G 0001/88 (Schweigen des Einsprechenden) 27-01-1989
Download and more information:
Zulässigkeit der Beschwerde des Einsprechenden
Schweigen des Einsprechenden auf Aufforderung nach Regel 58(4)
Anwendung von Regel 58(4)
Sachverhalt und Anträge
I. Der Großen Beschwerdekammer wurde in der Beschwerdesache T 271/85 durch Entscheidung vom 9. März 1988 (ABl. EPA 1988, 341) folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Ist die Beschwerde eines Einsprechenden zulässig, der nach Zustellung der Mitteilung gemäß Regel 58 (4) EPÜ es unterläßt, innerhalb eines Monats Stellung zu nehmen, wenn er mit der Fassung, in der das Patent aufrechterhalten werden soll, nicht einverstanden ist?"
Diese Rechtsfrage ergab sich aus der Art der Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ durch die Erstinstanz des EPA, und sie hat sich auch in anderen Beschwerdeverfahren gestellt.
II. Die Entscheidung über den Einspruch gegen ein europäisches Patent kann nach Art. 102 (1) - (3) EPÜ lauten auf: Wider ruf des Patents, Zurückweisung des Einspruchs oder Auf rechterhaltung des Patents in geändertem Umfang. Im letzteren Fall bedarf es der Veröffentlichung einer neuen europäischen Patentschrift. Die Zahlung der Druckkosten gebühr ist nach Art. 103 (3) Buchst. b) EPÜ Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang. Die Aufforderung zu ihrer Zahlung kann in den Vertrags staaten nach Art. 65 (1) EPÜ als Beginn der Frist zur Einreichung von Übersetzungen maßgebend sein.
Im Hinblick auf diese Regelungen ging das EPA in der Praxis sehr früh dazu über, eine geänderte Fassung des Patents zunächst in einer an sich nicht ausdrücklich vorgesehenen Zwischenentscheidung festzulegen. Erst nach Rechtskraft dieser Zwischenentscheidung wird nach Regel 58 (5) EPÜ die Druckkostengebühr und eine Übersetzung der Patentansprüche in die weiteren Amtssprachen angefordert. Nach Erfüllung dieser Erfordernisse ergeht die dann unan fechtbare Endentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang. Danach erfolgt die Herausgabe der neuen Patentschrift.
III. Eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents - auch eine Zwischenentscheidung - kann allerdings nur ergehen, wenn nach Art. 113 (2) EPÜ eine vom Patentinhaber "vorgelegte oder gebilligte" Fassung vor liegt. Hinsichtlich dieses Erfordernisses ist in Art. 102 (3) a) EPÜ gesagt, daß das Einverständnis des Patentinhabers mit der Fassung "gemäß der Ausführungsordnung" feststehen muß. Dies hat in der Praxis der Einspruchsabteilungen des EPA dazu geführt, daß die entsprechende Regel 58 (4) EPÜ immer und auch dann angewendet wird, wenn die in Aussicht genommene Fassung bereits während des Verfahrens vom Patentinhaber "vorgelegt oder gebilligt" und auch schon vom Einsprechenden abgelehnt war.
IV. Auch die Beschwerdekammern waren in ihrem eigenen Verfahren im Hinblick auf Regel 66 (1) EPÜ bald vor die Frage gestellt, ob und wann sie Regel 58 (4) EPÜ anwenden sollten. Dies galt um so mehr, als meistens nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden war und die in Aussicht genom mene beschränkte Fassung des Patents im Laufe des Ver fahrens vom Patentinhaber "vorgelegt oder gebilligt" und auch mit dem Einsprechenden erörtert worden war. In der Entscheidung T 219/83 vom 26. November 1985 (ABl. EPA 1986, 211) wird gesagt, daß eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ "nur dann erforderlich ist, wenn den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung eine abschließende sachliche Stellungnahme zu der Änderung des europäischen Patents nicht zuzumuten ist". Mit der Entscheidung T 185/84 (ABl. EPA 1986, 373) wird dies durch eine andere Kammer bestätigt. Es folgen mehrere Entscheidungen, in denen - jeweils bei besonderer Fallgestaltung - ebenfalls auf eine Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ verzichtet wird. In der Entscheidung T 390/86 vom 17. November 1987 (ABl. EPA 1989, 30) wird sogar hervorgehoben, daß es bei der Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ lediglich um die Billigung "des Textes" geht und nicht um eine grundsätzliche Stellungnahme zu Aufrechterhaltung oder Widerruf des Patents an sich (a. a. O. Gründe Nr. 3.2).
