T 0315/03 (Genetisch manipulierte Tiere/HARVARD) 06-07-2004
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British Union for the Abolition of Vivisection
Bundesverband der Tierversuchsgegner et al
Ökologisch - Demokratische Partei
Büchner Reinhard
Meinel A. et al; Fraktion Bündnis 90
Fuchs U. et al
Fraktion Bündnis 90/ DIE GRÜNEN im Bayer. Landtag
I. Die Regeln 23b bis 23e EPÜ sind auf Fälle anzuwenden, die wie der vorliegende an dem Tag anhängig waren, als diese Regeln wie vom Gesetzgeber vorgesehen in Kraft traten (Nr. 5 der Entscheidungsgründe).
II.1 Eine Erfindung, die in eine der vier in Regel 23d a) bis d) EPÜ genannten Kategorien fällt, ist ipso facto nach Artikel 53 a) EPÜ von der Patentierung auszuschließen, ohne dass dieser Artikel weiter berücksichtigt zu werden braucht; eine Erfindung dagegen, die nicht in eine der vier Kategorien fällt, erfordert eine weitere Prüfung nach Artikel 53 a) EPÜ (s. Nr. 6 der Entscheidungsgründe).
II.2 Somit führt Regel 23d d) EPÜ in den Fällen, die von ihr betroffen sind, zu einem Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ (einem "sich eigentlich auf Regel 23d EPÜ beziehenden" Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ), der je nach Sachlage und somit je nach Ausgang des Tests entweder zusätzlich oder alternativ zu einem Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ als solchem (einem "echten" Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ), so wie er in der Rechtsprechung verankert ist, hinzutritt (s. Nrn. 6 und 10.1 der Entscheidungsgründe).
III. Regel 23d d) EPÜ ist weder ultra vires noch verstößt sie gegen den Grundsatz der engen Auslegung von Ausnahmen oder gegen das frühere Recht (s. Nr. 7 der Entscheidungsgründe).
IV. Die Prüfung eines "sich eigentlich auf Regel 23d EPÜ beziehenden" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ hat zum Anmelde- oder Prioritätstag des Streitpatents oder der Streitanmeldung zu erfolgen. Danach bekannt werdendes Beweismaterial kann berücksichtigt werden, sofern es sich auf die Sachlage an diesem Tag bezieht (s. Nrn. 8.2, 9.5 und 9.6 der Entscheidungsgründe).
V.1 Der Test nach Regel 23d d) EPÜ erfordert die Beurteilung von lediglich drei Aspekten: Leiden der Tiere, medizinischer Nutzen und die erforderliche Korrelation zwischen beiden in Bezug auf die betroffenen Tiere (s. Nr. 9.1 der Entscheidungsgründe).
V.2 Der Beweismaßstab, der für das Leiden der Tiere und den wesentlichen medizinischen Nutzen anzulegen ist, ist derselbe, nämlich die Wahrscheinlichkeit (s. Nrn. 9.2 und 9.3 der Entscheidungsgründe).
VI.1 Bei der Prüfung eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ stellt eine einzelne z. B. auf wirtschaftlichen oder religiösen Grundsätzen beruhende Definition der guten Sitten keine allgemein anerkannte Norm des europäischen Kulturkreises dar. In Meinungsumfragen erhobene Daten sind aus den in T 356/93 angeführten Gründen als Beweismaterial von sehr begrenztem Wert (s. Nrn. 10.1 bis 10.4 der Entscheidungsgründe).
VI.2 In Fällen, die die Veränderung von Tieren betreffen, bietet sich der Test nach T 19/90 an. Dieser unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem Test nach Regel 23d d) EPÜ, insbesondere dadurch, dass er die Berücksichtigung weiterer Aspekte neben dem Leiden der Tiere und dem medizinischen Nutzen zulässt (s. Nrn. 10.5 und 10.6 der Entscheidungsgründe).
VI.3 Da der Test nach T 19/90 nur die "wesentliche" Grundlage der Beurteilung bildet, können zusätzlich noch andere Argumente, die auf die geeignete Norm für die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung abstellen, berücksichtigt werden, doch müssen alle Argumente durch Beweismittel gestützt werden (s. Nrn. 10.7 und 10.8 der Entscheidungsgründe).
VI.4 Die Prüfung eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ erfolgt zum Anmelde- oder Prioritätstag; danach bekannt werdendes Beweismaterial kann berücksichtigt werden, sofern es sich auf die Sachlage an diesem Tag bezieht (s. Nr. 10.9 der Entscheidungsgründe).
VII.1 Bei einer Beurteilung nach Artikel 53 b) EPÜ sollte der in G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) mit Bezug auf Pflanzen und "Pflanzensorten" aufgestellte Grundsatz auch bei Tieren gelten: ein Patent kann nicht für eine einzelne Tierart (oder Tiervarietät oder Tierrasse, je nachdem, welche sprachliche Fassung des EPÜ verwendet wird), wohl aber dann erteilt werden, wenn Tierarten unter den Anspruch fallen können (s. Nr. 11.4 der Entscheidungsgründe).
VII.2 Die Definition von Tierart (oder Tiervarietät oder Tierrasse) anhand des taxonomischen Rangs stünde im Einklang mit dem bei Pflanzensorten verfolgten Ansatz und wäre im Interesse der Rechtssicherheit, weil dann nach Artikel 53 b) EPÜ in der Auslegung gemäß Regel 23c b) beurteilt werden könnte, ob die technische Ausführbarkeit einer Erfindung nicht auf eine bestimmte Tierart (oder Varietät oder Rasse) beschränkt ist (s. Nrn. 11.5 und 11.6 der Entscheidungsgründe).
VII.3 Die verschiedenen Begriffe, die in den einzelnen Sprachen verwendet werden, sind unstimmig und stehen für unterschiedliche taxonomische Kategorien. Eine strenge Befolgung des Artikels 177 (1) EPÜ würde daher zu dem absurden Ergebnis führen, dass der Ausgang eines Einwands nach Artikel 53 b) EPÜ von der jeweiligen Verfahrenssprache abhinge, wobei die deutsche Fassung, die mit dem Begriff "Tierarten" von der höchsten taxonomischen Kategorie ausgeht, den breitesten Einwand zuließe (s. Nrn. 11.1, 11.2 und 11.7 der Entscheidungsgründe).
Verfahren zur Schaffung genetisch manipulierter Tiere - Verstoß gegen Regel 23d d) EPÜ (bejaht)
Verfahren zur Schaffung genetisch manipulierter Mäuse - Verstoß gegen Regel 23d d) EPÜ (verneint) oder Artikel 53 a) EPÜ (verneint) oder Artikel 53 b) EPÜ (verneint)
Bisheriger Verfahrensverlauf
I. Die Beschwerden betreffen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 16. Januar 2003, das europäische Patent Nr. 0169672 ("das Patent") in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten. Das Patent basiert auf der europäischen Patentanmeldung Nr. 85304490.7 mit der Bezeichnung "Verfahren zur Schaffung genetisch manipulierter Tiere", die am 24. Juni 1985 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 22. Juni 1984 eingereicht wurde. Obwohl in der Erfindungsbezeichnung und in früheren Fassungen der Ansprüche von Tieren die Rede ist, sind nur Mäuse als Ausführungsformen offenbart, und der Patentgegenstand ist unter dem Begriff "Krebsmaus" bekannt geworden. Der Einfachheit halber wird dieser Begriff, der schon von den Beteiligten im Verfahren gebraucht wurde, auch in der vorliegenden Entscheidung zur Benennung des Gegenstands verwendet.
II. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthielt unter anderem unabhängige Ansprüche, die auf Folgendes gerichtet waren:
"1. Verfahren zur Erzeugung eines transgenen eukaryotischen Tiers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, bei dem eine aktivierte Onkogen-Sequenz in ein Tierembryo eingeschleust wird."
"17. Transgenes nichtmenschliches eukaryotisches Tier, dessen Keim- und somatische Zellen eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, die im Embryonalstadium in dieses Tier oder einen seiner Vorfahren eingeschleust worden ist, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist und das Tier vorzugsweise ein Nager ist."
III. Die Prüfungsabteilung hatte die Anmeldung nach Artikel 53 b) EPÜ, der die Patentierung von Tierarten verbietet, und nach Artikel 83 EPÜ zurückgewiesen, weil nicht anzunehmen sei, dass sich die einzigen in der Anmeldung beschriebenen Beispiele, nämlich Mäuse, auf alle anderen Tiere übertragen ließen. Die Prüfungsabteilung hatte ferner eine Anwendung des Artikels 53 a) EPÜ erwogen, wonach keine Patente auf Erfindungen erteilt werden, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, war aber zu dem Schluss gelangt, dass das Patentrecht zur Lösung der sich daraus ergebenden potenziellen Probleme ungeeignet sei. In der zurückgewiesenen Fassung der Anmeldung lauteten die oben zitierten Ansprüche wie folgt:
"1. Verfahren zur Erzeugung eines transgenen nichtmenschlichen Säugers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, bei dem spätestens im Achtzellenstadium eine aktivierte Onkogen-Sequenz in einen nichtmenschlichen Säuger eingeschleust wird."
"17. Transgener nichtmenschlicher Säuger, dessen Keim- und somatische Zellen eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, die spätestens im Achtzellenstadium in dieses Tier oder einen seiner Vorfahren eingeschleust worden ist, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist.
18. Tier nach Anspruch 17, das ein Nager ist."
IV. Der Anmelder legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. In diesem früheren Beschwerdeverfahren entschied die Kammer am 3. Oktober 1990 (T 19/90, ABl. EPA 1990, 476), dass Artikel 53 b) EPÜ für bestimmte Gruppen von Tieren, jedoch nicht für Tiere an sich gelte und mangels ernsthafter, durch nachprüfbare Fakten erhärteter Zweifel keine Veranlassung bestehe, die Anmeldung nach Artikel 83 EPÜ mit der Begründung zurückzuweisen, dass sie eine Verallgemeinerung von Mäusen im Besonderen auf Säuger im Allgemeinen enthalte. Was Artikel 53 a) EPÜ betrifft, vertrat die Kammer die Auffassung, dass insbesondere in Fällen wie dem vorliegenden, bei denen es um die Genmanipulation von Tieren durch Einschleusung eines aktivierten Onkogens gehe, eine Berücksichtigung dieses Artikels aus zwingenden Gründen geboten sei. Die Kammer verwies die Sache zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurück.
V. Nach einer weiteren Verhandlung vor der Prüfungsabteilung wurde das Patent am 13. Mai 1992 mit folgenden unabhängigen Ansprüchen erteilt:
"1. Verfahren zur Erzeugung eines transgenen nichtmenschlichen Säugers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, das den chromosomalen Einbau einer aktivierten Onkogen-Sequenz in das Genom eines nichtmenschlichen Säugers umfasst."
"19. Transgener nichtmenschlicher Säuger, dessen Keim- und somatische Zellen als Ergebnis eines chromosomalen Einbaus in das Genom des Tieres oder das eines seiner Vorfahren eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist."
"23. Chromosom eines Tieres nach Anspruch 19, das ein nach einem der Ansprüche 3 bis 10 definiertes Onkogen umfasst."
"25. Zelle, die aus einer somatischen Zelle eines nach einem der Ansprüche 19 bis 22 definierten transgenen nichtmenschlichen Säugers gewonnen wurde."
VI. Zwischen 18. Dezember 1992 und 13. Februar 1993 wurden gegen das Patent siebzehn Einsprüche eingelegt, die sich jeweils auf mehrere verschiedene Einspruchsgründe nach den Artikeln 100 a) und 52 bis 57 EPÜ stützten, so unter anderem darauf, dass die Erfindung nicht gewerblich anwendbar, nicht neu und nicht erfinderisch sei, keine patentfähige Erfindung darstelle, ein nicht patentierbares Verfahren zur Behandlung des tierischen Körpers betreffe, ihre Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoße und das Patent auf Tierarten gerichtet sei.
Einwände wurden auch wegen unzureichender Offenbarung nach den Artikeln 100 b) und 83 EPÜ erhoben (von den Einsprechenden 4, 6 und 8 bis 15).
VII. 1) Der Vertreter der Einsprechenden 4, einer Gruppe aus einer Privatperson (R. Büchner), einem eingetragenen Verein ("Tierschutzverein Göppingen") und einem nicht eingetragenen Verein von vierzehn Privatpersonen (Initiative "Kein Patent auf Leben"), teilte dem EPA mit Schreiben vom 12. Mai 1995 mit, dass der nicht eingetragene Verein nicht mehr existiere, wesentliche Teile seines Honorars ausstünden und er deswegen darum ersuche, den Einspruch seiner Mandantschaft als zurückgezogen zu betrachten. Obwohl der Einsprechenden spätere Mitteilungen noch zugestellt wurden, spielte sie im weiteren Verfahren keine Rolle mehr.
2) Die Einsprechende 5, eine Fraktion im Sächsischen Landtag, existiert nicht mehr, wobei diese Tatsache erst mit Schreiben vom 5. Februar 2003 nach Zustellung der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung mitgeteilt wurde. In diesem Schreiben wird erklärt, dass die Rechtsstellung der Fraktion nach der Landtagswahl 1994 entfallen und die infolgedessen eingeleitete Liquidation abgeschlossen sei; der Zeitpunkt der Liquidation ist nicht genannt.
3) Die Einsprechende 9, das Bundesland Hessen, erklärte in einem am 19. April 2000 eingegangenen Schreiben die Rücknahme des Einspruchs.
VIII. Das Einspruchsverfahren wurde bis 16. Januar 2003 fortgesetzt. Mündliche Verhandlungen vor der Einspruchsabteilung fanden vom 21. bis 24. November 1995 und erneut am 6. und 7. November 2001 statt. Die Einspruchsabteilung wies in ihrer Entscheidung die Einwände des Patentinhabers gegen die Zulässigkeit der Einsprüche ebenso zurück wie alle von den Einsprechenden gegen das Patent erhobenen Einwände bis auf diejenigen nach Artikel 53 a) EPÜ. Sie befand, dass die auf nichtmenschliche Säuger gerichteten Ansprüche nach diesem Artikel nicht gewährbar seien, und erhielt das Patent in geändertem Umfang aufrecht, und zwar mit den auf Nager gerichteten unabhängigen Ansprüchen gemäß dem vierten Hilfsantrag des Patentinhabers vom 4. April 1997. Die Einspruchsabteilung befand in ihrer Entscheidung ferner, dass die Regeln 23b bis 23e EPÜ auf den vorliegenden Fall anzuwenden seien, und wies gegenteilige Vorbringen, die sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes beriefen, zurück; einen in der ersten mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, alle Mitglieder der Einspruchsabteilung wegen Befangenheit abzulehnen, wies sie als Verfahrensmissbrauch zurück; ebenfalls zurückgewiesen wurden die Anträge des Patentinhabers und der Einsprechenden 1, 8 und 10 bis 15 auf Übernahme der Kosten für die zweite mündliche Verhandlung durch das EPA.
IX. Die unabhängigen Ansprüche in der durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung des Patents lauteten wie folgt:
"1. Verfahren zur Erzeugung eines transgenen Nagers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, das den chromosomalen Einbau einer aktivierten Onkogen-Sequenz in das Genom eines Nagers umfasst."
"19. Transgener Nager, dessen Keim- und somatische Zellen als Ergebnis eines chromosomalen Einbaus in das Genom des Tieres oder das eines seiner Vorfahren eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist."
"22. Chromosom eines Tieres nach Anspruch 19, das ein nach einem der Ansprüche 3 bis 10 definiertes Onkogen umfasst."
"25. Zelle, die aus einer somatischen Zelle eines nach einem der Ansprüche 19 bis 21 definierten transgenen Tieres gewonnen wurde."
Beschwerdeverfahren
X. Die Entscheidung vom 16. Januar 2003 wurde von folgenden Beteiligten angefochten: Eine der beiden als Einsprechende 1 auftretenden juristischen Personen legte am 25. März 2003 Beschwerde ein, zahlte am 26. März 2003 die Beschwerdegebühr und reichte am 23. März 2003 eine Beschwerdebegründung ein. Die Einsprechende 2 zahlte am 11. März 2003 die Beschwerdegebühr und reichte am 13. März 2003 eine Beschwerdeschrift mit einer Begründung ein. Die Einsprechenden 8, 12, 13 und 15 legten am 26. März 2003 Beschwerde ein und entrichteten die Beschwerdegebühren und übermittelten am 26. Mai 2003 ihre Beschwerdebegründungen. Diese Einsprechenden, die Beschwerde eingelegt haben, werden nachfolgend als Beschwerdeführer 1 bis 6 bezeichnet. Die übrigen Einsprechenden, die keine Beschwerde einlegten, waren gemäß Artikel 107 EPÜ am Beschwerdeverfahren beteiligt; außer der Einsprechenden 3, die an der mündlichen Verhandlung teilnahm, spielte jedoch keine von ihnen eine Rolle im Beschwerdeverfahren.
[Die Nummern XI bis XIV fassen die Mitteilungen der Kammer an die Verfahrensbeteiligten und deren Erwiderungen zusammen.]
XV. Am 5. und 6. Juli 2004 fand eine mündliche Verhandlung statt, bei der die Beschwerdeführer 3 bis 6, der Beschwerdegegner und die Einsprechende 3 die ganze Zeit über zugegen waren. Die Beschwerdeführerin 1 nahm entgegen ihrer ursprünglichen Absicht aus Kostengründen nicht an der mündlichen Verhandlung teil, übermittelte aber mit Fax vom 2. Juli 2004, in dem sie die Kammer über ihr Fernbleiben unterrichtete, ein weiteres schriftliches Vorbringen als Reaktion auf die Erwiderung des Beschwerdegegners und bat darum, dieses im Verfahren zuzulassen. Die Kammer verteilte Abschriften dieses Vorbringens an die in der mündlichen Verhandlung anwesenden Beteiligten. Die Beschwerdeführer 2 nahmen am 5. Juli 2004 an der mündlichen Verhandlung teil, verließen diese aber ohne eine Mitteilung oder Erklärung am Nachmittag des ersten Tages und kehrten nicht mehr zurück. Die übrigen Beteiligten, die der Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung fernblieben, hatten dies weder angekündigt noch begründet.
XVI. 1) Zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 5. Juli 2004 reichte der Beschwerdegegner einen neuen Haupt- und einen neuen ersten und dritten Hilfsantrag ein, wobei es sich bei dem neuen dritten Hilfsantrag um den früheren fünften Hilfsantrag handelte, den der Beschwerdegegner mit seiner Erwiderung vom 2. April 2004 eingereicht hatte; alle früheren Anträge bis auf den zweiten Hilfsantrag zog er zurück. Der neue Hauptantrag des Beschwerdegegners enthielt dieselben Ansprüche wie der Antrag, dem die Einspruchsabteilung stattgegeben hatte (s. vorstehend Nr. IX), nicht jedoch die auf ein Chromosom und eine Zelle gerichteten Ansprüche. Der neue erste Hilfsantrag war mit dem früheren, zusammen mit der Erwiderung eingereichten dritten Hilfsantrag identisch, allerdings waren auch hier als Reaktion auf die Mitteilung der Kammer vom 17. Mai 2004 (s. vorstehend Nr. XIII) der auf ein Chromosom und der auf eine Zelle gerichtete Anspruch gestrichen.
2) Im Verlauf der mündlichen Verhandlung reichte der Beschwerdegegner am 6. Juli 2004 eine leicht geänderte Fassung des ersten Hilfsantrags ein, in der "Tier" überall durch "transgene Maus" ersetzt war und bestimmte abhängige Ansprüche neu nummeriert waren, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein auf ein Plasmid gerichteter unabhängiger Anspruch nun inmitten der von Anspruch 1 abhängigen Verfahrensansprüche stand; gleichzeitig reichte er eine geänderte Beschreibung ein.
