Auslegung des EPÜ zu modifizieren hatte. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Abkehr auf Fälle beschränkt bleiben muß, in denen - wie hier - offensichtliche Gründe gegen ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung sprechen.
6.1 Grundsätzlich impliziert jede Auslegung des EPÜ durch die Große Beschwerdekammer, daß die Rechtsprechung sich in jedem Fall an diese Auslegung hält. Insbesondere bei reinen Verfahrensfragen kann es jedoch unter Umständen gerechtfertigt sein, das so ausgelegte Recht aus Gründen der Billigkeit nicht auf die schwebenden Verfahren anzuwenden. In den derzeit beim EPA anhängigen Fällen, in denen auf die seit Jahren geltende Entscheidung G 1/84 verwiesen wird, hatten die Patentinhaber allen Grund zu der Annahme, daß ihr Einspruch als zulässig erachtet würde. Nach Auffassung der Kammer in der jetzigen Besetzung wäre es unbillig, sie jetzt an der Fortsetzung eines Verfahrens zu hindern, das sie in gutem Glauben angestrengt haben und durch das im übrigen die Rechte Dritter nicht verletzt werden. Die nunmehr getroffene Entscheidung der Großen Beschwerdekammer, wonach entgegen der früheren Auslegung des EPÜ ein vom Patentinhaber gegen sein eigenes Patent eingelegter Einspruch unzulässig ist, sollte daher nicht auf Einsprüche angewandt werden, die vor Bekanntmachung dieser Entscheidung eingelegt worden sind.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die erste der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage wird wie folgt beantwortet:
Der Einspruch des Patentinhabers gegen sein eigenes europäisches Patent ist nicht zulässig.