V. Von der Erstinstanz des EPA hingegen wird Regel 58 (4) EPÜ wohl immer und ungeachtet der bereits vorliegenden Anträge und Stellungnahmen der Beteiligten angewendet. Der Patentinhaber wird also auch dann zur Stellungnahme aufgefordert, wenn er die in Aussicht genommene Fassung selbst beantragt hat. Der Einsprechende, der regelmäßig den Widerruf des Patents schlechthin begehrt, wird aufgefordert, zu einer beschränkten Fassung Stellung zu nehmen, auch wenn er bereits bekundet hat, daß er an der Beschränkung als solcher keinen Anstoß nimmt, d.h. sie nicht als eine unzulässige Erweiterung wertet. Die Bezugnahme "gemäß der Ausführungsordnung" in Art. 102 (3) a) wird von der Erstinstanz also so verstan den, daß die Stellungnahmen der Beteiligten ungeachtet Aktenlage und Verfahrensstand immer durch eine Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ einzuholen sind. In den Anfangsjahren wurde dabei noch nicht die Schlußfolgerung gezogen, daß ein Schweigen des Einsprechenden als Zustimmung zur Aufrechterhaltung des Patents in beschränktem Umfang zu werten ist und er damit seine Beschwer im Sinne von Art. 107 EPÜ verliert (vgl. Mitteilung des EPA "Einspruchsverfahren im EPA" in ABl. EPA 1981, 74 und die älteren Fassungen der Richtlinien). Diese Auffassung wird erstmals in einer Fußnote zur Rechtsauskunft Nr. 15/84 betreffend Haupt- und Hilfsanträge (ABl. EPA 1984, 491, 495) und sodann in der Neufassung der Richtlinien vom März 1985 (Teil D Kap. VI - 6.2.1) vertreten. Dementsprechend wird am Ende des Formblattes "Mitteilung gemäß Regel 58 (4) EPÜ" (EPA Form 2325.3) folgender Hinweis gegeben:
"Der Einsprechende, der keine Einwendungen gegen die mitgeteilte Fassung erhoben hat, ist durch die Auf rechterhaltung in geänderten Umfang nicht beschwert. Ihm steht daher keine Beschwerde gegen diese Entscheidung mehr zu (Art. 107 Satz 1 EPÜ)."
VI. Diese Auffassung fand ihre Bestätigung in der Entscheidung T 244/85 vom 23. Januar 1987 (ABl. EPA 1988, 216), die folgendes besagt:
"Die Beschwerde eines Einsprechenden, der sein Nicht einverständnis mit der Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang nicht innerhalb der Monatsfrist der Regel 58 (4) EPÜ erklärt, ist mangels Beschwer unzulässig."
Im vorliegenden Verfahren geht es vornehmlich darum, ob die Große Beschwerdekammer diese Rechtsauffassung billigen kann.
VII. In der Beschwerdesache T 271/85 vor der Technischen Beschwerdekammer 3.3.1 stellte sich nun erneut die von der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 in der Beschwerdesache T 244/85 entschiedene Frage (oben VI.). Die Beschwerdekammer 3.3.1 legte diese Rechtsfrage nunmehr der Großen Beschwerdekammer vor. In der Entscheidung über die Vorlage (ABl. EPA 1988, 341) legt die Kammer dar, daß sie die Beschwerde in Übereinstimmung mit der Entscheidung T 244/85 für unzulässig halte. Dennoch lege sie die Rechtsfrage vor, weil ihr eine grundsätzliche Bedeutung zukomme.