3) Die unabhängigen Ansprüche 1 und 19 des vom Beschwerdegegner am 6. Juli 2004 eingereichten ersten Hilfsantrags lauteten wie folgt:
"1. Verfahren zur Erzeugung einer transgenen Maus mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, das den chromosomalen Einbau einer aktivierten Onkogen-Sequenz in das Genom einer Maus umfasst."
"19. Transgene Maus, deren Keim- und somatische Zellen als Ergebnis eines chromosomalen Einbaus in das Genom des Tieres oder das eines seiner Vorfahren eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist."
4) Der zweite und dritte Hilfsantrag des Beschwerdegegners beschränkten sich auf Ansprüche, die auf die Verwendung eines transgenen Nagers (zweiter Hilfsantrag) bzw. einer transgenen Maus (dritter Hilfsantrag) zu Versuchszwecken und auf Verfahren zum Testen von Stoffen gerichtet waren, denen ein transgener Nager bzw. eine transgene Maus ausgesetzt werden.
XVII. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:
(1) Jaenisch, R. und Mintz, B., Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Bd. 71, Nr. 4, 1974, S. 1250 - 1254
(28) Vorschlag für eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 1993 (in Deutsch)
(29) Vorschlag für eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 1993 (in neun Sprachen) und die Entschließung vom 11. Februar 1993 (in Deutsch)
(47) Ekins, S. et al., Br. J. Clin. Pharmacol., Bd. 36, 1993, S. 165 - 166
(48) Long, B. et al., Br. J. Cancer, Bd. 65, 1992, S. 865 - 869
(49) Ming Liang Li et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Bd. 84, 1987, S. 136 - 140
(81) Erklärung von Dr. L. Hennighausen vom 6. September 2001
(82) Erklärung von Dr. P. Leder vom 6. September 2001
(83) Erklärung von Dr. R. Pitman vom 6. September 2001
sowie die folgenden Anlagen zu Dokument (82):
(A1) Pupa, S. M. et al., Gene Ther., Bd. 8, 2001, S. 75 - 79
(A2) Gyorffy, S. et al., J. Immunol., Bd. 166, 2001, S. 6212 - 6217
(A3) Crane, P. D. et al., J. Nucl. Med., Bd. 36, Nr.10, 1995, S. 1862 - 1868
(A4) Chen G. et al., Int. J. Immunopharmacol., Bd. 18, 1996, S. 251 - 258
[Unter den Nummern XVIII bis XXXV sind die Vorbringen der Beteiligten wiedergegeben, die, wo es angebracht ist, am Beginn des jeweiligen Abschnitts der "Entscheidungsgründe" zusammengefasst sind.]
Anträge
[Anträge, auf die in der gekürzten Entscheidungsbegründung nicht eingegangen wird, wurden hier weggelassen.]
XXXVI. Alle Beschwerdeführer beantragten (die Beschwerdeführer 1 und 2 schriftlich) die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
XXXVII. Der Beschwerdegegner beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hauptantrags und hilfsweise auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 3.
1. Einführung
1.1 Im Mittelpunkt dieses Falls steht ein sehr kleines Tier, nämlich eine Maus oder - um mit den Worten des Dichters zu sprechen - ein "klein, furchtsam Tierchen" (R. Burns, "An eine Maus", 1785). Abgesehen davon ist der Fall jedoch alles andere als klein. Er hat etliche Verfahrensbeteiligte beschäftigt, die eine Vielzahl von Argumenten ins Feld geführt haben. Daher ist es vielleicht hilfreich, der Entscheidungsbegründung eine kurze Erläuterung der von der Kammer verfolgten Strategie voranzustellen. Als Erstes befasst sich die Kammer mit der Zulässigkeit der Einsprüche und Beschwerden (Nrn. 2 und 3), dann geht sie auf einige generelle Fragen zu Artikel 53 a) und b) EPÜ ein (Nrn. 4 bis 11). Wie aus der Zusammenfassung des Vorbringens der Beteiligten (s. vorstehend Nrn. XXIV bis XXXIV) ersichtlich, geht es im vorliegenden Fall hauptsächlich um diese Artikel. Im Anschluss daran widmet sich die Kammer der Anwendung des Rechts - sowohl des Artikels 53 a) und b) EPÜ als auch anderer Vorschriften - auf die Anträge des Patentinhabers (Nrn. 12 und 13). Abschließend wendet sie sich den Anträgen auf Befassung der Großen Beschwerdekammer und auf Kostenübernahme durch das EPA zu (Nrn. 14 und 15).
1.2 Die mit Bezug auf Artikel 53 a) und b) EPÜ generell zu klärenden Fragen werden in der folgenden Reihenfolge behandelt: Als Erstes gilt es zu klären, worum es in diesem Fall nicht geht, denn so lässt sich die Unmenge der angeblich den Artikel 53 a) EPÜ betreffenden Argumente (s. vorstehend Nrn. XXIV bis XXXI) auf die tatsächlich relevanten Punkte reduzieren (s. nachstehend Nr. 4).
1.3 Als Zweites sind dann verschiedene Fragen zu den Regeln 23b bis 23e EPÜ zu beantworten, und zwar in folgender Reihenfolge:
a) Zunächst ist zu klären, ob diese Regeln und insbesondere Regel 23d EPÜ überhaupt auf diesen Fall anzuwenden sind (s. nachstehend Nr. 5). Falls ja, so ergeben sich die folgenden weiteren Punkte b bis e:
b) das Verhältnis zwischen Regel 23d d) EPÜ und Artikel 53 a) EPÜ (s. Nr. 6),
c) die Frage, ob Regel 23d EPÜ, wie vom Patentinhaber behauptet, nicht mit der früheren Rechtsprechung zu Artikel 53 a) EPÜ in Einklang steht (s. Nr. 7),
d) der Zeitpunkt, zu dem die Erfordernisse nach Regel 23d EPÜ zu prüfen sind (s. Nr. 8),
e) die Beweise, die bei dieser Prüfung berücksichtigt werden können (s. Nr. 9).
1.4 Drittens ist die Anwendung des Artikels 53 a) EPÜ losgelöst von Regel 23d d) EPÜ zu betrachten. Diese Regel stellt, wie aus ihrem Wortlaut erkennbar und im Folgenden näher erläutert ist, eine "Sonderanwendung" des Artikels 53 a) EPÜ dar, die eine völlig andere faktische und rechtliche Analyse erfordert als die Anwendung des Artikels 53 a) EPÜ allein (s. nachstehend Nr. 10).
1.5 Der vierte und letzte generelle Punkt betrifft Artikel 53 b) EPÜ, und auch hier wird es eine Rolle spielen, ob die Regeln 23b bis 23e EPÜ auf den Fall anzuwenden sind (s. Nr. 11).
[Die Nummern 2 und 3 der Entscheidungsgründe betreffen die Zulässigkeit der Einsprüche und der Beschwerden.]
4. Irrelevante Aspekte
4.1 Viele der von den Beschwerdeführern zu Artikel 53 a) EPÜ vorgebrachten Argumente betrafen Aspekte, die mit dem vorliegenden Fall gar nichts zu tun haben. Zu nennen ist hier in erster Linie die Interpretation - oder vielmehr die Fehlinterpretation - des EPÜ durch bestimmte Beschwerdeführer. So argumentierte die Beschwerdeführerin 1 sinngemäß (s. vorstehend Nr. XXIV.4), dass es in Artikel 53 a) EPÜ sowohl darum gehe, ob die Patentierung gegen die guten Sitten verstößt, als auch darum, ob die Verwertung der Erfindung dagegen verstößt. Der Beschwerdeführer 2 brachte vor (s. vorstehend Nr. XXV.4), dass es eine einfache Frage zu beantworten gelte, nämlich die, "ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt" - was nur heißen kann, ob das streitgegenständliche Patent gegen 'die guten Sitten' verstößt -, und er ließ keinen Zweifel daran, dass die Antwort auf diese Frage "Ja" lauten müsse. Die Beschwerdeführer 3 bis 6 schließlich argumentierten, wie bereits erwähnt (s. vorstehend Nrn. XXVI bis XXIX), dass die Patentierung von Tieren nicht erlaubt sein sollte, d. h., auch sie gingen eindeutig davon aus, dass Artikel 53 a) EPÜ die Frage betrifft, ob die Patentierung gegen die guten Sitten verstößt. Dem kann sich die Kammer nicht anschließen. Der Wortlaut des Artikels 53 a) EPÜ ist eindeutig:
"Europäische Patente werden nicht erteilt für: a) Erfindungen, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde; ..."
4.2 Nach Auffassung der Kammer können die Worte "gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen" nur auf "Veröffentlichung oder Verwertung" bezogen werden. Dasselbe gilt für den Wortlaut in den anderen Amtssprachen. Artikel 53 a) EPÜ wirft also nicht die Frage auf, ob die Patentierung einer bestimmten Erfindung oder diese Erfindung als solche gegen die guten Sitten verstößt. Dies ist natürlich auch auf die konkrete, ein Tier betreffende Erfindung des Streitpatents anwendbar: Hier geht es weder darum, ob die genetische Veränderung einer Maus oder die auf diese Weise erzeugte Krebsmaus gegen die guten Sitten verstößt, noch darum, ob die Patentierung der Krebsmaus oder des Verfahrens zur genetischen Veränderung gegen die guten Sitten verstößt, sondern allein darum, ob die Veröffentlichung oder Verwertung der Krebsmaus bzw. des Verfahrens gegen die guten Sitten verstößt. Dasselbe gilt natürlich für die öffentliche Ordnung: Entscheidend ist, ob die Veröffentlichung oder Verwertung der Erfindung (in diesem Fall also die der Krebsmaus oder des Verfahrens zu ihrer Erzeugung) gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Dass es in Artikel 53 a) EPÜ allein darum geht, ob die Veröffentlichung oder Verwertung gegen die guten Sitten verstößt, wird durch die Erwähnung der öffentlichen Ordnung noch bekräftigt, denn weder das Erfinden selbst (das per definitionem unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen muss, wenn die Möglichkeit einer Patentierung gewahrt werden soll) noch der Vorgang der Patentierung einer Erfindung (der sich in einem Patentamt vollzieht) können als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung angesehen werden. Da die Begriffe der "guten Sitten" und der "öffentlichen Ordnung" in Artikel 53 a) EPÜ ein und denselben Bezug zum übrigen Wortlaut des Artikels haben, müssen beide in derselben Weise behandelt werden, und beide beziehen sich ganz klar ausschließlich auf die "Veröffentlichung oder Verwertung".
4.3 Zweitens geht es im vorliegenden Fall nicht - wie von den Beschwerdeführern 3 bis 6 vorgebracht - um "die Frage der Patentierung von Tieren" oder darum, "ob Tiere nach dem EPÜ patentierbar sind" (s. vorstehend Nrn. XXVI.1 und 2, XXVII.1 und XXVIII.1). Die Beantwortung dieser Frage kann nach dem geltenden Wortlaut des EPÜ gar nicht in die Zuständigkeit eines erstinstanzlichen Organs oder der Beschwerdekammern fallen. Das EPÜ enthält eine Reihe eindeutiger, grundlegender Bestimmungen zur Patentierbarkeit. Erstens gilt der fundamentale Grundsatz, dass Erfindungen patentierbar sind, wenn sie drei Kriterien erfüllen: Neuheit, erfinderische Tätigkeit und gewerbliche Anwendbarkeit (Art. 52 (1), 54 bis 57 EPÜ). Wie die Formulierung "Patente werden ... erteilt" eindeutig belegt, wird dabei prima facie von einer Patentierbarkeit ausgegangen. Zweitens werden bestimmte Kategorien von Gegenständen (z. B. ästhetische Formschöpfungen) nicht als Erfindungen angesehen; diese werden mitunter als Ausschlüsse von der Patentierbarkeit bezeichnet (Art. 52 (2) und (3) EPÜ). Drittens sind einige andere Kategorien von Gegenständen, obwohl sie anerkanntermaßen Erfindungscharakter haben können, vom Patentschutz ausgenommen, weswegen sie auch als Ausnahmen von der Patentierbarkeit bezeichnet werden (Art. 53 EPÜ).
4.4 Je nach moralischer, sozialer oder sonstiger Überzeugung mögen dem Betrachter die Kategorien der Ausschlüsse und Ausnahmen akzeptabel oder inakzeptabel, idealistisch oder überholt, liberal oder konservativ erscheinen. Der ausdrückliche Wortlaut einiger dieser Kategorien bietet sicher einen gewissen Auslegungsspielraum bei der exakten Begrenzung der jeweiligen Kategorie, doch innerhalb dieses Auslegungsspielraums ist das Recht eindeutig: Es gibt keine vom Patentschutz ausgeschlossene oder ausgenommene Kategorie von "Tieren im Allgemeinen". Die einzigen Bestimmungen zu Patenten auf oder betreffend Tiere finden sich in Artikel 53 EPÜ. Im zweiten Teil dieses Artikels (Art. 53 b) EPÜ) werden "Tierarten" vom Patentschutz ausgenommen, und wenngleich dieser Begriff sicher der Interpretation bedarf (die Kammer kommt später unter Nr. 11 darauf zurück), können damit - selbst bei oberflächlichster Analyse - nicht Tiere im Allgemeinen gemeint sein. Der erste Teil des Artikels (Art. 53 a) EPÜ) verwehrt Erfindungen, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, den Patentschutz und kann je nach Auslegung, die die bestehende Rechtsprechung und das sekundäre Recht bereits reichlich liefern, dazu herangezogen werden, um die Erteilung eines Patents auf eine Erfindung zu verhindern, die Tieren Leiden verursacht, ohne dieses durch einen entsprechenden Nutzen aufzuwiegen. Abgesehen von diesen beiden Bestimmungen werden Fälle, in denen es um die Patentierung von Tieren geht, genauso behandelt wie andere Fälle. Im vorliegenden Fall geht es daher nicht, wie von den Beschwerdeführern 3 bis 6 vorgebracht, um die Patentierbarkeit von Tieren, sondern darum, ob die Patentierung der konkreten, hier behandelten "Tiererfindung" nach dem EPÜ zulässig ist, und wenn ja, in welcher Breite diese Erfindung beansprucht werden kann.
4.5 Drittens ist in diesem Zusammenhang klarzustellen, dass der in den beiden vorstehenden Absätzen beschriebene Standpunkt - wiederum im Gegensatz zum Vorbringen der Beschwerdeführer 3 bis 6 - seit Inkrafttreten des EPÜ Bestand hat. Als Beispiel für einen eine Lebensform betreffenden Fall führte der Beschwerdegegner die Entscheidung T 320/87 (ABl. EPA 1990, 71) an und berief sich auf die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ, um zu belegen, dass Patente auf Lebensformen bei der Ausgestaltung des EPÜ von Anfang an als Möglichkeit in Betracht gezogen wurden. Die Behauptung der Beschwerdeführer 3 bis 6, dass das Übereinkommen die Patentierung von Tieren vor der Einführung der Regeln 23b bis 23e EPÜ ausgeschlossen habe, ist schlichtweg falsch. Die Aufnahme dieser Regeln in das Übereinkommen mag für manchen Beteiligten bestürzend und/oder wenig hilfreich gewesen sein (wobei die Kammer anmerkt, dass diese Regeln nach Dafürhalten beider Seiten auf den vorliegenden Fall keine Anwendung finden sollten; s. nachstehend Nr. 5), aber zu behaupten, durch diese Regeln sei das EPÜ von einem System, unter dem Tiere nicht patentiert werden konnten, zu einem System geworden, unter dem Tiere patentiert werden können oder dürfen, ist ganz einfach falsch, und wer so etwas unterstellt, hat die einschlägige Rechtsgeschichte missverstanden.
4.6 Eine vierte und letzte Anmerkung in diesem Abschnitt betrifft das Vorbringen der Beschwerdeführer 2, es werde nicht dargetan, dass die Meinung der vier Mitglieder der Einspruchsabteilung repräsentativ sei (für - so vermutet die Kammer - die Gesellschaft in Europa; s. nachstehend Nr. 10.2). Die Kammer stimmt mit dem Beschwerdegegner darin überein, dass die Einspruchsabteilung nicht verpflichtet war, dergleichen darzutun. Es war nicht Aufgabe der Einspruchsabteilung, sich eine eigene Meinung zu bilden und dann auf irgendeine Weise zu belegen, dass diese repräsentativ für eine größere Gruppe ist. Sie hatte vielmehr zu beurteilen, ob die Verwertung der Erfindung mit den allgemein anerkannten Verhaltensnormen der europäischen Gesellschaft in Einklang steht (s. T 356/93, ABl. EPA 1995, 545, Nr. 6 der Entscheidungsgründe), und diese Entscheidung hatte sie, wie alle Entscheidungen zwischen gegnerischen Parteien, ausschließlich anhand des ihr von den Beteiligten zur Stützung der Argumentation vorgelegten Beweismaterials und ohne Rücksicht auf persönliche Überzeugungen zu treffen. Ebenso hat nun die Kammer die Aufgabe, anhand des in der ersten Instanz vorgelegten Beweismaterials und weiterer, im Beschwerdeverfahren zugelassener Beweismittel zu entscheiden, ob dies in der erstinstanzlichen Entscheidung richtig beurteilt wurde. Welcher Überzeugung die Mitglieder der Einspruchsabteilung (bzw. der Kammer) tatsächlich sind, ist irrelevant.
4.7 In Anbetracht der obigen Ausführungen braucht auf folgende Argumente der Beschwerdeführer nicht weiter eingegangen zu werden: auf die Vorbringen, dass Artikel 53 a) EPÜ die Frage betreffe, ob die Patentierung gegen die guten Sitten verstoße (s. vorstehend Nr. XXIV.4), dass nicht nachgewiesen worden sei, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung repräsentativ ist, und dass Artikel 53 a) EPÜ die Frage aufwerfe, "ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt" (s. vorstehend Nr. XXV.1 und 4); auf das unter den vorstehenden Nummern XXVI.1 und 2 wiedergegebene gemeinsame Vorbringen der Beschwerdeführer 3 bis 6, soweit es nicht die Anwendbarkeit der Regeln 23b bis 23e EPÜ auf den vorliegenden Fall betrifft, und auf das gesamte von den Beschwerdeführern 3 und 6 getrennt vorgetragene Vorbringen (s. vorstehend Nrn. XXVII und XXIX). Die Kammer bezweifelt nicht, dass die Beteiligten die vorgetragenen Standpunkte aufrichtig vertreten, die Argumente gehen jedoch an den in diesem Verfahren zu klärenden Fragen vorbei.
5. Anwendbarkeit der Regeln 23b bis 23e EPÜ
5.1 Es ist zu entscheiden, ob die Regeln 23b bis 23e EPÜ (die "neuen Regeln") auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind; wenn - wie von der Einspruchsabteilung entschieden - ja, müssen sie sich nämlich auf die Auslegung des Artikels 53 a) und b) EPÜ auswirken. Sämtliche zu diesem Punkt vorgebrachten Argumente beschränkten sich auf die Regeln 23c und 23d EPÜ, doch müssen die Regeln 23b bis 23e EPÜ als "Paket" betrachtet werden, weil sie zusammen bekannt gemacht wurden (durch den Beschluss des Verwaltungsrats vom 16. Juni 1999), zusammen in Kraft getreten sind (am 1. September 1999, s. ABl. EPA 1999, 437 ff.), mit der Richtlinie 98/44/EG einen gemeinsamen Ursprung haben, zusammen ein Kapitel in der Ausführungsordnung zum EPÜ bilden und alle denselben Zweck verfolgen, der in Regel 23b (1) EPÜ genannt ist:
"Für europäische Patentanmeldungen und Patente, die biotechnologische Erfindungen zum Gegenstand haben, sind die maßgebenden Bestimmungen des Übereinkommens in Übereinstimmung mit den Vorschriften dieses Kapitels anzuwenden und auszulegen."
Die Kammer weist darauf hin, dass aus diesem Satz klar hervorgeht, dass die einzige Funktion der neuen Regeln darin besteht, Vorschriften für die Anwendung und Auslegung bereits vorhandener Bestimmungen des EPÜ zu liefern. Dadurch werden die vorstehend und nachstehend dargelegten Standpunkte der Kammer bekräftigt, nämlich dass das System im Hinblick auf die Patentierung von Tieren durch die neuen Regeln nicht vollständig geändert wurde (s. Nr. 4.5) und dass mit den neuen Regeln keine rückwirkenden Patenthindernisse geschaffen wurden (s. Nrn. 5.9 und 5.10).
5.2 Der Inhalt der neuen Regeln dürfte keinen Zweifel daran lassen, dass sie auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind. Nach Regel 23b (1) EPÜ gelten die neuen Regeln für "Patentanmeldungen und Patente, die biotechnologische Erfindungen zum Gegenstand haben". In Regel 23b (2) EPÜ sind "biotechnologische Erfindungen" definiert als "Erfindungen, die ein Erzeugnis, das aus biologischem Material besteht oder dieses enthält, oder ein Verfahren, mit dem biologisches Material hergestellt, bearbeitet oder verwendet wird, zum Gegenstand haben". "Biologisches Material" wiederum ist in Regel 23b (3) EPÜ definiert als "jedes Material, das genetische Informationen enthält und sich selbst reproduzieren oder in einem biologischen System reproduziert werden kann". Es steht außer Frage, dass jedes Tier aus einem Material besteht, das genetische Informationen enthält und sich selbst reproduzieren kann. Ein Tier ist somit im Sinne der Regel 23b (2) EPÜ ein Erzeugnis, das aus biologischem Material besteht. Also betrifft der vorliegende Fall eine biotechnologische Erfindung, was auch keiner der Beteiligten bestritten hat. Die neuen Regeln sind demzufolge prima facie auf diesen Fall anzuwenden, es sei denn, eines der dagegen vorgebrachten Argumente ist stichhaltig.
5.3 Von den am Beschwerdeverfahren Beteiligten räumte nur die Beschwerdeführerin 1 ein, dass die Einspruchsabteilung die Regel 23d d) EPÜ (die einzige neue Regel, auf die diese Beschwerdeführerin einging) zu Recht auf den vorliegenden Fall angewandt habe, wenngleich sie mit der Art und Weise der Anwendung nicht einverstanden war. Die Beschwerdeführer 2 brachten diesbezüglich nichts vor. Die Einsprechende 3 bestritt die Anwendbarkeit der neuen Regeln zwar nicht ausdrücklich, gebrauchte jedoch in der mündlichen Verhandlung mehrmals die Formulierung "wenn Regel 23d anzuwenden ist " und verwandte einen Großteil ihres späteren Vorbringens zu Artikel 53 a) EPÜ darauf, die Wirkung dieser Regel zu hinterfragen. Die Kammer schließt daraus, dass die Einsprechende 3 im Zweifelsfall dafür plädieren würde, dass die neuen Regeln nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind.
5.4 Die Beschwerdeführer 3 bis 6 und der Beschwerdegegner bildeten eine unheilige Allianz gegen die Anwendbarkeit der neuen Regeln auf den vorliegenden Fall, wobei ihre Beweggründe ganz unterschiedliche waren. Die Beschwerdeführer 3 bis 6 sahen in den neuen Regeln eine grundsätzliche Änderung des EPÜ mit dem Ziel, die Patentierung von Tieren mit rückwirkender wie zukünftiger Wirkung zuzulassen. Sie brachten vor, dass derart gravierende Änderungen im EPÜ selbst und nicht in der Ausführungsordnung vorgenommen werden sollten. Sie monierten ebenso wie der Beschwerdegegner die Verzögerungen im Einspruchsverfahren und unterstellten zumindest indirekt - da ihrer Meinung nach die Patentierung von Tieren erst durch die Einführung der neuen Regeln möglich geworden sei und nur von sehr wenigen Interessensgruppen einschließlich des EPA gewünscht werde -, dass man das Verfahren absichtlich verschleppt habe, um die neuen Regeln auf den vorliegenden Fall anwenden zu können.
5.5 Der Beschwerdegegner vertrat einen differenzierteren Standpunkt und brachte zwei Argumente vor: ein dreigeteiltes und eine einfachere Alternative (die er selber als "Caveat" bezeichnete). Das Hauptvorbringen lautete wie folgt: Erstens habe Regel 23d EPÜ durch die Einführung des Konzepts eines "wesentlichen medizinischen Nutzens" zu einer bis dato unvorhersehbaren Änderung in der Auslegung des Artikels 53 a) EPÜ geführt, zweitens sei diese Änderung des Rechts während eines sich über sechs Jahre hinziehenden Einspruchsverfahrens und damit zu einem Zeitpunkt eingeführt worden, als das Verfahren bereits hätte abgeschlossen sein sollen, und drittens habe diese Änderung den Ausgang des Einspruchsverfahrens in unbilliger Weise beeinflusst. Damit machte er zumindest implizit geltend, dass die neuen Regeln rückwirkende Kraft hätten. Demgegenüber argumentierte er in seinem einfacheren, alternativen Vorbringen (dem sog. Caveat), dass es vertretbar scheine, wenn Regel 23d EPÜ lediglich der Erläuterung des Artikels 53 a) EPÜ diene (woraus die Kammer schließt, dass der Beschwerdegegner die Anwendung dieser Regel und damit aller neuen Regeln auf den vorliegenden Fall akzeptieren würde, wenn dies lediglich zum Zwecke der "Erläuterung" geschehen würde; s. nachstehend Nr. 5.7).
5.6 Die Frage der Anwendbarkeit der neuen Regeln ist von Fragen ihrer Auslegung zu trennen und vorab zu beantworten. Dabei kann die Frage, ob die Anwendung der neuen Regeln der Billigkeit entspricht, nicht unter dem Aspekt ihrer Wirkung beurteilt werden, denn mit Blick auf die Wirkung über die Anwendbarkeit zu entscheiden, würde bedeuten, dass man die Auslegung der Anwendbarkeit voranstellt. Vor allem aber kann die Entscheidung über die Anwendbarkeit nicht von den Auswirkungen auf den konkreten Einzelfall einer Partei abhängig gemacht werden. Hierüber ist nicht subjektiv, sondern objektiv zu entscheiden. Daraus folgt, dass Vorbringen, die auf die Auswirkungen der neuen Regeln (oder einer davon, z. B. der Regel 23d EPÜ) auf den konkreten Einzelfall einer Partei abstellen, zurückzuweisen sind.
5.7 Das Vorbringen der Beschwerdeführer 3 bis 6, durch die neuen Regeln sei das Recht so geändert worden, dass erstmals die Patentierung von Tieren möglich geworden sei (eine Behauptung, die nicht nur verblüffend, sondern auch verblüffend falsch ist), hat die Kammer bereits widerlegt (s. vorstehend Nr. 4.5). Nicht nur, dass dieses Vorbringen rechtsgeschichtlich eindeutig falsch ist; es gelten zu lassen, würde zudem bedeuten, die neuen Regeln aus dem subjektiven Grund nicht anzuwenden, dass sie bestimmten Beteiligten nicht zugute kämen. Auch kann das alternative Vorbringen des Beschwerdegegners (das sog. Caveat), wonach Regel 23d EPÜ anwendbar sein möge, wenn sie nur der "Erläuterung" des Artikels 53 a) EPÜ diene, nur als Einrede aufgefasst werden. Da der Beschwerdegegner nachdrücklich argumentiert hat, dass Regel 23d d) EPÜ nicht enger ausgelegt werden sollte als der Test nach T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476; s. nachstehend Nr. 7.1), kann sein alternatives Vorbringen nur so verstanden werden, dass er die Anwendbarkeit der Regel 23d EPÜ akzeptieren würde, wenn sie Artikel 53 a) EPÜ in dem Sinne "erläutern" würde, dass er dasselbe bedeutet wie der Test nach T 19/90. Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet das alternative Vorbringen des Beschwerdegegners also: "Ich akzeptiere die durch Regel 23d EPÜ herbeigeführte Änderung, wenn sich dadurch an der bisherigen Rechtsauslegung nichts ändert." Dieser Argumentation zu folgen, würde somit wiederum bedeuten, dass man die Anwendbarkeit der neuen Regeln von einem subjektiven Grund abhängig macht, der auf den Auswirkungen für einen bestimmten Beteiligten beruht. Die Kammer könnte in der Frage der Anwendbarkeit der neuen Regeln die Einrede der Unbilligkeit gelten lassen, die Einrede der "Unbilligkeit, wenn zu meinem Nachteil" muss sie jedoch außer Acht lassen.
5.8 Was das Vorbringen der Beschwerdeführer 3 bis 6 angeht, dass so gravierende Änderungen, wie sie mit den neuen Regeln eingeführt wurden, im EPÜ selbst und nicht in der Ausführungsordnung vorgenommen werden sollten, so kann die Kammer keine Rechtsgrundlage für dieses Anliegen erkennen, und die Beschwerdeführer haben auch keinen Rechtsgrundsatz und keine Rechtsvorschrift zur Stützung angeführt. Laut Artikel 164 (2) EPÜ geht im Fall mangelnder Übereinstimmung zwischen dem EPÜ und der Ausführungsordnung das EPÜ vor. Somit würde sich Artikel 164 (2) EPÜ bei mangelnder Übereinstimmung zwar auf die Anwendung der neuen Regeln auswirken, Einfluss darauf, wie Änderungen im Recht vorgenommen werden - ob durch geänderte Artikel im EPÜ und/oder durch eine geänderte Ausführungsordnung -, hat er aber nicht und kann er auch nicht haben. Mangels einer diesbezüglichen Vorschrift sind die Beschwerdekammern im Rahmen ihrer derzeitigen Zuständigkeit auch nicht befugt, hierüber zu urteilen. Zuständig sind sie unter anderem dafür, das EPÜ, und zwar sowohl die durch eine Konferenz der Vertragsstaaten erlassenen Artikel als auch die vom Verwaltungsrat erlassenen Regeln, auszulegen, und sie müssen dafür zuständig sein, die Umsetzung falsch erlassener Rechtsvorschriften (die z. B. von einer unzureichenden Zahl von Vertragsstaaten oder Delegationen im Verwaltungsrat verabschiedet wurden) abzulehnen bzw. diese für ungültig zu erklären, weil sonst Parteien durch "Rechtsvorschriften" benachteiligt werden könnten, die de facto gar nicht existieren. In die Zuständigkeit der Kammern fällt auch die Anwendung des Artikels 164 (2) EPÜ, d. h., sie können die Umsetzung einer Regel, die im Widerspruch zu einem Artikel steht, verhindern. Nichts davon verleiht ihnen jedoch irgendeine - ausdrückliche oder zwangsläufig implizite - Befugnis, die Umsetzung ordnungsgemäß erlassener Rechtsvorschriften zu verhindern, und was den Erlass von Rechtsvorschriften angeht, so entscheidet allein der Gesetzgeber, ob dies in Form von Artikeln oder von Ausführungsvorschriften geschieht.
5.9 Als mögliche Gründe, die neuen Regeln auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden, verbleiben somit nur die auf die Verzögerungen abstellenden Vorbringen. In der Tat hat es im Einspruchsverfahren katastrophale Verzögerungen gegeben, die alle Beteiligten schwer belastet haben. Die Kammer wird darauf noch zurückkommen (siehe Nr. 15). Je länger sich ein Verfahren hinzieht, desto eher ist es natürlich der Auswirkung von neuen Vorschriften oder neuen Entwicklungen in der Rechtsprechung ausgesetzt, die sich in dieser Zeit ergeben, und da Rechtssicherheit erstrebenswert ist und die Beteiligten in der Lage sein sollten, ein Verfahren mit möglichst genauen Vorstellungen über dessen Ausgang einzuleiten, sind ihnen solche Änderungen der Rechtsvorschriften verständlicherweise nicht willkommen. Gesetzgeber und Gerichte können jedoch ihre Tätigkeit selbst für die Dauer des kürzesten Verfahrens nicht aussetzen, weil dadurch notwendige Gesetzgebungen verzögert würden und immer nur jeweils ein Fall behandelt werden könnte. Neue Rechtsvorschriften sind daher in der Regel auch auf anhängige Fälle anwendbar, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen ist. Zu diesem Grundsatz gibt es ein Pendant, nämlich dass neue Rechtsvorschriften normalerweise nicht rückwirkend anwendbar sind, und damit auf der früheren Rechtslage beruhende Interessen geschützt sind, wird eine Rückwirkung gerichtlich nur dann anerkannt, wenn sie ausdrücklich vorgesehen ist. Für die neuen Regeln hat der Gesetzgeber keinerlei ausdrückliche Vorkehrungen getroffen - weder wurden anhängige Fälle von der Wirkung ausgenommen noch wurde eine Rückwirkung vorgesehen.
5.10 Die Beschwerdeführer 3 bis 6 und der Beschwerdegegner stellen die Wirkung der neuen Regeln somit zu Unrecht als rückwirkend dar - die neuen Regeln hatten keine wie auch immer geartete Auswirkung auf abgeschlossene Verfahren. Dass sie in Kraft traten, während der vorliegende Fall anhängig war, ist zweifelsohne richtig, doch wäre die Situation auch dann keine andere, wenn das Einspruchsverfahren erst im Jahr oder selbst in der Woche vor Inkrafttreten der neuen Regeln eingeleitet worden wäre. In solchen Fällen kann man sicherlich keine Ausnahme machen, die darin bestünde, die neuen Regeln auf Grund der Verzögerungen nicht anzuwenden, wie groß müsste dann aber die Verzögerung sein, um eine solche Ausnahme zu rechtfertigen? Das Gesagte macht deutlich, was sich der Kammer relativ leicht erschlossen hat, nämlich dass für die Klage der Beteiligten eigentlich nicht die neuen Regeln ursächlich sind, die ja ohne Ausnahme auf jeden einzelnen Fall anzuwenden waren, der zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens zufällig anhängig war, sondern die Verzögerung selbst, über die sich die Beteiligten völlig zu Recht beschweren.
5.11 Die Kammer stimmt ferner mit der Einspruchsabteilung darin überein, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes hier nicht greift. Wenn bestimmte Fälle zur Wahrung des Vertrauensschutzes von einer Änderung in den Rechtsvorschriften ausgenommen werden sollen, so wird dies explizit geregelt. Die Große Beschwerdekammer hat z. B. in drei Fällen bei einer Änderung der früheren Rechtsvorschriften bzw. der früheren Praxis Ausnahmen gemacht, um Ungerechtigkeiten für Parteien zu vermeiden, die im Vertrauen auf das frühere Recht bzw. die frühere Praxis ein Verfahren eingeleitet hatten (G 5/88, ABl. EPA 1991, 137; G 5/93, ABl. EPA 1994, 447 und G 9/93, ABl. EPA 1994, 891). Schon die Tatsache, dass dies in so wenigen Fällen geschehen ist, zeigt erstens, dass anhängige Fälle üblicherweise nicht ausgenommen werden, und zweitens, dass solche seltenen Ausnahmen eigentlich für alle anhängigen Fälle gelten sollten.
5.12 Zusammenfassend stellt die Kammer ohne Bedenken fest, dass die neuen Regeln auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind, da - wie immer bei Rechtsänderungen - die Anwendung der neuen Regeln an dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Tag verbindlich wurde und das Einspruchsverfahren an diesem Tag anhängig war. Dass es zu diesem Zeitpunkt schon seit vielen Jahren anhängig war, rechtfertigt zwar den Unmut, ist aber kein Grund, den vorliegenden Fall von der Anwendbarkeit der neuen Regeln auszunehmen.
6. Artikel 53 a) und Regel 23d d) EPÜ
6.1 Die Anwendung der neuen Regeln auf den vorliegenden Fall bedeutet, dass im Hinblick auf Artikel 53 a) EPÜ die Regel 23d d) EPÜ zu berücksichtigen ist. Der relevante Teil dieser Regel lautet:
"Nach Artikel 53 Buchstabe a werden europäische Patente insbesondere nicht erteilt für biotechnologische Erfindungen, die zum Gegenstand haben:
d) Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, Leiden dieser Tiere ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier zu verursachen, sowie die mit Hilfe solcher Verfahren erzeugten Tiere." (Hervorhebung durch die Kammer)
Durch den einleitenden Satz, d. h. durch das Wort "insbesondere", wird klargestellt, dass die Regel nicht als erschöpfende Liste vom Patentschutz ausgeschlossener Erfindungen gedacht, sondern vielmehr auf vier Kategorien begrenzt ist - sie soll schlicht verdeutlichen, dass auf Erfindungen, die unter die Buchstaben a, b, c oder d der Regel 23d EPÜ fallen, nach Artikel 53 a) EPÜ keine Patente erteilt werden dürfen. Eine nicht unter diese Regel fallende Erfindung "entgeht" dadurch aber nicht dem Patentierungsverbot des Artikels 53 a) EPÜ: Es kann durchaus biotechnologische Erfindungen geben, die nicht unter die Buchstaben a bis d fallen und auf die dennoch nach Artikel 53 a) EPÜ keine Patente erteilt werden dürfen. Kurz gesagt, eine Erfindung, die in eine der vier Kategorien fällt, ist ipso facto nach Artikel 53 a) EPÜ von der Patentierung auszuschließen, ohne dass dieser Artikel weiter berücksichtigt zu werden braucht; eine Erfindung dagegen, die nicht in eine der vier Kategorien fällt, erfordert eine weitere Prüfung nach Artikel 53 a) EPÜ (s. nachstehend Nr. 10).
6.2 Es ist auf Anhieb ersichtlich, dass Regel 23d d) EPÜ einen Test voraussetzt, um zu beurteilen, ob Verfahren zur genetischen Veränderung von Tieren oder mit Hilfe solcher Verfahren erzeugte Tiere patentierbar sind. Auch die Art dieses Tests ist sofort ersichtlich: Es ist ein "Abwägungstest", bei dem das Leiden der Tiere und der medizinische Nutzen für Menschen oder Tiere gegeneinander abgewogen werden müssen. Völlig klar ist auch, dass dieser Test nur auf Fälle anwendbar ist, in denen ein Leiden der Tiere wahrscheinlich ist. Mit anderen Worten: es muss die Wahrscheinlichkeit bestehen - aber auch nur die Wahrscheinlichkeit -, dass die Tiere leiden, damit Regel 23d d) EPÜ zur Anwendung kommt. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung.
6.3 Insofern, als es sicher biotechnologische Erfindungen gibt, die beim Test nach Regel 23d d) EPÜ "durchfallen" und damit bereits nicht patentierbar sind, während andere derartige Erfindungen den Test "bestehen" und somit einer weiteren Prüfung nach Artikel 53 a) EPÜ zu unterziehen sind, ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin 1 richtig, dass es sich um einen "zweistufigen Test" handelt (s. vorstehend Nr. XXIV.5). Ob man dabei von zwei Stufen ein und desselben Tests oder von zwei getrennten Tests ausgeht, ist relativ unerheblich, wenngleich die Kammer eher zu Letzterem tendiert, wie nachstehend unter Nummer 10 durch die Unterscheidung zwischen Einwänden nach Artikel 53 a) EPÜ, die sich eigentlich auf Regel 23d d) EPÜ beziehen, und "echten" Einwänden nach Artikel 53 a) EPÜ gezeigt wird.