VIII. Den am Beschwerdeverfahren T 271/85 Beteiligten war gemäß Art. 112 (2) EPÜ Gelegenheit gegeben worden, sich zu der Rechtsfrage zu äußern und im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer Anträge zu stellen. Der Vertreter des Beschwerdeführers (Einsprechenden) hatte bereits im Verfahren vor der Beschwerdekammer umfangreiche Rechtsausführungen gemacht. Er sah von einer weiteren Stellungnahme ab und beantragte mündliche Verhandlung nur für den Fall, daß die Große Beschwerdekammer dazu neigen sollte, die Zulässigkeit seiner Beschwerde zu verneinen. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) nahm auf seine bisherige Stellungnahme Bezug und hielt seinen Antrag, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, aufrecht. Als sein allgemeines Anliegen stellte er jedoch heraus, daß in den Fällen einer Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents in geändertem Umfang zunächst die Rechtskraft dieser Zwischenentscheidung abgewartet werden müsse, bevor die Aufforderung nach Regel 58 Absatz 5 EPÜ an den Patentinhaber ergeht. Dies sei vor allem deswegen notwendig, weil diese Aufforderung nach Art. 65 (1) EPÜ in bestimmten Vertragsstaaten die Frist zur Einreichung von Übersetzungen in Lauf setzen könne.
Entscheidungsgründe
1. Die zu entscheidende Rechtsfrage ist der Großen Beschwer dekammer mit der Entscheidung T 271/85 gemäß Art. 112 (1) EPÜ vorgelegt worden.
2. Die Beantwortung der gestellten Rechtsfrage erfordert ein Überdenken der Entscheidung T 244/85. Ausgehend von einer Wortauslegung der Regel 58 (4) EPÜ wird in dieser Ent scheidung (Gründe Nr. 8) das Schweigen des Einsprechenden nicht nur in dem Sinne gewertet, daß der Einsprechende in der mitgeteilten Fassung keine unzulässige Erweiterung im Sinne von Art. 123 Abs. 2 und insbes. Abs. 3 EPÜ sieht. Vielmehr wird das Schweigen ähnlich gewertet, als ob der Einsprechende nunmehr von seinem früheren Begehren - dem Widerruf des Patents - abgehe.
2.1. Das Hauptargument für eine solche Deutung des Schweigens wird abgeleitet aus dem Satz "Qui tacet consentire videtur" (Wer schweigt, scheint zuzustimmen; Digesten 19,2,13 11). Vorausgesetzt wird dabei, daß nach Art und Abfassung der Mitteilung nach Regel 58 (4) entsprechend dem Formblatt (oben V.) dem Einsprechenden im Falle des Nicht- Einverständnisses eine Antwort zuzumuten ist. Es wird also nicht übersehen, daß die lateinische Rechtsregel nur mit der Einschränkung gilt: "... ubi loqui debuit" (... wo er hätte sprechen müssen; Digesten a. a. O.). Für den Fall, daß der Einsprechende an seinem bisherigen Begehren - regelmäßig dem Widerruf des Patents - festhält, wird also die Äußerung als eine Obliegenheit angesehen. Zur Annahme einer solchen Obliegenheit kann der Text der Regel 58 (4) EPÜ durchaus verleiten. Die Formulierung "... fordert ... auf, ... Stellung zu nehmen, ..." kann so verstanden werden, daß nicht nur eine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, sondern eine Stellungnahme gefordert und erwartet wird, falls der Einsprechende seinen bisherigen, regelmäßig auf Widerruf des Patents gerichteten Antrag, aufrechterhält. Der Entscheidung T 244/85 ist zuzugeben, daß dieses Verständnis noch dadurch verstärkt wird, daß das Einverständnis zur geänderten "Fassung des Patents" erwartet wird. Unter "Fassung des Patents" kann mehr als nur die Fassung des Textes, nämlich das Patent als solches mit seinem materiellen Inhalt verstanden werden (vgl. auch Art. 113 (2) EPÜ).
2.2. Demgegenüber kann die Regel 58 (4) EPÜ auch bei reiner Wortauslegung anders verstanden werden, nämlich dahingehend, daß es nur um das Einverständnis der Beteiligten "mit der Fassung" geht. Der Einsprechende wäre dabei insbesondere gefragt, ob er in der Fassung eine unzulässige Erweiterung (Verstoß gegen Art. 123 (2) oder (3) EPÜ) sieht. Dem Einsprechenden wäre also lediglich Gelegenheit zu einer Beanstandung des Textes als solchem gegeben, ihm aber nicht die Bekräftigung seiner bisherigen Anträge zur Obliegenheit gemacht. In diesem Sinne wird der Wortlaut der Regel 58 (4) EPÜ in der Entscheidung T 390/86 (oben IV.) ausgelegt. Innerhalb der Rechtsprechung der Beschwerdekammern stehen sich somit zwei verschiedene Auslegungen gegenüber. Dies zeigt schon, daß eine sichere Auslegung der Regel 58 (4) EPÜ nicht aus ihrem Wortlaut allein gewonnen werden kann.