7. Regel 23d d) EPÜ und die Rechtsprechung
7.1 In der Entscheidung T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476, Nr. 5 der Entscheidungsgründe), die die vorliegende Erfindung im Prüfungsstadium betraf, hieß es:
"Die Entscheidung, ob Artikel 53 a) EPÜ der Patentierung der vorliegenden Erfindung entgegensteht, dürfte wesentlich von einer sorgfältigen Abwägung der Leiden der Tiere und einer möglichen Gefährdung der Umwelt einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits abhängen."
Die seinerzeit mit der Beschwerde befasste Kammer traf die wichtige Feststellung, dass Artikel 53 a) EPÜ entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung, deren Entscheidung angefochten worden war, in Fällen wie dem vorliegenden berücksichtigt werden muss. Wie unschwer zu erkennen ist, ähnelt der Abwägungstest in dieser früheren Entscheidung sehr stark dem nunmehr in Regel 23d d) EPÜ verankerten Test. Es kann kaum Zweifel daran geben, dass der Test aus T 19/90 von den Urhebern des Tests nach Regel 23d d) EPÜ übernommen wurde, wenn auch in abgewandelter Form. Bei aller Ähnlichkeit stellt der Test nach T 19/90 aber das Leiden der Tiere nicht dem wesentlichen medizinischen Nutzen für Menschen oder Tiere gegenüber, sondern dem Nutzen für die Menschheit. Es ist ganz klar, dass der "Nutzen für die Menschheit" eine breitere Palette von Nutzeffekten umfassen kann als der "wesentliche medizinische Nutzen", der im Test nach Regel 23d d) EPÜ gefordert ist, und dass somit der Test nach T 19/90 breiter gefasst ist. Ebenso klar gilt umgekehrt, wenn ein "wesentlicher medizinischer Nutzen" festgestellt und somit der Regel 23d d) EPÜ Genüge getan wird, dann ist zwangsläufig auch das Kriterium des "Nutzens für die Menschheit" erfüllt.
7.2 Der Beschwerdegegner sah den Unterschied zwischen dem Test nach Regel 23d d) EPÜ und dem nach T 19/90 als so gravierend an, dass er eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer darüber beantragte, ob die Regel trotz dieses Unterschieds als vertretbare Auslegung des Artikels 53 a) EPÜ gelten könne. In seiner fünften Vorlagefrage formulierte der Beschwerdegegner:
"Verlangt Regel 23d d) EPÜ durch die Bezugnahme auf den "wesentlichen medizinischen Nutzen" einen Test, der über den Inhalt des Artikels 53 a) EPÜ hinausgeht, so wie er ohne Kenntnis dieser Regel interpretiert würde?"
7.3 Die Argumentation des Beschwerdegegners zu diesem Unterschied (s. vorstehend Nrn. XXXI.3, 5 und 6) erscheint der Kammer unnötig kompliziert. Erstens brachte der Beschwerdegegner vor, dass Regel 23d d) EPÜ möglicherweise ultra vires sei, wenn die Sache nicht von der Großen Beschwerdekammer geklärt werde. Wie die Kammer in der mündlichen Verhandlung festgestellt hat, ist die Verwendung des Begriffs "ultra vires" offensichtlich inkorrekt. Verwaltungsakte oder nachgeordnete Rechtsvorschriften sind dann ultra vires, wenn sie den Rahmen einer Bestimmung überschreiten, durch die die Rechtsbefugnis der Personen oder Organe, die diese Verwaltungsakte vornehmen oder die nachgeordneten Rechtsvorschriften erlassen, ausgeschlossen oder begrenzt wird, und somit unwirksam werden. Der Begriff "ultra vires" bezeichnet also eine Überschreitung der Befugnisse. Das ist hier ganz eindeutig nicht der Fall. Die betreffende Rechtsvorschrift, Artikel 53 a) EPÜ, enthält nichts, was ihre spätere Auslegung durch die Rechtsprechung (wie in T 19/90) oder durch Rechtsvorschriften (wie R. 23d d) EPÜ) ausschließt oder begrenzt. Was der Beschwerdegegner vermutlich meinte, war wohl, dass die betreffende Rechtsvorschrift nicht einfach Artikel 53 a) EPÜ sei, sondern der Artikel, wie er in T 19/90 ausgelegt werde. Dies ist nicht nur rechtlich unmöglich - eine Rechtsvorschrift kann nicht mit ihrer Auslegung in der Rechtsprechung kombiniert werden, um eine künstliche Befugnis zu konstruieren, der gegenüber ein Akt oder eine Vorschrift dann als Überschreitung der Befugnis, d. h. ultra vires, eingestuft wird -, es würde zudem, selbst wenn es möglich wäre, keinen Unterschied machen, weil dieses "fiktive Recht" noch immer nichts enthielte, was seine spätere Auslegung ausschließen oder begrenzen würde. Damit etwas ultra vires ist, muss es eine Inkonsistenz geben. Diese gibt es aber nicht: Artikel 53 a) EPÜ in seiner früheren Auslegung durch T 19/90 bleibt von der Regel 23d d) EPÜ unberührt; die Regel nennt lediglich, wie bereits oben erwähnt (s. Nr. 6.1), vier begrenzte Kategorien von Erfindungen, die unter Artikel 53 a) EPÜ fallen. Dies wurde auf vollkommen rechtsgültige Weise, d. h. innerhalb der Befugnisse oder intra vires, erreicht.
7.4 Zweitens brachte der Beschwerdegegner vor, Regel 23d d) EPÜ erweitere das Patentierungsverbot des Artikels 53 a) EPÜ entgegen dem Grundsatz, wonach Ausnahmen eng auszulegen seien, und somit könne es sein, dass Erfindungen, die die Bedingungen des Tests nach T 19/90 erfüllt hätten, nun die des Tests nach Regel 23d d) EPÜ nicht erfüllten. Nach Auffassung der Kammer ist es nur insofern zutreffend, von einer Erweiterung des Ausschlusses nach Artikel 53 a) EPÜ durch die Regel zu sprechen, als die Regel nun vier begrenzte Kategorien von Erfindungen spezifiziert, die unter diesen Artikel fallen. Da jedoch undenkbar ist, dass in eine dieser vier Kategorien fallende Erfindungen nicht schon seit jeher nach Artikel 53 a) EPÜ geprüft worden wären, ist es falsch zu sagen, die neue Regel erweitere den Artikel im Hinblick auf den Ausschluss solcher Erfindungen. Fällt eine Erfindung in eine dieser vier spezifischen Kategorien, so ist ihr der Patentschutz von vornherein zu verweigern; fällt sie nicht in eine dieser Kategorien, so ist sie nach Maßgabe des vor Einführung der neuen Regeln geltenden Rechts zu prüfen. Diese Auffassung ist weder ein Verstoß gegen irgendeinen Grundsatz noch ist sie ultra vires. Die Kammer stimmt zu, dass Ausnahmen im Allgemeinen eng auszulegen sind, doch bedeutet das nicht, dass der Gesetzgeber die Zahl der Ausnahmen nicht erhöhen oder verringern oder, wie im vorliegenden Fall, bestehende Ausnahmen ändern kann, indem er für bestimmte Voraussetzungen ein bestimmtes Resultat spezifiziert. Sowohl die Form der Rechtsvorschrift zu wählen (s. vorstehend Nr. 5.8), als auch deren Geltungsbereich festzulegen, ist allein Sache des Gesetzgebers.
7.5 Drittens und letztens präsentierte der Beschwerdegegner ein Vorbringen in vier Schritten, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Erstens sei T 19/90 vor Einführung der Regel 23d d) EPÜ die einzige maßgebliche Verlautbarung zu Artikel 53 a) EPÜ gewesen - diese Aussage ist richtig in dem Sinne, dass T 19/90 den einzigen Test bzw. die einzige Vorgehensweise für die Prüfung eines Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ enthielt. Zweitens sei in G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) mit Blick auf Artikel 53 b) EPÜ festgestellt worden, dass die neuen Regeln nur der Auslegung dienten - auch diese Aussage ist richtig. Drittens habe die Kammer 3.3.4 in T 272/95 vom 23. Oktober 2002 die neuen Regeln in Anlehnung an die Entscheidung G 1/98 auf Artikel 53 a) EPÜ angewendet, sei dabei jedoch einfach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer gefolgt und habe, das wird zumindest angedeutet, den Sachverhalt nicht eigenständig geprüft. Viertens, so das Fazit, gebe es keine maßgebliche Feststellung, dass Regel 23d d) EPÜ mit Artikel 53 a) EPÜ in Einklang stehe.
7.6 Die Kammer kann sich weder der Argumentation noch dem Fazit anschließen. Während die erste und die zweite Aussage des Beschwerdegegners, wie gesagt, richtig sind, ist es die dritte nicht. Es trifft zu, dass die Kammer 3.3.4 in T 272/95 der Entscheidung G 1/98 gefolgt ist, als sie feststellte, dass die neuen Regeln lediglich der Auslegung des Artikels 53 EPÜ dienen, doch war von ihr auch nichts anderes zu erwarten, als dass sie dem Ansatz der Großen Beschwerdekammer folgt, denn Sinn und Zweck von deren Entscheidungen ist es, den Kammern und anderen in Rechtsfragen eine Richtschnur an die Hand zu geben ("Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung" - s. Art. 112 (1) EPÜ). Im Übrigen ist die Andeutung, die Kammer 3.3.4 habe keine unabhängige Beurteilung abgegeben, falsch, denn Nummer 5 der Entscheidungsgründe in T 272/95 beginnt mit den Worten:
"Gemäß Artikel 164 (2) EPÜ muss die Kammer prüfen, ob die neuen Regeln insoweit, als sie Artikel 53 a) EPÜ betreffen, mit diesem Artikel in Einklang stehen."
Wie bereits erwähnt (s. Nr. 5.8), besagt Artikel 164 (2) EPÜ, dass im Fall mangelnder Übereinstimmung zwischen dem EPÜ und der Ausführungsordnung das EPÜ vorgeht. Es liegt also auf der Hand, dass sich die Kammer 3.3.4 in der Entscheidung T 272/95 die Frage stellte, ob die neuen Regeln mit Artikel 53 a) EPÜ in Einklang stehen, und da sie sich, wie nicht anders zu erwarten, auf die vorhandenen Empfehlungen der Großen Beschwerdekammer stützte, kam sie zu dem Schluss, dass diese Frage zu bejahen ist. Das Fazit des Beschwerdegegners, dass es in dieser Frage keine maßgebliche Feststellung gebe, war somit schlichtweg falsch.
7.7 Das Verhältnis zwischen Regel 23d d) EPÜ und der früheren Rechtsprechung lässt sich wie folgt zusammenfassen: In der einleitenden Bestimmung der neuen Regeln, d. h. in Regel 23b (1) EPÜ heißt es, dass diese Regeln auslegenden Charakter haben (s. vorstehend Nr. 5.1). Dasselbe besagt auch die maßgebliche Feststellung in der ständigen Rechtsprechung (s. vorstehenden Absatz). Aus den oben dargelegten Gründen lässt die Kammer keines der dagegen vorgebrachten Argumente gelten. Diese Auslegung bewirkt in den Fällen, die wie der hier vorliegende von Regel 23d d) EPÜ betroffen sind, die Einführung eines Tests, der je nach Sachlage und somit je nach Ausgang des Tests entweder zusätzlich oder alternativ zu dem in der bisherigen Rechtsprechung verankerten hinzutritt.
8. Zeitpunkt für die Durchführung des Tests nach Regel 23d d) EPÜ
8.1 Sowohl die Beschwerdeführerin 1 als auch der Beschwerdegegner waren der Meinung, dass für den Test nach Regel 23d d) EPÜ - wie für alle Patentierbarkeitskriterien - das wirksame Datum (also je nachdem der Anmelde- oder der Prioritätstag) des betreffenden Patents bzw. der Patentanmeldung maßgeblich sein müsste. Während jedoch der Beschwerdegegner auch das Beweismaterial, das berücksichtigt werden kann, auf das am wirksamen Datum verfügbare beschränken wollte, war die Beschwerdeführerin 1 dafür, dass nach diesem Datum bekannt werdendes Beweismaterial ebenfalls zulässig sein sollte. Die Beschwerdeführer 5 und die Einsprechende 3 waren der Auffassung, das geeignete Datum für eine solche Beurteilung sei der Tag der Entscheidung in diesem Verfahren, und begründeten das ausdrücklich damit, dass dann auch nach dem wirksamen Datum bekannt werdendes, aber sich nicht auf die Situation am wirksamen Datum beziehendes Beweismaterial in Betracht gezogen werden könne.
8.2 Die Kammer hat keine Bedenken festzustellen, dass der Tag dieser Beurteilung, wie bei allen Patentierbarkeitskriterien, das wirksame Datum des Patents oder der Patentanmeldung (also je nachdem der Anmelde- oder der Prioritätstag) sein sollte. Ein späteres Datum, wie von den Beschwerdeführern 5 und der Einsprechenden 3 befürwortet, wäre unvereinbar mit anderen Bereichen des Patentrechts und würde zu ungerechtfertigten Unterscheidungen zwischen ansonsten ähnlichen Fällen führen. In der Tat lassen sich alle Argumente, die für eine Beurteilung am wirksamen Datum sprechen, mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit begründen: Eine Beurteilung zum Anmelde- oder Prioritätstag bedeutet, dass alle Fälle gleich behandelt werden. Eine Beurteilung zum Tag der endgültigen Entscheidung in einem Verfahren dagegen würde die Beteiligten dazu verleiten, das Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren zu verzögern, in der Hoffnung, dass noch Beweismittel dafür oder dagegen auftauchen, sie würde eine verspätete Einreichung von Beweismitteln begünstigen und könnte den Ausgang einer Sache von der Verfahrenslänge abhängig machen.
9. Regel 23d d) EPÜ und Beweise
9.1 Zur Frage der Beweise bei einer Beurteilung anhand des Tests nach Regel 23d d) EPÜ macht die Kammer folgende weitere Ausführungen: Erstens müssen bei diesem Test drei Aspekte beurteilt werden, nämlich ob ein Leiden der Tiere wahrscheinlich ist, ob die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens nachgewiesen wurde und ob sich das Leiden und der medizinische Nutzen beide auf die Verwendung derselben Tiere beziehen. Die ersten beiden Aspekte ergeben sich axiomatisch aus dem Wortlaut der Regel 23d d) EPÜ, und nach Auffassung der Kammer muss sich auch der dritte Aspekt daraus ergeben, weil die Regel sonst umgangen werden könnte. Dies sei an einem hypothetischen Beispiel veranschaulicht: Ist sowohl bei Katzen als auch bei Löwen von einem Leiden auszugehen, so würde, wenn der wahrscheinliche medizinische Nutzen nur für Katzen belegt ist, die Gewährung von Ansprüchen auf Katzen und Löwen trotz allem gegen Regel 23d d) EPÜ verstoßen. Kurz gesagt: Regel 23d d) EPÜ sollte angewendet werden, um sicherzustellen, dass sich ein Patent nur auf die Tiere erstreckt, deren Leiden durch einen medizinischen Nutzen aufgewogen wird. Der Einfachheit halber wird dies im Folgenden als erforderliche Korrelation zwischen Leiden und Nutzen bezeichnet.
9.2 Zweitens ist bei der Anwendung des Tests nach Regel 23d d) EPÜ wichtig, dass man sich nicht dazu hinreißen lässt, für die beiden Komponenten des Tests unterschiedliche Beweismaßstäbe anzulegen. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob in der Formulierung "die geeignet sind, Leiden ohne wesentlichen medizinischen Nutzen zu verursachen" die Wörter "geeignet" und "wesentlich" einen Gegensatz darstellen, was einen dazu veranlassen könnte, die bloße Wahrscheinlichkeit eines Leidens gegen einen medizinischen Nutzen abzuwägen, der - weil er ja "wesentlich" sein muss - tatsächlich oder real ist, mit dem Ergebnis, dass man die Existenz eines solchen Nutzens zum maßgeblichen Zeitpunkt zu belegen versucht. Nach Auffassung der Kammer ist das jedoch nicht der Fall.
9.3 Die Einsprechende 3 merkte in der mündlichen Verhandlung an (s. vorstehend Nr. XXX.3), dass in der deutschen Fassung der Regel 23d d) EPÜ das Wort "geeignet" verwendet werde, das nicht ganz dem englischen "likely" entspreche und für gewöhnlich eher mit "suitable" oder "suited" übersetzt werde. Die Kammer verweist darauf, dass in der französischen Fassung der Ausdruck "de nature à" verwendet wird, der im Englischen normalerweise mit "of such a kind as to" übersetzt wird. In den drei Fassungen werden also etwas unterschiedliche Formulierungen verwendet, die jedoch alle an "Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren" anschließen; und insbesondere am Satzbau der deutschen Fassung, in der das Verb "verursachen" erst nach der Wortgruppe "ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier" steht, wird deutlich, dass sich "geeignet" auf die Dialektik "Leiden ohne Nutzen" insgesamt bezieht. Hinsichtlich des Beweismaßstabs, der für das Leiden der Tiere und den wesentlichen medizinischen Nutzen anzulegen ist, gibt es somit keinen Unterschied. Zu unterscheiden ist vielmehr zwischen einem noch so geringen wahrscheinlichen Leiden der Tiere auf der einen Seite und dem wahrscheinlichen medizinischen Nutzen für Menschen oder Tiere auf der anderen Seite, der wesentlich sein muss.
9.4 Aus der Schlussfolgerung, dass nur die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere zu belegen ist, folgt drittens, dass bei einer Beurteilung nach Regel 23d d) EPÜ der Grad des Leidens der Tiere (den die Beschwerdeführerin 1 und die Einsprechende 3 berücksichtigt wissen wollten) und die Verfügbarkeit nichttierischer Alternativen (die alle Beschwerdeführer bis auf die Beschwerdeführer 2 und die Einsprechende 3 berücksichtigt wissen wollten) nicht in Betracht gezogen werden müssen. (Das bedeutet nicht, dass diese Aspekte bei der Beurteilung eines Falls nach Artikel 53 a) EPÜ generell außer Acht gelassen werden sollen.) Was das Leiden der Tiere angeht, so muss nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit eines Leidens nachgewiesen werden, damit Regel 23d d) EPÜ greift.
9.5 Was viertens die Art der Beweise anbelangt, die herangezogen werden können, so müssen sie sich auf Belege für die relevanten Aspekte beschränken, also auf Belege für die Wahrscheinlichkeit eines Leidens, die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens und die erforderliche Korrelation zwischen beiden, und zwar mit Bezug auf das wirksame Datum. Die Beschwerdeführer brachten - aus ihrer Sicht verständlich - vor, dass die Beweise nicht auf die in der Patentanmeldung enthaltenen beschränkt sein dürften, weil die Patentinhaber dann unweigerlich einen Nutzen ihrer Erfindung geltend machen würden, zumal ein Erfinder, wie die Beschwerdeführerin 1 anmerkte (s. vorstehend Nr. XXIV.6 d)), selbstverständlich immer behaupten werde, seine Erfindung habe einen Wert. Der Beschwerdegegner argumentierte - ebenso verständlich -, dass jedes Erfordernis, das über die Berücksichtigung der in der Patentanmeldung enthaltenen Beweismittel hinausgehe, eine rückschauende Betrachtung zulasse und Patentanmelder zwingen würde, ihre Erfindungen vor der Anmeldung zum Patent in die Praxis umzusetzen, was einer völligen Abkehr von der bisherigen Handhabung gleichkäme. Die Kammer stimmt mit dem Beschwerdegegner darin überein, dass es nicht erforderlich sein kann, eine Norm zu definieren, die vor der Anmeldung eine Umsetzung in die Praxis verlangt; andererseits stimmt sie aber auch den Beschwerdeführern zu, dass die Beweismittel nicht auf die am wirksamen Datum verfügbaren beschränkt werden können: Zusätzliche Beweise, sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten des Patentinhabers, können nachträglich berücksichtigt werden, doch muss es sich dabei um Beweise handeln, die sich auf die Sachlage am wirksamen Datum beziehen. Solche Beweise könnten mit dem Einwand der rückschauenden Betrachtung angefochten werden (was, wenn ihm stattgegeben wird, nachteilig für die Partei sein kann, die sich auf das Beweismaterial beruft), doch die Alternative, nämlich nur das am wirksamen Datum vorhandene Beweismaterial zuzulassen, ist noch kritischer zu beurteilen, da wohl nur der Patentinhaber über zulässiges Beweismaterial verfügen dürfte. Dabei ist zu bedenken, dass Informationen über bestimmte Erfindungen erst nach Einreichung der Patentanmeldung zu Tage treten, mitunter sogar sehr lange danach; ein gutes Beispiel hierfür findet sich in der Entscheidung T 356/93 (ABl. EPA 1995, 545, Nr. 18.4 der Entscheidungsgründe).
9.6 Die Kammer sieht hier eine Analogie zu der Situation bei Beweisen für die ausreichende Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ. Genau wie die Erstoffenbarung in einer Patentanmeldung (oder einer Prioritätsunterlage) glaubhaft zu belegen hat, dass die Erfindung ausführbar ist, so muss eine Patentanmeldung nach Auffassung der Kammer die Wahrscheinlichkeit plausibel machen, dass ein medizinischer Nutzen ein aus der Anmeldung erkennbares Leiden von Tieren aufwiegt. In der Praxis wird bei unter Regel 23d d) EPÜ fallenden Erfindungen, also bei einer genetischen Veränderung von Tieren, die Wahrscheinlichkeit von Leiden natürlich zweifelsfrei aus der Patentanmeldung hervorgehen, auch ohne dass dies ausdrücklich erwähnt ist. Außerdem können nach Auffassung der Kammer genauso, wie bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung spätere, nachveröffentlichte Beweismittel zur Bestätigung oder Stützung von ursprünglich in der Patentanmeldung vorgelegten Beweisen berücksichtigt werden können, weitere Beweismittel beigebracht werden, um die Wahrscheinlichkeit eines medizinischen Nutzens zu bestätigen oder zu stützen. Genauso wie Einsprechende Beweismaterial einreichen können, das eine unzureichende Offenbarung belegen soll (z. B. durch gescheiterte Versuche, Ausführungsbeispiele nachzuarbeiten), können sie auch Beweismittel einreichen, um zu belegen, dass ein solcher medizinischer Nutzen unwahrscheinlich ist. Wie sich bei einer Prüfung auf ausreichende Offenbarung das spätere, nachveröffentlichte Beweismaterial auf die Frage zu konzentrieren hat, ob der Fachmann die Erfindung am wirksamen Datum ohne unzumutbaren Aufwand ausführen konnte, so muss späteres, nachveröffentlichtes Beweismaterial in einem Fall nach Regel 23d EPÜ darauf ausgerichtet sein, ob ein medizinischer Nutzen am wirksamen Datum wahrscheinlich war.
9.7 Zusammengefasst sind beim Test nach Regel 23d d) EPÜ die folgenden drei Aspekte zu belegen: ein wahrscheinliches Leiden der Tiere, ein wahrscheinlicher wesentlicher medizinischer Nutzen und die erforderliche Korrelation zwischen beiden in Bezug auf die betroffenen Tiere. Der Beweismaßstab für das Leiden der Tiere und den wesentlichen medizinischen Nutzen ist derselbe, nämlich die Wahrscheinlichkeit. Da nur die Wahrscheinlichkeit eines Leidens belegt werden muss, brauchen andere Aspekte wie der Grad des Leidens oder die Verfügbarkeit nichttierischer Alternativen nicht berücksichtigt zu werden. Beweismittel sind nicht auf die am Anmelde- oder Prioritätstag verfügbaren beschränkt, nach diesem Tag bekannt werdende Beweismittel müssen sich jedoch auf die Sachlage an diesem Tag beziehen.
10. Artikel 53 a) EPÜ - gute Sitten und öffentliche Ordnung
10.1 Fällt eine Erfindung in eine der vier von der Patentierbarkeit ausgenommenen Kategorien nach Regel 23d EPÜ (d. h., fällt eine die Veränderung der genetischen Identität von Tieren betreffende Erfindung unter Regel 23d d) EPÜ), so ist sie, wie oben ausgeführt (s. Nr. 6.1), ipso facto nach Artikel 53 a) EPÜ von der Patentierung auszuschließen. Erfindungen dagegen, die nicht unter eine der begrenzten Patentierbarkeitsausnahmen der Regel 23d EPÜ fallen (auch Erfindungen, wie die vorliegende, wenn sie den Test nach Regel 23d d) EPÜ "bestanden" haben), sind einer Prüfung nach Artikel 53 a) EPÜ zu unterziehen. Es gibt also de facto zwei verschiedene Einwände nach Artikel 53 a) EPÜ, nämlich einerseits Einwände nach Artikel 53 a) EPÜ, die sich eigentlich auf Regel 23d EPÜ beziehen und bei denen nur zu prüfen ist, ob die Erfindung in eine der vier begrenzten Kategorien fällt, die in dieser Regel aufgezählt sind, und andererseits "echte" Einwände nach Artikel 53 a) EPÜ, bei denen es zu beurteilen gilt, ob die Verwertung der Erfindung gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstoßen würde. Für Letzteres bietet die Rechtsprechung einige Anhaltspunkte.
10.2 Die Entscheidung T 356/93 (ABl. EPA 1995, 545, Nrn. 5 und 6 der Entscheidungsgründe) enthält brauchbare Definitionen der Begriffe der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten für die Zwecke des Artikels 53 a) EPÜ:
"5. Der Begriff der öffentlichen Ordnung beinhaltet gemeinhin den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der physischen Unversehrtheit des Individuums als Mitglied der Gesellschaft. Dies schließt auch den Schutz der Umwelt ein. Demgemäß sind nach Artikel 53 a) EPÜ Erfindungen, deren Verwertung voraussichtlich den öffentlichen Frieden oder das geordnete Zusammenleben in der Gemeinschaft stört (beispielsweise durch terroristische Anschläge) oder die Umwelt ernsthaft gefährdet, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung von der Patentierung auszuschließen.
6. Der Begriff der guten Sitten knüpft an die Überzeugung an, dass ein bestimmtes Verhalten richtig und vertretbar, ein anderes dagegen falsch ist, wobei sich diese Überzeugung auf die Gesamtheit der in einem bestimmten Kulturkreis tief verwurzelten, anerkannten Normen gründet. Für die Zwecke des EPÜ ist dies der europäische Kulturkreis, wie er in Gesellschaft und Zivilisation seine Ausprägung findet. Entsprechend sind nach Artikel 53 a) EPÜ Erfindungen, deren Verwertung nicht in Einklang mit den allgemein anerkannten Verhaltensnormen dieses Kulturkreises steht, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten von der Patentierung auszuschließen."
Diese Definitionen bestätigen die auch aus dem Wortlaut des Artikels 53 a) EPÜ selbst hervorgehende Auffassung, dass die öffentliche Ordnung und die guten Sitten Grundlage zweier separater Einwände sein können, die einzeln oder zusammen gegen eine bestimmte Erfindung erhoben werden können (und im vorliegenden Fall beide erhoben wurden).
10.3 Die im Verlauf dieses Verfahrens erhobenen Einwände, die auf dem Begriff der guten Sitten beruhten, waren zahlreich, vielfältig und teilweise auch kontrovers. Einige beantworteten die Frage, ob die Patentierung von Tieren gegen die guten Sitten verstoße (ein an sich irrelevanter Aspekt; s. Nr. 4), auf der Grundlage wirtschaftlicher Kriterien (s. vorstehend Nr. XXIX), andere auf der Grundlage religiöser Überzeugungen (s. vorstehend Nr. XXVII). Es wurde vorgebracht, dass Rechtsvorschriften ein schlechter Maßstab für die guten Sitten seien (s. vorstehend Nr. XXIV.8), dann aber wiederum, dass die Kammer berücksichtigen möge, dass Tierschutz in einigen europäischen Staaten verfassungsrechtlich verankert sei (s. vorstehend Nr. XXV.7 und XXVIII.1). Desgleichen sollten einerseits in einer bestimmten Kultur tief verankerte Normen nicht in Betracht gezogen werden (s. vorstehend Nr. XXV.5), andererseits sollte sich die Kammer jedoch nicht über die tief verankerte Norm hinwegsetzen dürfen, wonach Tiere keine unbelebten Objekte seien (s. vorstehend Nr. XXVII.1 und 2 sowie XXVIII.1).
10.4 Wenn sich an diesen divergierenden Ansichten etwas ablesen lässt, dann der Reichtum und die Vielfalt der menschlichen Gedankenwelt. Für die Kammer sind sie jedoch ganz und gar keine Hilfe bei der Entscheidung, welche Moralauffassung die vorherrschende ist. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, einige der Beschwerdeführer glauben selbst, dass ihre Überzeugungen wohl nicht allgemeingültig sind, denn sie berufen sich darauf, dass Moral sei, was die Mehrheit denke, und stützen sich sehr stark auf Meinungsumfragen. Die Tauglichkeit von Meinungsumfragen als "Barometer" der öffentlichen Moralauffassung ist in T 356/93 (ABl. EPA 1995, 545, Nr. 15 der Entscheidungsgründe) sehr ausführlich diskutiert worden, wobei zahlreiche Nachteile aufgezählt wurden, die von der Art und Zahl der in einer Umfrage gestellten Fragen über die Größe und den repräsentativen Charakter des befragten Bevölkerungsausschnitts bis hin zur Interpretation der Umfrageergebnisse reichten. Die Kammer schließt sich vorbehaltlos der in dieser früheren Entscheidung vertretenen Auffassung über Meinungsumfragen an.
10.5 Nach Auffassung der Kammer ist der einzige Ausgangspunkt für eine "echte" Prüfung nach Artikel 53 a) EPÜ der in T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476, Nr. 5 der Entscheidungsgründe) vorgeschlagene Test für die Beurteilung von Erfindungen, die die genetische Veränderung von Tieren betreffen:
"Die Entscheidung, ob Artikel 53 a) EPÜ der Patentierung der vorliegenden Erfindung entgegensteht, dürfte wesentlich von einer sorgfältigen Abwägung der Leiden der Tiere und einer möglichen Gefährdung der Umwelt einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits abhängen."
Dieser Test kann in unterschiedlichen Fällen auf Beweise angewendet werden, die sich auf bestimmte Zeitpunkte und Bedingungen beziehen, und erscheint somit flexibel genug, um die aktuellen Ansichten (d. h. aktuell am wirksamen Datum - s. nachstehend Nr. 10.9) bezüglich des geordneten Zusammenlebens in der Gemeinschaft, der Umweltgefährdung und der anerkannten Verhaltensnormen des europäischen Kulturkreises zu berücksichtigen. Anders als bei dem Test nach Regel 23d d) EPÜ wird hier das Leiden der Tiere nicht der Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens für Mensch oder Tier, sondern dem Nutzen für die Menschheit gegenübergestellt. Ferner wird nahe gelegt, zwischen möglichen Gefährdungen der Umwelt und dem Nutzen für die Menschheit abzuwägen. Somit ist dies ein Test, der sich in Fällen anwenden lässt, die die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder beides betreffen.
10.6 Am wichtigsten aber ist, dass beim Test nach Regel 23d d) EPÜ nur die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere (d. h. eines noch so geringen Leidens) und die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens maßgeblich sind, wohingegen der Test nach T 19/90 eine "sorgfältige Abwägung" der einander gegenüberzustellenden Aspekte verlangt. Damit ist es eindeutig erlaubt, den Umfang oder das Ausmaß des Leidens der Tiere und/oder der Umweltgefährdung einerseits und des Nutzens für die Menschheit andererseits zu berücksichtigen. So können Faktoren wie der Grad des Leidens oder der mögliche Einsatz nichttierischer Alternativen durchaus einbezogen werden.
10.7 Nicht zuletzt heißt es in T 19/90, dass eine Entscheidung nach Artikel 53 a) EPÜ "wesentlich" von dem Test abhängen dürfte. Also können auch noch andere Überlegungen Berücksichtigung finden, sei es durch eine Anpassung des Tests - wenn z. B. andere Aspekte als das Leiden der Tiere oder die Gefährdung der Umwelt als Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten vorgebracht würden -, sei es durch Einbeziehung weiterer Sachverhalte, die nicht in den Rahmen des Tests fallen. So wurde z. B. im vorliegenden Fall unter Berufung auf Artikel 53 a) EPÜ behauptet, dass die Evolution gefährdet sei, der Handel mit genetisch veränderten Tieren zunehme und derartige Veränderungen moralisch verwerflich seien (s. nachstehend Nrn. 13.2.10 ff.).
10.8 Es gibt keinen erkennbaren Grund, warum nicht auch andere Argumente dieser Art als Teil des Tests nach T 19/90 Berücksichtigung finden sollten. (Die Kammer merkt an, dass in Fällen, die nicht die genetische Veränderung von Tieren betreffen und auf die weder der Test nach Regel 23d d) EPÜ noch der nach T 19/90 anwendbar wäre, solche Argumente Dreh- und Angelpunkt eines Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ wären.) Wie jedoch bereits in T 356/93 ausgeführt, sind diese Argumente genauso wie alle anderen zu substantiieren.
10.9 Aus Gründen der Rechtssicherheit, wie sie auch im Hinblick auf Einwände nach Regel 23d EPÜ genannt wurden, muss der Zeitpunkt, auf den sich eine "echte" Beurteilung nach Artikel 53 a) EPÜ zu beziehen hat, das wirksame Datum (Anmelde- oder Prioritätstag) des Streitpatents oder der Streitanmeldung sein, wobei auch spätere Beweismittel berücksichtigt werden können, sofern sie sich auf die Sachlage am wirksamen Datum beziehen (s. vorstehend Nrn. 8.2, 9.5 und 9.6). Der Vollständigkeit halber fügt die Kammer jedoch hinzu, dass sich die für einen Einwand nach Regel 23d d) EPÜ erforderlichen Beweise in Art und Umfang deutlich von den für einen "echten" Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ erforderlichen unterscheiden dürften. Während für die Zwecke der Regel 23d d) EPÜ nur die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere und die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens zu belegen sind, können bei Artikel 53 a) EPÜ andere Faktoren Berücksichtigung finden (s. vorstehend Nrn. 10.6 bis 10.8), d. h., das relevante Beweismaterial kann sowohl umfangreicher als auch vielschichtiger sein.
10.10 Zusammenfassend ist zur Beurteilung eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ festzuhalten, dass die Entscheidung T 356/93 brauchbare Definitionen für die Begriffe der guten Sitten und der öffentlichen Ordnung liefert. Die zahlreichen von den Beschwerdeführern vorgeschlagenen Ausgangspunkte (wirtschaftlicher, religiöser und anderer Art) für eine Definition der guten Sitten sind keine Hilfe, weil kein einziger davon eine allgemein anerkannte Norm des europäischen Kulturkreises darstellt. In Meinungsumfragen erhobene Daten sind aus den in T 356/93 angeführten Gründen als Beweismittel von sehr begrenztem Wert. In Fällen, die die Veränderung von Tieren betreffen, bietet sich der Test nach T 19/90 an. Dieser unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem Test nach Regel 23d d) EPÜ, vor allem dadurch, dass er die Berücksichtigung weiterer Aspekte neben dem Leiden der Tiere und dem medizinischen Nutzen zulässt. Da der Test nach T 19/90 nur die "wesentliche" Grundlage der Beurteilung bildet, können zusätzlich noch andere Argumente, die auf die geeignete Norm für die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung abstellen, berücksichtigt werden. Diese sind jedoch, wie jedes andere Vorbringen, durch Beweismittel glaubhaft zu machen. Die Beurteilung eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ erfolgt zum Anmelde- oder Prioritätstag; nach diesem Tag bekannt werdendes Beweismaterial kann berücksichtigt werden, sofern es sich auf die Sachlage am wirksamen Datum bezieht.
11. Artikel 53 b) EPÜ
11.1 Artikel 53 b) EPÜ schließt "Pflanzensorten oder Tierarten sowie im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" ausdrücklich von der Patentierbarkeit aus, mit der Einschränkung, dass "diese Vorschrift auf mikrobiologische Verfahren und auf die mit Hilfe dieser Verfahren gewonnenen Erzeugnisse nicht anzuwenden" ist - eine Einschränkung, die hier nicht relevant ist (s. Regel 23b (6) EPÜ und T 356/93, ABl. EPA 1995, 545, Nrn. 33 bis 39 der Entscheidungsgründe). Anders als bei Artikel 53 a) EPÜ wird der Patentschutz hier einfach bestimmten Gegenständen als solchen verweigert und nicht Erfindungen, die diese Gegenstände betreffen und deren Veröffentlichung oder Verwertung nach einem moralischen oder sonstigen Maßstab zu beurteilen ist. Ein Einwand nach Artikel 53 b) EPÜ scheint also auf den ersten Blick eine einfache Sache zu sein, gilt es doch lediglich zu entscheiden, wie die Ausschlussregelung zu verstehen ist, und zu beurteilen, ob das Streitpatent oder die Streitanmeldung Pflanzen oder Tiere in diesem Sinne zum Gegenstand hat. Geht es jedoch um Tiere, so ist die exakte Bedeutung des Artikels 53 b) EPÜ insbesondere auf Grund der sprachlichen Unterschiede nicht ganz so einfach zu bestimmen.
11.2 In der deutschen und der französischen Fassung des Artikels 53 b) EPÜ werden für das englische "plant or animal varieties" (eigentlich: Pflanzensorten oder Tiervarietäten) die Worte "Pflanzensorten oder Tierarten" bzw. "les variétés végétales ou les races animales" (Pflanzensorten oder Tierrassen) gebraucht. Somit werden in Bezug auf Tiere in den drei Amtssprachen drei unterschiedliche Begriffe verwendet, nämlich "Varietät", "Art" und "Rasse". Die Liste der in Regel 23c EPÜ aufgezählten patentierbaren biotechnologischen Erfindungen umfasst unter Buchstabe b (in der englischen Fassung) "plants or animals if the technical feasibility of the invention is not confined to a particular plant or animal variety". Dadurch wird zwar der Anwendungsbereich des Artikels 53 b) EPÜ auf Erfindungen eingeengt, die auf eine bestimmte "plant or animal variety" beschränkt sind, das Sprachenproblem jedoch besteht nach wie vor, denn für das englische "plant or animal variety" werden hier in der deutschen und der französischen Fassung die Formulierungen "Pflanzensorte oder Tierrasse" bzw. "une variété végétale ou une race animale" verwendet (d. h., in beiden Fassungen ist von Pflanzensorte und Tierrasse die Rede). Somit gibt es nicht nur eine Diskrepanz zwischen den Begriffen in Artikel 53 b) EPÜ und - ganz ähnlich - in Regel 23c EPÜ in den drei Sprachen, sondern zudem noch die Komplikation, dass im Deutschen durch die Verwendung von "Tierarten" und "Tierrasse" die beiden Unstimmigkeiten auch noch in sich unstimmig sind!