2.3. Auch in der Literatur sind Zweifel an der Anwendung der der Regel 58 (4) EPÜ gemäß ihrem Wortlaut geäußert worden (siehe Van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Nr. 481, Seite 224). Dort wird gesagt, daß diese Regel der Rechtslage nicht entspreche, weil Patentinhaber und Einsprechender ganz verschiedene Rechtsstellungen haben und daher ihr Widerspruch verschiedenen Charakter und verschiedene Rechtsfolgen hat. Bei Widerspruch des Patentinhabers könne das Verfahren nicht nur - wie in Regel 58 (5) EPÜ gesagt - fortgesetzt werden; im Hinblick auf Art. 113 (2) EPÜ müsse es fortgesetzt werden. Auf den Widerspruch des Einsprechenden hingegen könne es fortge setzt werden, falls seine Äußerung als beachtlich angesehen wird. Im übrigen komme es auf einen Widerspruch des Einsprechenden überhaupt nicht an.
2.4. Die Mehrdeutigkeit des Wortlauts der Regel 58 (4) EPÜ und die vorstehenden Ausführungen erlauben zunächst den Schluß, daß man den Text von Regel 58 (4) EPÜ nicht so auslegen kann, als sei dem Einsprechenden der Widerspruch zur Obliegenheit gemacht. Eine Wertung des Schweigens als Zustimmung käme praktisch einer Wertung als Rücknahme des Einspruchs gleich. In das Schweigen würde somit ein Verzicht auf das Beschwerderecht hineingelegt. Rechtsver zicht darf aber nicht ohne weiteres vermutet werden: "A jure nemo recedere praesumitur".
3. Eine Wertung des Schweigens als Verzicht würde auch einer systematischen Auslegung des Übereinkommens widersprechen. Sie würde nämlich nicht in Einklang stehen mit der Gesetzessprache des Übereinkommens (3.1) und der Art und Weise, wie das Übereinkommen Rechtsverluste behandelt (3.2).
3.1. Soll die Rechtsfolge einer Unterlassung ein Rechtsverlust sein, so wird dies - entsprechend der allgemeinen Gesetzestechnik des Übereinkommens - ausdrücklich gesagt. Hierzu gibt es die zahlreichen Beispiele von Rechts verlusten, die auf einer Fiktion beruhen. Auch Art. 122 (1) und Regel 69 (1) gehen davon aus, daß Rechtsverlust als Rechtsfolge ausdrücklich geregelt ist.
3.2. Eine Wertung des Schweigens des Einsprechenden im Rahmen der Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ als Rechtsverlust läßt sich auch in das Übereinkommen kaum einordnen: Regel 69 Absätze 1 und 2 EPÜ wären anzuwenden, bevor die Entscheidung des Formalprüfers über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang ergehen kann. Die Anwendbarkeit von Art. 122 EPÜ wäre im Hinblick auf die Entscheidung G 1/86 "Wiedereinsetzung des Einsprechenden/VOEST" (ABl. EPA 1987, 447) zu prüfen.
4. Ferner ist zu bedenken, daß für jedwede Auslegung der Ausführungsordnung im Hinblick auf Art. 164 (2) EPÜ der Grundsatz der konventionskonformen Auslegung gilt. Danach ist derjenigen Auslegung der Ausführungsordnung der Vorzug zu geben, die am ehesten den Grundsätzen des Übereinkommens entspricht. Ein Grundsatz des Übereinkommens aber ist die Gewährung von Rechtsschutz durch mindestens eine richterliche Instanz. Dieser Grundsatz hat in Vertrags staaten sogar verfassungsmäßigen Rang. Daher ist es geboten, die Ausführungsordnung so auszulegen, daß durch die Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ das Beschwerderecht nach Art. 106 und 107 EPÜ nicht beeinträchtigt wird.
5. Die teleologische Auslegung, also die Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Verfahrens nach Regel 58 (4) EPÜ führt zum selben Ziel. Damit kann die auf die konkrete Rechts frage zu gebende Antwort aus dem Gesamtzusammenhang des Übereinkommens überprüft werden.