11.3 Alle Beteiligten, die im Beschwerdeverfahren Einwände nach Artikel 53 b) EPÜ erhoben haben (die Beschwerdeführer 3 bis 6 und die Einsprechende 3) gingen sehr undifferenziert an die Frage heran, ob Artikel 53 b) EPÜ eine Tiervarietät (variety), eine Tierart (species) oder eine Tierrasse (race) betrifft. Sie gebrauchten einfach den Begriff "Tierart", zweifelsohne weil dies von den drei Möglichkeiten der am breitesten gefasste Begriff ist (s. nachstehend Nr. 11.6), und verliehen Artikel 53 b) EPÜ dadurch die größtmögliche Ausschlusswirkung. Der Beschwerdegegner brachte vor, dass bei Tieren derselbe "generische Ansatz" gelten sollte, den die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) in Bezug auf Pflanzen verfolgt habe, als sie mehrere Pflanzensorten umfassende Ansprüche für zulässig erklärte, nicht aber einen auf eine bestimmte Pflanzensorte gerichteten. Der Beschwerdegegner wollte sich jedoch nicht auf Varietät, Art oder Rasse festlegen, sondern verwies einfach darauf, dass die Krebsmaus mindestens zwei taxonomische Kategorien über dem breitesten dieser drei Begriffe, nämlich der "Tierart" angesiedelt sei.
11.4 Die Kammer stimmt mit dem Beschwerdegegner darin überein, dass der von der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 1/98 für Pflanzen und "Pflanzensorten" aufgestellte Grundsatz auch bei Tieren gelten sollte. Unter Nummer 3.10 der Entscheidungsgründe heißt es dort:
"Ist in einem Erzeugnisanspruch keine bestimmte Pflanzensorte individuell angegeben, so ist der Gegenstand der beanspruchten Erfindung nicht im Sinne des Artikels 53 b) EPÜ auf eine oder mehrere Pflanzensorten gerichtet. Entgegen den Schlussfolgerungen der vorlegenden Kammer entspricht es daher den allgemeinen Gesetzen der Logik, dass ein Patent nicht für eine einzelne Pflanzensorte, wohl aber dann erteilt werden kann, wenn Pflanzensorten unter den Anspruch fallen können."
Wie oben erläutert, kommt im Fall von Tieren jedoch eine Schwierigkeit hinzu, vor der die Große Beschwerdekammer bei Pflanzen nicht stand, nämlich dass es im EPÜ mit Bezug auf Tiere keinen einheitlichen Begriff wie "Pflanzensorte" gibt. Was Pflanzen angeht, so wird nicht nur in allen drei Sprachfassungen des EPÜ der exakt gleiche Begriff "Pflanzensorten" verwendet, die Große Kammer hatte in G 1/98 zudem den Vorteil, dass sie sich auf die frühere Rechtsprechung der Beschwerdekammern, auf Artikel 2 (2) des UPOV-Übereinkommens von 1961 und auf Regel 23b (4) EPÜ stützen konnte, um eine klare Definition dieses Begriffs zu erhalten (nämlich "eine pflanzliche Gesamtheit innerhalb eines einzigen botanischen Taxons der untersten bekannten Rangstufe", die bestimmte, in Regel 23b (4) a) bis c) EPÜ aufgeführte Bedingungen erfüllt).
11.5 Nachdem weder die Rechtsprechung der Beschwerdekammern noch Regel 23b EPÜ (die die Auslegung des EPÜ im Hinblick auf biotechnologische Erfindungen betrifft) eine vergleichbare Definition für "Tierart" (oder "Tiervarietät" oder "Tierrasse") bietet, stünde nach Auffassung der Kammer eine von der taxonomischen Kategorie ausgehende Definition mit dem bei Pflanzen verfolgten Ansatz im Einklang und wäre im Interesse der Rechtssicherheit. Anhand einer solchen Definition ließe sich beurteilen, ob der beanspruchte Gegenstand nach Artikel 53 b) EPÜ in der Auslegung gemäß Regel 23c b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, d. h., ob in einem Tiere betreffenden Fall die technische Ausführbarkeit der Erfindung nicht auf eine bestimmte "Tierart" beschränkt ist (wie auch immer man den im Deutschen, im Englischen und im Französischen verwendeten Begriff definiert).
11.6 Wenngleich die Beteiligten, wie bereits erwähnt, in dieser Hinsicht kein Beweismaterial vorlegten, existiert für jeden der drei Begriffe eine taxonomische Definition. So findet sich im Wörterbuch folgende Definition für "Tiervarietät":
"eine von verschiedenen unterhalb einer Art angesiedelten Gruppen von Tieren (Unterart)".
"Tierrasse" ist definiert als:
"Gruppe innerhalb einer Art, deren Angehörige tatsächlich oder potenziell untereinander fortpflanzungsfähig sind; auch als taxonomische Kategorie (im Sinne von Unterart) für eine solche Gruppe gebräuchlich".
Demnach sind sowohl "Varietät" als auch "Rasse" in der taxonomischen Hierarchie eindeutig unterhalb der "Art" angesiedelt. Diese wiederum ist definiert als:
"Unmittelbar unterhalb der Gattung oder Untergattung angesiedelte biologische Klassifikationskategorie, die verwandte, untereinander potenziell fortpflanzungsfähige Organismen oder Populationen umfasst und durch ein Binomen benannt wird, das aus einem Gattungsnamen gefolgt von einem lateinischen oder latinisierten, mit Kleinbuchstaben beginnenden und grammatikalisch mit dem Gattungsnamen übereinstimmenden Substantiv oder Adjektiv besteht."
Beispiele für Arten sind Mus musculus (M. musculus), M. abbottii und M. caroli, wobei z. B. Mus musculus weiter unterteilt ist in Unterarten wie M. musculus domesticus und M. musculus bractianus. Die "Gattung" ist wie folgt definiert:
"Zwischen der Familie und der Art angesiedelte biologische Klassifikationskategorie, die strukturell und phylogenetisch verwandte Arten oder eine isolierte Art mit einer ungewöhnlichen Differenzierung umfasst und durch ein lateinisches oder latinisiertes, mit Großbuchstaben beginnendes Substantiv im Singular benannt wird."
Ein Beispiel für eine Gattung wäre also Mus (Maus). (Alle oben stehenden Definitionen stammen aus dem "Merriam-Webster OnLine Dictionary"; die kursiven Hervorhebungen wurden von der Kammer hinzugefügt.)
11.7 Nach Artikel 177 (1) EPÜ sind die drei Fassungen des Übereinkommens, d. h. der deutsche, der englische und der französische Wortlaut gleichermaßen verbindlich. Wie gerade gezeigt, bezeichnen jedoch die drei verschiedenen Begriffe, die in den drei Amtssprachen verwendet werden, unterschiedliche taxonomische Kategorien. Eine strenge Befolgung des Artikels 177 (1) EPÜ würde also zu dem absurden Ergebnis führen, dass der Ausgang eines Einwands nach Artikel 53 b) EPÜ von der jeweiligen Verfahrenssprache abhinge, wobei die deutsche Fassung, die mit dem Begriff "Tierarten" von der höchsten taxonomischen Kategorie ausgeht, den breitesten Einwand zuließe. Diese Rechtsunsicherheit ist eindeutig nicht wünschenswert, doch muss im vorliegenden Fall aus den unten dargelegten Gründen (s. Nrn. 13.3.1 bis 13.3.5) nicht weiter darauf eingegangen werden. Wie der Beschwerdegegner argumentierte (in Bezug auf den ersten Hilfsantrag, der als erstes den Artikel 53 b) EPÜ ins Spiel brachte, was jedoch auch für den Hauptantrag gegolten hätte, wenn er nicht aus anderen Gründen zurückgewiesen worden wäre), betrifft das Patent eindeutig eine höhere taxonomische Tierkategorie als die der "Art", die die breitest mögliche Definition des in Artikel 53 b) EPÜ verankerten Ausschlusses von Tieren ist. Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an.
11.8 Die Position der Kammer bezüglich Artikel 53 b) EPÜ lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der von der Großen Beschwerdekammer in G 1/98 mit Bezug auf Pflanzen und "Pflanzensorten" aufgestellte Grundsatz sollte auch bei Tieren befolgt werden: ein Patent sollte nicht für eine einzelne Tierart (oder Varietät oder Rasse, je nachdem, welche Sprachfassung des EPÜ verwendet wird), wohl aber dann erteilt werden können, wenn auch Tierarten unter den Anspruch fallen können. Die Definition von Tierart (oder Varietät oder Rasse) anhand des taxonomischen Rangs stünde im Einklang mit dem bei Pflanzensorten verfolgten Ansatz und wäre im Interesse der Rechtssicherheit, weil dann nach Artikel 53 b) EPÜ in der Auslegung gemäß Regel 23c b) EPÜ beurteilt werden könnte, ob im Falle von Tieren die technische Ausführbarkeit einer Erfindung nicht auf eine bestimmte Tierart (oder Varietät oder Rasse) beschränkt ist. Die verschiedenen Begriffe, die in den einzelnen Sprachen verwendet werden, bezeichnen jedoch unterschiedliche taxonomische Kategorien. Eine strenge Befolgung des Artikels 177 (1) EPÜ würde daher zu dem absurden Ergebnis führen, dass der Ausgang eines Einwands nach Artikel 53 b) EPÜ von der jeweiligen Verfahrenssprache abhinge, wobei die deutsche Fassung, die mit dem Begriff "Tierarten" von der höchsten taxonomischen Kategorie ausgeht, den breitesten Einwand zuließe.
12. Hauptantrag
Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hauptantrag des Beschwerdegegners enthielt dieselben Ansprüche, die die Einspruchsabteilung aufrechterhalten hatte, allerdings ohne den auf Chromosomen und den auf Zellen gerichteten Anspruch. Die unabhängigen Ansprüche dieses Antrags lauteten also wie folgt:
"1. Verfahren zur Erzeugung eines transgenen Nagers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, das den chromosomalen Einbau einer aktivierten Onkogen-Sequenz in das Genom eines Nagers umfasst."
"19. Transgener Nager, dessen Keim- und somatische Zellen als Ergebnis eines chromosomalen Einbaus in das Genom des Tieres oder das eines seiner Vorfahren eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist."
[Unter Nr. 12.1 stellte die Kammer fest, dass der Gegenstand des Hauptantrags eine Erfindung im Sinne des Art. 52 EPÜ ist.]
12.2 Artikel 53 a) EPÜ
Test nach Regel 23d d) EPÜ
12.2.1 Es steht außer Frage, dass sich der Gegenstand des Streitpatents auf ein Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren bezieht und somit Regel 23d d) EPÜ anzuwenden ist. Ebenso unstrittig ist - darin waren sich auch die Beteiligten einig -, dass das Verfahren geeignet ist, diesen Tieren Leiden zu verursachen. Da der Antrag alle Tiere der taxonomischen Ordnung der Nager (Rodentia) einschließt, wird - und muss - das Leiden bei jedem Tier dieser Kategorie auftreten, also nicht nur bei Mäusen, sondern auch bei Eichhörnchen, Bibern, Stachelschweinen und jedem anderen Nager. Diesen und keinen anderen Schluss lässt jedenfalls ein Antrag zu, bei dem das Verfahren nach Anspruch 1 bei den Nagern nach Anspruch 19 eine "erhöhte Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen" bewirkt, also mit anderen Worten zu einem abnormalen - gutartigen oder kanzerösen - Gewebewachstum, das den Tieren Leiden verursacht und letztendlich ihren Tod herbeiführt. Das Leiden der Tiere ist nicht nur eine Wahrscheinlichkeit, sondern eine unvermeidliche Folge des eigentlichen Zwecks des Patents.
12.2.2 Somit stellen sich zwei Fragen: Erstens, ob auch ein wesentlicher medizinischer Nutzen für den Menschen oder das Tier wahrscheinlich ist, und zweitens, ob dieser Nutzen bei allen Tieren erzielt wird, bei denen ein Leiden wahrscheinlich ist, d. h., ob die erforderliche Korrelation zwischen wahrscheinlichem Leiden und wahrscheinlichem Nutzen besteht (s. vorstehend Nr. 9.1).
12.2.3 Es gibt kein aktenkundiges Beweismaterial, weder im Patent selbst noch an anderer Stelle, dass sich irgendein Nutzen, geschweige denn ein wesentlicher medizinischer Nutzen erzielen lässt, wenn das beanspruchte Verfahren auf alle Nager bzw. auf beliebige Tiere der Ordnung Rodentia mit Ausnahme von Mäusen angewendet wird. In Bezug auf die betroffenen Tiere fehlt also die erforderliche Korrelation zwischen wahrscheinlichem Leiden und wahrscheinlichem Nutzen. Der Beschwerdegegner hat auf den Vorteil der Bereitstellung verschiedener Modellsysteme für die Krebsforschung verwiesen, durch die man nicht auf die Physiologie, den Metabolismus usw. von Mäusen beschränkt wäre. Es gibt jedoch schlichtweg keinen Beweis dafür, dass die einzelnen Tiere in der Kategorie der Nager so verschieden sind, dass jedes von ihnen einen Beitrag zur Krebsforschung leisten würde, z. B. durch seine besondere Eignung als Modell zur Untersuchung einer bestimmten Krebsform. Dieses Argument des Beschwerdegegners scheint somit nicht mehr als eine Behauptung zu sein; es ist rein hypothetisch und nicht durch Beweise substantiiert. Die Kammer gelangt daher zu dem Schluss, dass das Erfordernis der Regel 23d d) EPÜ, wonach ein wesentlicher medizinischer Nutzen wahrscheinlich sein muss, für Nager nicht erfüllt ist.
12.2.4 Der Hauptantrag offenbart somit die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere, aber nicht die eines wesentlichen medizinischen Nutzens für alle unter die Ansprüche fallenden Tiere. Daher "besteht" der Hauptantrag nicht den Abwägungstest nach Regel 23d d) EPÜ und ist demzufolge nach Artikel 53 a) EPÜ zurückzuweisen. Der Hauptantrag ist also nicht zulässig.
Test nach T 19/90
12.2.5 Die Kammer möchte, bevor sie auf den ersten Hilfsantrag eingeht, noch eine weitere Anmerkung machen. Ihrer Auffassung nach hätte die Beurteilung eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ (s. vorstehend Nr. 10), wie in der mündlichen Verhandlung bereits dargelegt, für den Hauptantrag zu demselben Ergebnis geführt. In diesem Fall wäre der Test nach T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476, Nr. 5 der Entscheidungsgründe) auf den Hauptantrag anzuwenden. Wie oben erläutert (s. Nr. 7.1), kann ein "Nutzen für die Menschheit" einen medizinischen Nutzen beinhalten, so dass die gegeneinander abzuwägenden Aspekte in beiden Tests im Wesentlichen dieselben wären. Dass bei Anwendung des Tests nach T 19/90 mehr als nur die Wahrscheinlichkeit eines Leidens oder eines Nutzens in Betracht gezogen werden kann, würde keinen Unterschied machen, denn die Beteiligten waren sich darin einig, dass die Tiere leiden würden. Bezieht man noch weitere Aspekte wie den Grad des Leidens oder die Verfügbarkeit alternativer nichttierischer Verfahren ein (vorausgesetzt, diese Aspekte wären durch Beweismaterial belegt), so würde dies erst recht gegen die Zulassung des Antrags sprechen.
13. Erster Hilfsantrag
Der erste Hilfsantrag des Beschwerdegegners enthielt unabhängige Ansprüche, die denen des Hauptantrags entsprachen, in denen aber "Nager" durch "Maus" ersetzt worden war. Die unabhängigen Ansprüche dieses Antrags lauteten wie folgt:
"1. Verfahren zur Erzeugung einer transgenen Maus mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, das den chromosomalen Einbau einer aktivierten Onkogen-Sequenz in das Genom einer Maus umfasst."
"19. Transgene Maus, deren Keim- und somatische Zellen als Ergebnis eines chromosomalen Einbaus in das Genom des Tieres oder das eines seiner Vorfahren eine aktivierte Onkogen-Sequenz enthalten, wobei das Onkogen wahlweise nach einem der Ansprüche 3 bis 10 näher definiert ist."
[Unter Nr. 13.1 stellte die Kammer fest, dass der Gegenstand des ersten Hilfsantrags eine Erfindung im Sinne des Art. 52 EPÜ ist.]
13.2 Artikel 53 a) EPÜ
Test nach Regel 23d d) EPÜ
13.2.1 Nach Artikel 53 a) EPÜ ist der erste Hilfsantrag zunächst anhand des "Abwägungstests" nach Regel 23d d) EPÜ zu beurteilen. Was die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere angeht, so gibt es im Patent selbst Beweise dafür, dass die speziellen, durch das im Streitpatent beanspruchte Verfahren erzeugten Krebsmäuse bestimmte Neoplasmen entwickeln und zum Testen von Verbindungen verwendet wurden, von denen man annimmt, dass sie kanzerogen sind oder umgekehrt Schutz gegen die Bildung dieser Neoplasmen bieten (s. Seite 10, Zeilen 15 bis 31). Das Leiden der Tiere ist also nicht nur eine Wahrscheinlichkeit, sondern eine Gewissheit. Außerdem stimmten die Beteiligten, wie bereits im Zusammenhang mit dem Hauptantrag erwähnt, darin überein, dass alle aus dem patentgemäßen Verfahren hervorgehenden Tiere und damit zwangsläufig auch Mäuse leiden würden.
13.2.2 Was die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens angeht, so lässt sich diese zumindest aus dem Patent selbst ableiten: Ziel sowohl des beanspruchten Verfahrens als auch der mit seiner Hilfe erzeugten und für Testzwecke verwendeten Krebsmäuse ist die Unterstützung der Krebsforschung. Außerdem gibt es in der Akte Beweismittel in Form von Erklärungen und nachveröffentlichten Dokumenten, die belegen, dass durch den Einsatz von Mäusen, wie sie durch das beanspruchte Verfahren erzeugt werden, echte medizinische Vorteile erzielt wurden. So heißt es z. B. in Dokument (81), dass "wir mit der Krebsmaus der menschlichen Situation vielleicht so nahe kommen, wie nur irgend möglich" und dass "sich zwischen Maus und Mensch genetische Schlüsselmechanismen erhalten haben, die die Entwicklung der Brustdrüsen (und damit auch die von Krebs) steuern, so dass die Maus die bestmögliche Näherung darstellt". Dokument (82), eine Erklärung darüber, inwiefern onkogene nichtmenschliche Säuger in der wissenschaftlichen und medizinischen Forschung nützlich und vorteilhaft sind, verweist auf mehrere (als Anlagen beigefügte) wissenschaftliche Publikationen, in denen solche mit Krebsmäusen erzielten Nutzeffekte beschrieben sind. 1995 wurde berichtet, dass die Krebsmaus ein hilfreiches Modell für die In-vivo-Visualisierung und das präklinische Screening von Visualisierungsmitteln für Brusttumore sei (Dokument (A3)). 1996 wurden Krebsmäuse eingesetzt, um zu demonstrieren, dass Ethanol und Kokain eine tumorigene Wirkung haben und über ein bestimmtes Onkogenprodukt das Immunsystem deregulieren (Dokument (A4)). 2001 wurde in einem Krebsmaus-Modell eine kurzzeitige Kombinationstherapie mit IL2 und Mäuse-Angiostatin exprimierenden Typ-5-Adenovirus-Vektoren getestet und dabei erstmals eine Tumorhemmung und -regression belegt (Dokument (A2)). Die erfolgreiche Impfung von Krebsmäusen gegen die Bildung von Brusttumoren mit Hilfe eines DNA-Impfstoffs wurde ebenfalls beschrieben (Dokument (A1)).
13.2.3 Was das Erfordernis einer Korrelation zwischen Leiden und Nutzen angeht (s. vorstehend Nr. 9.1), so sind alle Tiere der Gattung "Mus" in den meisten relevanten biologischen Eigenschaften eng miteinander verwandt, weswegen es glaubhaft ist, dass jedes Gattungsmitglied, ähnlich wie im Patent für bestimmte Mäuse beispielhaft beschrieben, als Modellsystem für die Krebsforschung dienen könnte. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Anwendung des beanspruchten Verfahrens, also der Einbau eines aktivierten Onkogens in das Chromosom des Tiers, oder die Verwendung einer solchen Maus Leiden verursacht, gleichzeitig aber einen Beitrag zur medizinischen Forschung verspricht.
13.2.4 Die Kammer gelangt daher zu dem Schluss, dass die Ansprüche 1 und 19 des ersten Hilfsantrags den Test nach Regel 23d d) EPÜ "bestehen" und somit nicht in die Kategorie der Erfindungen fallen, für die gemäß dieser Regel keine Patente erteilt werden. Der Antrag ist also ohne Bezugnahme auf diese Regel nach Artikel 53 a) EPÜ zu beurteilen. Mit anderen Worten, es handelt sich beim vorliegenden Fall um einen "echten" Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ (s. vorstehend Nr. 10.1).
Test nach T 19/90
13.2.5 Die Beschränkung des Hilfsantrags auf Mäuse verändert auch das Ergebnis des Tests nach T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476, Nr. 5 der Entscheidungsgründe). Bei der Anwendung dieses Tests sind sich die Beteiligten auf der einen Seite ebenfalls einig, dass das patentierte Verfahren den verwendeten Mäusen tatsächliche Leiden verursacht. Auf der anderen Seite wurde ein tatsächlicher medizinischer Nutzen nachgewiesen (s. vorstehend Nr. 13.2.2) und dieser ist für die Menschheit eindeutig von Nutzen. Anders als beim Hauptantrag wird Tieren hier kein Leiden zugefügt, ohne dass Aussicht auf einen entsprechenden potenziellen Nutzen besteht. Soweit erbringt der Test nach T 19/90 also dasselbe Ergebnis wie der nach Regel 23d d) EPÜ. Der Test nach T 19/90 lässt jedoch, wie oben dargelegt (s. Nrn. 10.6 bis 10.8), die Berücksichtigung noch weiterer Erwägungen zu. Im vorliegenden Fall wurden von den Beschwerdeführern und der Einsprechenden 3 zwei solche Erwägungen vorgebracht: der Grad des Leidens der Tiere und die Möglichkeit des Einsatzes nichttierischer Alternativen, um dieselben Ziele zu erreichen wie das Streitpatent.
13.2.6 Der Grad des Leidens der Tiere, mit dem die Beschwerdeführerin 1 und die Einsprechende 3 argumentierten, wurde anders als die Tatsache ihres Leidens nicht durch Beweise erhärtet, was die Kammer nicht im Geringsten überrascht. Den Grad des Leidens als entscheidungserheblich betrachten zu wollen, würde bedeuten, dass eine Unterscheidung zwischen "hinnehmbarem" und "nicht hinnehmbarem" Leiden möglich ist. Nach Auffassung der Kammer haben die betreffenden Beteiligten eine solche Unterscheidung nicht wirklich angestrebt, und sie wäre mit Sicherheit bei der Entscheidung dieses oder ähnlicher Fälle auch nicht hilfreich. Diese Betrachtungen zeigen bereits, dass es für die Kammer (oder jedes andere Entscheidungsgremium) nicht nur unerquicklich, sondern geradezu unmöglich wäre, den Grad des Leidens zu bestimmen. Sowohl Regel 23d d) EPÜ als auch T 19/90 stellen auf das "Leiden" und nicht den "Grad des Leidens" ab, und nach Ansicht der Kammer ist dies der einzig mögliche Weg: Jedes Leiden eines Tieres reicht aus, um Artikel 53 a) EPÜ ins Spiel zu bringen, und muss durch einen entsprechenden Nutzen ausgeglichen werden. Demzufolge ist das Vorbringen zum Grad des Leidens der Tiere keine Hilfe beim Test nach T 19/90; die unselige Unterscheidung, die damit nahe gelegt wird, lenkt bestenfalls von der Argumentation der Vortragenden ab.
13.2.7 Was die nichttierischen Alternativen betrifft, so brachten die Beschwerdeführer 1 und 3 bis 6 sowie die Einsprechende 3 vor, dass diese in Betracht gezogen werden müssten. Die am nächsten liegende Alternative, die erwähnt wurde, waren Zellkulturen. Es wurden jedoch keine Beweise vorgelegt, die einen Vorteil gegenüber dem patentgemäßen Verfahren oder auch nur einen vergleichbaren Nutzen belegen würden. Der Beschwerdegegner entkräftete dieses Vorbringen mit dem Hinweis, dass nur ein Tier die Möglichkeit biete, einen vollständigen Organismus einschließlich z. B. des Immunsystems zu verwenden. Er reichte außerdem eine Erklärung ein, warum Krebsmäuse vorteilhafter seien als Zellkulturen (Dokument (81), Abs. 3 und 4). Bezöge man also diese Alternative in den Test nach T 19/90 ein, so hätte das zur Folge, dass sich die Situation - auf der Grundlage des vorhandenen Beweismaterials - zu Ungunsten der Beschwerdeführer und zu Gunsten des Beschwerdegegners verschieben würde.
13.2.8 Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man im Test nach T 19/90 die Gefährdung der Umwelt gegen den Nutzen für die Menschheit abwägt. Dabei werden dieselben Faktoren betrachtet, nur tritt an die Stelle des allseits eingeräumten Leidens der Tiere eine mögliche Umweltgefährdung, falls Krebsmäuse in die freie Wildbahn entkommen (bzw. absichtlich oder versehentlich freigelassen werden). Wie nicht anders zu erwarten bei einer Gefahr, die sich erst noch einstellen muss, gab es keine Beweise für die Umweltproblematik, die im Übrigen eine sehr untergeordnete Rolle im Beschwerdeverfahren spielte. Im vorliegenden Fall sind die Umweltargumente daher allenfalls von noch geringerer Bedeutung als in T 356/93 (ABl. EPA 1995, 545, Nrn. 18 und 19 der Entscheidungsgründe), wo die Kammer 3.3.4 in Anbetracht ähnlicher Vorbringen zur Gefahr eines "Entkommens" der genetisch veränderten Pflanzen zu dem Schluss kam, dass eine Gefährdung der Umwelt einen Einwand nach Artikel 53 a) EPÜ rechtfertigen könnte, aber durch das ihr vorliegende Beweismaterial nicht nachgewiesen worden sei. Unter Nummer 18.6 erklärte die Kammer:
"Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer keine schlüssigen Beweise dafür erbracht, dass die Verwertung des beanspruchten Gegenstands die Umwelt voraussichtlich ernsthaft gefährden würde. Dreh- und Angelpunkt der meisten Argumente des Beschwerdeführers ist die Möglichkeit gewisser unerwünschter, destruktiver Geschehnisse (z. B. Umwandlung von Nutzpflanzen in Unkraut, Ausbreitung des für die Herbizidresistenz verantwortlichen Gens auf andere Pflanzen, Schädigung des Ökosystems). In gewissem Umfang kann es natürlich zu solchen Ereignissen kommen. Dies haben sogar die Beschwerdegegner eingeräumt. Nach Ansicht der Kammer belegt das hierzu vorgelegte Material die Existenz einer Umweltbedrohung aber nicht so hinreichend, dass ein Patentierungshindernis im Sinne des Artikels 53 a) EPÜ vorliegt."
Im Vergleich dazu ist das Vorbringen derjenigen, die das Streitpatent angefochten haben, deutlich schwächer.
13.2.9 Nach Auffassung der Kammer spielen die Umweltaspekte im vorliegenden Fall höchstens eine neutrale Rolle. Zwar besteht die Gefahr eines Freisetzens oder Entkommens - genau wie bei Zoo- oder Zirkustieren -, doch ist diese kaum mehr als hypothetisch, wenn man bedenkt, welche Sicherheitsvorkehrungen bei der Haltung von Labormäusen getroffen werden und wie stark die Nutzung und Haltung von Labortieren in den meisten Ländern reglementiert ist. Selbst im Fall eines Freisetzens oder Entkommens wäre fraglich, ob Krebsmäuse die Umwelt überhaupt schädigen würden, geschweige denn nachhaltig. Die einzig erkennbare Gefahr besteht darin, dass sich das Onkogen bei einer Paarung mit wilden Mäusen verbreiten würde. Dem steht gegenüber, dass Krebsmäuse, eben weil sie manipuliert sind, in freier Wildbahn wohl nicht so lange überleben würden wie nicht manipulierte Mäuse.
Artikel 53 a) EPÜ - weitere Erwägungen
13.2.10 Aus den in den fünf vorangegangenen Absätzen genannten Gründen "besteht" der erste Hilfsantrag daher den Test nach T 19/90. Nach Artikel 53 a) EPÜ bleibt somit zu prüfen, ob die anderen von den Beschwerdeführern oder der Einsprechenden 3 vorgetragenen Argumente ausreichen, um nachzuweisen, dass die Veröffentlichung oder Verwertung der Erfindung, so wie sie in diesem Antrag beansprucht wird, gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde. Diese verbleibenden Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Krebsmäuse stellen eine Gefahr für die Evolution dar.
b) Das Patent wird die Zahl der in der Krebsforschung verwendeten transgenen Mäuse steigen lassen und insgesamt zu einem verstärkten Handel mit Tieren beitragen.
c) Die Verwendung genetisch manipulierter Tiere (in diesem Fall Mäuse) in der medizinischen Forschung ist für die Öffentlichkeit moralisch nicht vertretbar.
Diese Argumente werden im Folgenden behandelt. Die Kammer schickt voraus, dass die Einwände offenbar alle auf einen Verstoß gegen die guten Sitten abheben, keiner davon stellt auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung ab.
13.2.11 Was die angebliche Gefahr für die Evolution angeht, so wurde auch diesbezüglich - und nicht weiter überraschend - kein Beweismaterial vorgelegt. Es handelt sich hier also um eine reine Argumentationsfrage. Im Lauf der Evolution hat es Entwicklungen gegeben, die von der Menschheit allgemein als bedauernswert angesehen werden, so z. B. die Ausrottung bestimmter Tiere, und wiederum andere, wie z. B. die Ausrottung des Pockenerregers, deren Nutzen für die Menschheit als unstrittig gilt. Die Unterstützung der medizinischen Forschung im Hinblick auf die Heilung, Milderung oder Ausrottung von Krankheiten kann, allgemein betrachtet, nur als moralisch richtig angesehen werden. Wie der Beschwerdegegner in der mündlichen Verhandlung richtig anmerkte, ist die Absicht, Krebs zu heilen, zutiefst moralisch. Worum es bei diesem Vorbringen zur Evolution also wirklich geht, ist die Frage, ob es gegen die guten Sitten verstößt, Mäuse zu diesem Zweck einzusetzen. Hierauf geht die Kammer nachstehend unter den Nummern 13.2.13 bis 13.2.21 ein.
13.2.12 Andere Argumente reichten, wie oben erwähnt, von einer befürchteten verstärkten Nutzung transgener Mäuse in der Krebsforschung bis hin zu einer Zunahme des Handels mit Tieren im Allgemeinen. Solche Argumente sind beinahe, wenn nicht sogar definitiv dem Bereich der irrelevanten Fragen zuzurechnen (s. vorstehend Nr. 4). Es sei daran erinnert, dass es hier darum geht, ob die Verwertung der Erfindung der Krebsmaus gegen die guten Sitten verstößt, und nicht darum, ob Tierpatente dagegen verstoßen. Die Kammer hat daher den Eindruck, dass diese Argumente auf nichts anderes hinauslaufen als die Behauptung, dass die Nutzung veränderter Mäuse mit der Erteilung eines Patents zunehmen wird. Die Kammer kann sich dieser Behauptung (denn nichts anderes ist dieses Vorbringen mangels einschlägiger Beweise) nicht anschließen. Da ein Patent ein befristetes Monopol verleiht, können nur der Patentinhaber und seine Lizenznehmer das Patent während seiner Laufzeit (20 Jahre bei europäischen und den meisten anderen Patenten) ausführen. Da ungehinderter Wettbewerb nach allgemeinem Dafürhalten zu einer verstärkten Wirtschaftsaktivität führt, kann ein solches Monopol sogar bedeuten, dass die Nutzung veränderter Mäuse in der Anfangszeit geringer ist, als sie es anderenfalls wäre. Die Erklärung des Beschwerdegegners in seinem Vorbringen während der mündlichen Verhandlung (die fast einem Eingeständnis zu seinen Ungunsten gleichkam), die vorliegende Erfindung sei "erstaunlich unprofitabel" gewesen (s. vorstehend Nr. XXXI.21), ist - soweit es überhaupt von Belang ist - im Wesentlichen so zu verstehen, dass sie die gänzlich unfundierten Argumente der Beschwerdeführer widerlegt. Wenn nämlich das Patent den Handel mit transgenen Tieren tatsächlich verstärkt hätte, dann wäre zu erwarten gewesen, dass der Inhaber eines Monopols auf bestimmte Tiere dieser Art stärker davon profitiert hätte als vom Beschwerdegegner angegeben.
13.2.13 Abschließend wird sich die Kammer nun mit dem übrigen Material zur öffentlichen Meinung am Prioritätstag befassen. Streng genommen sollte sie nur die vorliegende Erfindung betreffendes Beweismaterial prüfen, doch wurde solches - wie vom Beschwerdegegner richtig erkannt (s. vorstehend Nr. XXXI.11) - nicht vorgelegt. Unter diesen Umständen kann die Kammer daher nur die Argumente prüfen, die hinsichtlich der öffentlichen Meinung zur genetischen Veränderung von Tieren im Allgemeinen vorgebracht wurden. Das Material, das in diesem Zusammenhang als Beweismaterial eingereicht oder der Kammer als Teil des Vorbringens der einzelnen Beteiligten zur Kenntnis gebracht wurde, betraf im Fall der Beschwerdeführer das öffentliche Unbehagen, den Ausgang des entsprechenden Verfahrens in Kanada, Bezugnahmen auf Tiere in europäischen Verträgen, die EU- und die nationale Gesetzgebung über die Nutzung von Tieren zu Versuchszwecken, Erklärungen und Entschließungen verschiedener Gremien, einschließlich Kirchen, nationaler Parlamente und des EU-Parlaments sowie Meinungsumfragen. Das Material des Beschwerdegegners bezog sich auf die Akzeptanz der Verwendung von Tieren in der medizinischen Forschung.
13.2.14 Die Kammer möchte jedoch, bevor sie auf dieses Material eingeht, nochmals (s. vorstehend Nr. 10.8) betonen, dass auf die öffentliche Meinung abstellende Argumente nach Artikel 53 a) EPÜ, wie alle anderen Argumente auch, durch Beweise zu stützen sind. Die Kammer unterstellt keineswegs, dass irgendeiner der Beteiligten durch die Nichtvorlage von Beweismaterial eine falsche Fährte legen wollte, doch reicht eine bloße schriftliche oder mündliche Behauptung nicht aus, um eine Tatsache zu beweisen. Es lässt sich z. B. durchaus leicht belegen, dass der Tierschutz im Entwurf der Europäischen Verfassung verankert ist, indem man eine Abschrift dieses Entwurfs einreicht. Ebenso ist es gängige Praxis in den meisten europäischen (s. Art. 125 EPÜ) und auch in anderen Ländern, dass man die Vorschriften anderer Rechtssysteme als desjenigen, vor dem das Verfahren anhängig ist, durch Beweismittel belegt, z. B. indem man Abschriften solcher Rechtstexte (falls erforderlich in Übersetzung) als Unterlagen und/oder gegebenenfalls Gutachten von mit dem betreffenden Rechtssystem vertrauten Juristen als Sachverständigenbeweise einreicht. Obwohl die Kammer alle nicht belegten Behauptungen hätte ignorieren können (nicht zuletzt, weil sie die Beteiligten ausdrücklich aufgefordert hatte, Beweismittel vorzulegen; s. vorstehend Nr. XI.2), hat sie ihnen, wo dies möglich war, so viel Bedeutung beigemessen wie sie konnte - zum Teil weil die Behauptungen selbst ohne Beweismaterial allgemein bekannt und/oder leicht zu überprüfen sind, zum Teil weil der Beschwerdegegner, auch wenn er sich beklagte, dass die Beschwerdeführer insgesamt zu wenig direkte Beweise vorgelegt hätten, dennoch auf alle ihre Argumente, einschließlich der nicht substantiierten Behauptungen, einging.
13.2.15 Die Beschwerdeführerin 1 brachte vor, dass Tierpatente "öffentliches Unbehagen" hervorriefen, wie es laut T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476, Nr. II der Sachverhalte) in den Vereinigten Staaten zu verzeichnen war und wie es in dem kanadischen Krebsmausverfahren zum Ausdruck kam. Die entsprechende Passage in T 19/90, auf die sich die Beschwerdeführerin bezieht, lautet wie folgt:
" c) Die Prüfungsabteilung sei auch der Meinung, dass Artikel 53 a) EPÜ berücksichtigt werden müsse, der Erfindungen vom Patentschutz ausschließe, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die "öffentliche Ordnung" oder die guten Sitten verstießen; so sei etwa in den Vereinigten Staaten die Patentierung höherer Lebewesen aus ethischen Gründen scharf kritisiert worden." (Hervorhebung durch die Kammer)
Hierbei handelt es sich lediglich um eine seinerzeit von der Kammer aufgegriffene Bemerkung der Prüfungsabteilung in der damals angefochtenen Entscheidung. Als Feststellung ist es nichts weiter als ein ganz banaler Gemeinplatz, dem sich selbst der Beschwerdegegner anschließen würde (s. seine Erwiderung vom 2. April 2004, Abs. 13) und der für den vorliegenden Fall auch dann nicht an Bedeutung gewinnen würde, wenn sich nachweisen ließe, dass er sich auf das Meinungsbild in Europa und nicht in den Vereinigten Staaten bezog, und zwar am wirksamen Datum, also am 22. Juni 1984 und nicht Ende 1990.
13.2.16 Die Kammer hat sich die betreffende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Kanadas in dem dortigen Rechtsfall beschafft und zur Kenntnis genommen. Darin ging es, wie von der Beschwerdeführerin 1 erwähnt und vom Beschwerdegegner geltend gemacht, um die Bedeutung von Begriffen, die im kanadischen Patentrecht enthalten sind, aber nicht im EPÜ. Der Oberste Gerichtshof hatte nach drei früheren Berufungsverfahren im Anschluss an die Entscheidung des Prüfers rechtskräftig entschieden, dass die Begriffe "manufacture" (Erzeugung) und "composition of matter" (Stoffgemisch) höhere Lebensformen ausschließen. Zusammenfassend ist nicht nur festzuhalten, dass diese Entscheidung außerhalb Europas ergangen ist, dass sie Rechtsbegriffe betrifft, die im Patentrecht nach dem EPÜ nicht vorkommen, und dass die Ansichten des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2002 stammen, sondern auch, dass die Entscheidung eindeutig nicht besagt, dass Tierpatente öffentliches Unbehagen hervorrufen.
13.2.17 Sehr wenig Beweismaterial wurde zu dem auf Verträgen, Rechtsvorschriften, politischen und religiösen Überzeugungen beruhenden Vorbringen eingereicht, dass Tiere schutzwürdig sind und die Patentierung von Tieren verboten werden sollte. Doch auch wenn bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere die Dokumente (28) und (29), die Vorschläge für Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 8. und 10. Februar 1993) kein Beweismaterial vorgelegt wurde, kann die Kammer ohne Weiteres akzeptieren, dass Sorge und Besorgnis um das Wohlergehen von Tieren eine anerkannte Norm des europäischen Kulturkreises ist und dies auch am Prioritätstag des Streitpatents war.
13.2.18 Demgegenüber ist anzumerken, dass die Beschwerdeführerin 1 auch auf die Richtlinien 86/609/EWG und 98/44/EG und das im Vereinigten Königreich geltende Genehmigungsverfahren für die Verwendung von Tieren zu Forschungszwecken verwiesen hat. Damit wollte sie offenbar zeigen, dass die Verwendung von Tieren in der experimentellen medizinischen Forschung - im Einklang mit der im vorstehenden Absatz erwähnten Besorgnis um das Wohlergehen der Tiere - streng reglementiert ist. Die Existenz dieser Richtlinien und der nationalen Rechtsvorschriften stützt jedoch auch die Aussage des Beschwerdegegners, dass die Verwendung von Tieren in der medizinischen und wissenschaftlichen Forschung zwar durch die von der Beschwerdeführerin 1 angeführten Regelungen streng kontrolliert wird, aber gleichzeitig im europäischen Kulturkreis etabliert ist. Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an und kommt somit zu dem Schluss, dass nicht nur das Wohlergehen der Tiere, sondern auch ihre Verwendung zu Forschungs- und Versuchszwecken in der europäischen Kultur verankert ist und es auch am Prioritätstag des Streitpatents war.
13.2.19 Die übrigen Beweise, die die Beschwerdeführer (vor allem die Beschwerdeführer 1 und 2) vorlegten, gehörten zur Kategorie der Meinungsumfragen. Die Kammer hat bereits unter Nummer 10.4 dargelegt, dass sie Meinungsumfragen - genauso wie die Kammer 3.3.4 in T 356/93 (ABl. EPA 1995, 545) - für kein geeignetes Mittel zur Beurteilung der öffentlichen Meinung hält. In dieselbe Richtung geht auch der Einwand des Beschwerdegegners, dass die Befragten über ein gewisses Maß an Bildung in verschiedenen Bereichen verfügen müssten, um die in einer Erhebung gestellten Fragen sinnvoll beantworten zu können (s. vorstehend Nr. XXXI.17). Die Beschwerdeführerin 1 bezog sich auf eine 1998 im Vereinigten Königreich durchgeführte Umfrage, die sie selbst in Auftrag gegeben hatte, und auf eine europaweite Umfrage zur Biotechnologie mit 16 000 Teilnehmern aus dem Jahr 1996. Die Beschwerdeführer 2 beriefen sich auf eine Umfrage unter 500 Personen in Deutschland aus dem Jahr 1993. Es wurden keine Angaben zur Methodik dieser Umfragen gemacht, etwa dazu, ob die Umfragen von ausgebildeten Meinungsforschern oder von ungeschultem Personal durchgeführt wurden; ob die Befragten auf der Straße angehalten wurden und die Fragen in aller Eile beantwortet haben oder in bequeme Räumlichkeiten gebeten wurden und ausreichend Zeit zum Nachdenken hatten; ob ihre Teilnahme freiwillig war oder ob sie honoriert wurde; welche anderen Fragen ihnen neben denen gestellt wurden, die in diesem Verfahren eine Rolle spielten (so könnte eine vorangegangene Frage moralische Entrüstung hervorgerufen und diese wiederum die Antwort auf eine hier zitierte Frage beeinflusst haben); ob offene Fragestellungen benutzt wurden, also z. B. "Wie stehen Sie zur genetischen Veränderung von Tieren?", was eine Vielzahl von Antworten zulässt, oder geschlossene, wie z. B. "Finden Sie die genetische Veränderung von Tieren akzeptabel?", was nur zwei Antwortmöglichkeiten zulässt; wie die Umfrageergebnisse analysiert wurden, z. B. wie "Ich weiß nicht"-Antworten gewertet wurden.
13.2.20 Mit diesen Vorbehalten hat die Kammer beurteilt, was den ihr vorgelegten Informationen über die drei angeführten Meinungsumfragen zu entnehmen ist.
a) Die Umfrage der Beschwerdeführerin 1, die 1998 im Vereinigten Königreich durchgeführt wurde (Umfang und Zusammensetzung der Zielgruppe unbekannt, keine Angabe zur Zahl der Fragen), ergab, dass 82 % der Befragten gegen eine Patentierung von Tieren waren, woraus die Beschwerdeführerin schloss, dass diese Personen "per definitionem gegen eine Patentierung der Krebsmaus gewesen sein müssen" (s. Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin 1, Nr. 36 f)). Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Patentierung von Tieren im Allgemeinen, sondern um die Verwertung der Krebsmauserfindung (s. vorstehend Nrn. 4.3 und 4.4). Die Schlussfolgerung der Beschwerdeführerin 1 kann also insofern nicht richtig sein, als die Umfrageteilnehmer die geplante Verwendung der Krebsmaus gar nicht kennen konnten. Diese Umfrage belegt daher bestenfalls, dass die Verwertung der vorliegenden Erfindung zum fraglichen Zeitpunkt in einem großen europäischen Land auf eine gewisse öffentliche Ablehnung stieß.
b) Die Beschwerdeführerin 1 berief sich ferner auf eine 1996 von der Europäischen Union durchgeführte europaweite Umfrage unter 16 000 Personen, die offenbar auf Aspekte der Biotechnologie beschränkt war. Auf die Frage "Finden Sie es für die Gesellschaft moralisch vertretbar, genetisch veränderte Tiere für die Laborforschung zu entwickeln, z. B. eine Maus mit Genen, die zur Krebsbildung führen?" antworteten der Beschwerdeführerin 1 zufolge 47,8 % (d. h. 7 648 Personen), dass sie es nicht vertretbar fänden, und 41,2 % (d. h. 6 592 Personen), dass sie es vertretbar fänden. Diese Frage richtet sich eindeutig auf die vorliegende Erfindung, weswegen die Antwort sorgfältig ausgewertet werden muss. Zunächst ist festzustellen, dass die Zahl der Befragten, deren Meinung nicht bekannt ist (11 % bzw. 1 760 Personen), größer ist als die Differenz zwischen den beiden Gruppen, die sich dafür oder dagegen ausgesprochen haben (6,6 % bzw. 1 056 Personen). Als zweites ist festzuhalten, dass der Aussagewert dieser Frage - abgesehen vom Einfluss anderer Fragen der Erhebung, die die Beschwerdeführerin nicht zitiert hat - durch die Art ihrer Formulierung geschmälert wird, denn es ist eine "Doppelfrage", die sowohl das Allgemeine als auch das Besondere umfasst. Wäre in der Umfrage als Erstes gefragt worden "Finden Sie es für die Gesellschaft moralisch vertretbar, genetisch veränderte Tiere für die Laborforschung zu entwickeln?" und anschließend "Finden Sie es für die Gesellschaft moralisch vertretbar, eine Maus mit Genen zu entwickeln, die zur Krebsbildung führen?", so hätte die zweite Frage einen sehr begrenzten Aussagewert gehabt. Durch die Verbindung der beiden Fragen zu einer wird die Antwort der Befragten auf die konkrete Frage nach einer genetisch veränderten Maus jedoch so emotionalisiert, dass sie praktisch wertlos ist.
c) Die Beschwerdeführer 2 beriefen sich auf eine Umfrage unter 500 Personen in Deutschland aus dem Jahr 1993, in der 70 % angegeben hatten, dass sie die Patentierung genetisch veränderter Tiere für die Krebsforschung moralisch verwerflich fänden. Alles, was sich dieser Umfrage entnehmen lässt, ist also, dass 350 Personen im größten europäischen Land 1993 die Patentierung genetisch veränderter Tiere für die Krebsforschung ablehnten - damit ist hinreichend gezeigt, dass diese Umfrage keinen Beweiswert für den vorliegenden Fall hat.
13.2.21 Nachdem die Kammer nunmehr alle Vorbringen zur öffentlichen Meinung - ob mit oder ohne Beweismaterial - berücksichtigt hat, kann sie nur zu dem Ergebnis kommen, dass Tiere in der europäischen Kultur heute und (mangels gegenteiliger Beweise) auch am Prioritätstag des Streitpatents einerseits als empfindungsfähige Wesen geachtet werden, die man nicht unnötig missbraucht oder misshandelt (s. vorstehend Nr. 13.2.17), andererseits aber eine anerkanntermaßen wichtige Rolle beim Testen von Medikamenten und Heilverfahren vor der Anwendung bei Menschen spielen (s. vorstehend Nr. 13.2.18). Eine Folge dieser Dichotomie ist das "Unbehagen" - wie es die Beschwerdeführerin 1 nennt -, das in Bezug auf Tierpatente entstehen kann, was sowohl die Beschwerdeführerin 1 als auch der Beschwerdegegner einräumten (s. vorstehend Nrn. XXIV.2 und XXXI.16). In dem der Kammer vorliegenden Material deutet jedoch nichts darauf hin, dass dieses Unbehagen als moralische Ablehnung der Verwendung von Tieren in der medizinischen Forschung im europäischen Kulturkreis gewertet werden kann, geschweige denn als moralische Ablehnung der Verwendung von Mäusen in der Krebsforschung, d. h. als moralische Ablehnung der Verwertung der vorliegenden Erfindung. Artikel 53 a) EPÜ stellt daher kein Patentierungshindernis für den Gegenstand des ersten Hilfsantrags dar.
13.3 Artikel 53 b) EPÜ
13.3.1 Aus den obigen Ausführungen der Kammer (s. Nr. 11) ergibt sich, dass der erste Hilfsantrag nur dann durch einen Einwand nach Artikel 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden kann, wenn einer oder mehrere seiner Ansprüche auf eine taxonomische Kategorie gerichtet sind, die mindestens so eng ist wie die der "Tierart", also die breiteste der drei taxonomischen Kategorien, die in den drei Sprachfassungen des Artikels 53 b) EPÜ ausgeschlossen werden. Die Beschwerdeführer 3 bis 6 und die Einsprechende 3 behaupteten alle, die transgenen Mäuse des Streitpatents seien eine neue Art. Die Einsprechende 3 begründete das damit, dass die Mäuse ein bestimmtes Merkmal vererbten, nämlich eine erhöhte Neigung zur Entwicklung von Tumoren. Dies reicht aber nach Auffassung der Kammer nicht aus, um eine neue Art entstehen zu lassen, wenn den Patentansprüchen zufolge das mögliche "Ausgangsmaterial" von einer ganzen Tiergattung, nämlich der der Mäuse, stammen kann. Hätte die Einsprechende 3 Recht, so könnte man das im Patent beanspruchte Verfahren z. B. mit drei verschiedenen Mäusearten durchführen und würde im Ergebnis Tiere ein und derselben neuen Art erhalten. Die Einsprechende 3 blieb jedoch den Beweis dafür schuldig, dass die angeblich neue Art von irgendwem als solche angesehen oder anerkannt würde, geschweige denn von Fachleuten auf einem Gebiet, das die Klassifizierung von Tieren voraussetzt, wie die Biologie oder Zoologie.
13.3.2 Ebenso wenig legten die Beschwerdeführer 3 bis 6 Beweismaterial vor, um ihre Auslegung des Artbegriffs zu stützen. Sie argumentierten, dass Arten lediglich abstrakte Begriffe seien, und es Ziel des Gesetzgebers gewesen sei, alle einer beliebigen Art angehörenden Tiere vom Patentschutz auszunehmen. Die Kammer weist dieses Argument zurück. Wie auch immer man Artikel 53 b) EPÜ definieren mag, fest steht, dass er nicht alle Tiere vom Patentschutz ausschließt, sondern nur eine begrenzte Kategorie von Tieren (wie bereits vorstehend unter Nr. 4.4 ausgeführt). Gestützt wird diese Auffassung durch die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) in Bezug auf Pflanzen, die ebenfalls unter Artikel 53 b) EPÜ fallen. Dieselben Beschwerdeführer brachten auch vor, dass der Gesetzgeber, wenn er gewollt hätte, dass neue Pflanzensorten oder Tierarten patentierbar sein sollen, dies ausdrücklich gesagt hätte. Auch hier ist die Kammer anderer Auffassung. Es steht dem Gesetzgeber frei, mit welchen Worten und in welcher Form er Ausschlüsse von der Patentierbarkeit formuliert (wie ebenfalls schon vorstehend unter den Nrn. 5.8 und 7.4 ausgeführt). Auch wenn die unterschiedliche Wortwahl der drei Amtssprachen in Artikel 53 b) EPÜ, wie unter Nummer 11 erwähnt, unglücklich ist, steht doch außer Zweifel, dass der Artikel kein generelles Verbot von Tierpatenten vorsieht.
13.3.3 Die von den Beschwerdeführern 3 bis 6 zur Stützung ihres Vorbringens angeführte Rechtsprechung hilft ihnen nach Auffassung der Kammer nicht. So argumentierten sie zunächst, dass nach Nummer 97 der Entscheidungsgründe in T 1054/96 (ABl. EPA 1998, 511) dem Artikel 4 (2) der EU-Richtlinie 98/44/EG mit der Zulassung von Verfahrensansprüchen Genüge getan sei. Artikel 4 (2) der EU-Richtlinie 98/44/EG ist de facto identisch mit Regel 23c b) EPÜ. Mit der Entscheidung T 1054/96 legte die Kammer 3.3.4 der Großen Beschwerdekammer mehrere Rechtsfragen zu Artikel 53 b) EPÜ vor, die dazu in G 1/98 Stellung nahm. Die Begründung der Vorlageentscheidung enthält daher alternative Ansichten und per definitionem keine endgültige. Nummer 97, auf die die Beschwerdeführer verweisen, beginnt wie folgt:
"Man könnte aber auch die Ansicht vertreten, dass Artikel 4 (2) der Richtlinie mit der Zulassung von Verfahrensansprüchen Genüge getan ist."
Die Worte "aber auch" verdeutlichen, dass dies nur eine von mehreren Ansichten ist, und in der Tat gibt die vorstehende Nummer 96 nicht nur eine andere Ansicht wieder, sondern beginnt, nachdem unter Nummer 95 mehrere Stellen aus der Richtlinie zitiert wurden, mit dem Satz:
"Diese Zitate legen den Schluss nahe, dass die Verfasser der Richtlinie mit Zustimmung des Europäischen Parlaments erreichen wollten, dass immer dann, wenn die Erfindung - technisch gesehen - ein auf mehr als eine Sorte anwendbares gentechnisches Konzept ist, die resultierenden Erzeugnisse patentierbar sind, auch wenn es sich um Pflanzensorten handelt."
Offensichtlich ging es also unter den Nummern 96 und 97 der Entscheidung T 1054/96 darum, ob Pflanzen patentiert werden können oder ob Verfahren zur Züchtung von Pflanzen patentiert werden können, und die vorlegende Kammer hielt die Patentierung von Pflanzen für die schlüssigste Interpretation. Dem Vorbringen der Beteiligten, die Erzeugnisansprüche auf Tiere nach Artikel 53 b) EPÜ ausschließen wollten, ist das schlichtweg nicht dienlich.
13.3.4 Die Beschwerdeführer 3 bis 6 beriefen sich ferner auf Nummer 3.3.3 der Entscheidungsgründe von G 1/98. Sie behaupteten, die Große Kammer habe dort gesagt, dass ein Kopiergerät, dessen einziger Zweck in der Fälschung von Banknoten bestehe, nicht patentierbar sei, während dasselbe Gerät patentierbar sein könnte, wenn es auch für andere Zwecke einsetzbar sei. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass analog dazu die ausschließlich auf Mäusearten gerichteten Ansprüche des ersten Hilfsantrags nicht gewährbar seien. Die einschlägige Passage in G 1/98 lautet wie folgt (Nr. 3.3.3 der Entscheidungsgründe):
"Es bietet sich an, auf die andere Ausschlussbestimmung in Artikel 53 a) EPÜ einzugehen und zu überlegen, wie die Sachlage wäre, wenn ein Anspruch etwas umfasste, was gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstoßen würde. Gesetzt den Fall, eine beanspruchte Erfindung beträfe ein Kopiergerät mit Merkmalen, die zu einer höheren Wiedergabequalität führten, und eine Ausführungsart dieser Vorrichtung könnte weitere (nicht beanspruchte, für den Fachmann aber offensichtliche) Merkmale umfassen, deren einziger Zweck darin bestünde, auch die Wiedergabe von Sicherheitsstreifen in Banknoten mit verblüffender Ähnlichkeit zu echten Banknoten zu ermöglichen: Dann würde die beanspruchte Vorrichtung eine Ausführungsart für die Herstellung von Falschgeld umfassen, die unter Umständen unter Artikel 53 a) EPÜ fiele. Es gäbe aber keinen Grund, das beanspruchte Kopiergerät vom Patentschutz auszuschließen, weil seine verbesserten Eigenschaften für zahlreiche zulässige Zwecke genutzt werden könnten."
Es ist unschwer zu erkennen, dass sich diese Passage zum einen nicht auf Artikel 53 b), sondern auf Artikel 53 a) EPÜ bezieht, und zum anderen nicht das besagt, was die Beschwerdeführer behaupten. Sie besagt nämlich, dass eine mögliche gesetzeswidrige Ausführungsform nicht zum Ausschluss einer Erfindung von der Patentierbarkeit führt. Die von den Beschwerdeführern geltend gemachte Analogie kommt hier ganz einfach nicht zum Tragen. Selbst wenn dem so wäre, würde eine Ersetzung der "Geldfälschungsansprüche" durch "Mäuseartenansprüche" voraussetzen, dass bereits feststeht, dass die Streitansprüche auf Mäusearten gerichtet sind, was ebenso wenig der Fall ist. Wie bereits erwähnt, haben diese Beschwerdeführer die im ersten Hilfsantrag beanspruchten Mäuse ohne irgendeine Beweisgrundlage einfach als Art bezeichnet.
13.3.5 In dem verbleibenden Vorbringen zu Artikel 53 b) EPÜ hatten die Beschwerdeführer 3 bis 6 vorgetragen, dass das beanspruchte Verfahren zur Erzeugung transgener Mäuse ein "im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Tieren" und somit nach diesem Artikel von der Patentierbarkeit auszuschließen sei. In Regel 23b (5) EPÜ heißt es jedoch:
"Ein Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentlichen biologisch, wenn es vollständig auf natürlichen Phänomenen wie Kreuzung oder Selektion beruht."
Es versteht sich von selbst, dass ein Verfahren, das eine Genmanipulation einschließt, nicht vollständig auf natürlichen Phänomenen beruht.
13.3.6 Artikel 53 b) EPÜ steht somit der Patentierbarkeit des ersten Hilfsantrags nicht entgegen.
[Unter den Nrn. 13.4 bis 13.8 stellte die Kammer fest, dass der erste Hilfsantrag den Artikeln 123 (2) und (3), 84, 54, 56, 83 und 57 EPÜ genügt.]
13.9 Zulässigkeit des ersten Hilfsantrags
Aus den unter den Nummern 13.1 bis 13.8 genannten Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der erste Hilfsantrag mit den auf "Mäuse" beschränkten Ansprüchen die Erfordernisse des EPÜ erfüllt und daher zulässig ist.
[Unter Nr. 14 der Entscheidungsgründe entschied die Kammer, dass die von einigen Beteiligten eingereichten Rechtsfragen nicht der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden müssen, und unter Nr. 15, dass die Anträge einiger Beteiligter auf Kostenübernahme durch das EPA unzulässig sind.]
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage folgender Unterlagen aufrechtzuerhalten:
in der mündlichen Verhandlung eingereichter erster Hilfsantrag
Beschreibung Seiten 3, 6 und 10 in der während der mündlichen Verhandlung geänderten Fassung
Beschreibung wie erteilt Seiten 4, 5 und 7 bis 9 und Zeichnungen 1 bis 8 des erteilten Patents
3. Die Anträge auf Vorlage von Rechtsfragen an die Große Beschwerdekammer werden zurückgewiesen.
4. Die Anträge auf Kostenübernahme durch das Europäische Patentamt werden als unzulässig zurückgewiesen.