5.1. Die Auslegung der Regel 58 (4) EPÜ dahin, daß Schweigen des Einsprechenden einen Verlust seines Beschwerderechts bedeutet, ist das Ergebnis eines Verständnisses dieser Regel, wonach das Verfahren nach Regel 58 (4) EPÜ von der Erstinstanz verstanden wird als ein formalisierter, obligatorischer Verfahrensabschluß, wie er immer zu vollziehen ist, wenn das Patent nach Art. 102 (3) EPÜ in geändertem Umfang aufrechterhalten werden soll. Folgende Überlegungen rechtfertigen Zweifel hieran.
5.1.1. Was zunächst den Patentinhaber anbelangt, so erscheint es zweifelhaft, ob er auch dann, wenn er selbst die beabsichtigte Neufassung des Patents vorgeschlagen und aus drücklich beantragt hat, noch einmal aufgefordert werden soll, zu widersprechen, wenn er mit seinem eigenen Antrag nicht einverstanden ist.
5.1.2. Mit Blick auf den Einsprechenden fragt man sich, was ein formalisierter Verfahrensabschluß soll, wenn der Einsprechende durch den Einspruch selbst und durch alle seine Argumentationen und Anträge vielfach bekundet hat, daß er in erster Linie den Widerruf des Patents schlechthin begehrt, und wenn er außerdem ausreichend Gelegenheit zur Äußerung dazu hatte, ob er in der beabsichtigten Fassung eine unzulässige Erweiterung sieht.
5.1.3. Da Art. 116 (4) EPÜ bei mündlicher Verhandlung die Verkündung der Entscheidung als Regel ansieht, muß man sich fragen, ob diese Verkündung bei Aufrechterhaltung des Patents in beschränktem Umfang durch einen formalisierten, schriftlichen Abschluß des Verfahrens verzögert werden soll, obwohl alle verfahrensmäßigen Rechte der Beteiligten voll gewahrt sind.
5.1.4. Auch die Überlegung, wohin eine solche Art der Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ führen kann, rechtfertigt Zweifel. Begnügt sich der Einsprechende nicht mit einem einfachen Widerspruch, sondern macht er auch Bemerkungen zur Fassung (vgl. Regel 58 (5) EPÜ) oder legt er gar relevante neue Entgegenhaltungen vor (vgl. Art. 114 (2) EPÜ), so kann das Verfahren fortgesetzt werden, und es kommt erneut zur Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ. Allein die einmalige Anwendung erfordert wohl gut vier Monate. Der Einsprechende wäre in der Lage, den Abschluß des Verfahrens erheblich zu verzögern, da jede neue Text-Korrektur eine neue Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ zur Folge hätte und neue, relevante Entgegenhaltungen sogar zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen könnten.
5.2. Die Vorbereitenden Arbeiten hingegen zeigen, daß Regel 58 (4) EPÜ so, wie sie in die Praxis der Erstinstanz des EPA umgesetzt wurde, vom Gesetzgeber nicht gewollt war.
5.2.1. Aus dem "Bericht über die 11. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 28. Februar bis 3. März 1972 in Luxemburg (Dok. BR/177/72 vom 13. April 1972, Seite 29 Nr. 60) ergibt sich, daß man analog zu Art. 97 und Regel 51 EPÜ auch Art. 102 (3) EPÜ um eine Regel ergänzen wollte, aus der sich ergibt, "welches die Rechtsfolgen sind, wenn der Patentin haber (oder der Einsprechende) mit der beabsichtigten geänderten Fassung des Patents nicht einverstanden sind". Sodann ist gesagt:
"Einige Delegationen meinten, ein Widerspruchsrecht gegen die Erteilung dürfe nur dem Patentinhaber zustehen; der Einsprechende dagegen könne ein solches Recht nicht haben; allerdings stehe ihm gegen die Erteilung des endgültigen Patents die Beschwerde offen. Andere Delegationen wollten ein Widerspruchsrecht auch dem Einsprechenden ... zuerkennen. Kompromißweise einigte sich die Arbeitsgruppe auf eine Fassung, nach welcher das Europäische Patentamt berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, das Einspruchsverfahren fortzusetzen, wenn ein Beteiligter mit der beabsichtigten Fassung des Patents nicht einverstanden ist."
5.2.2. Nach den Vorbereitenden Arbeiten sollte Regel 58 (4) EPÜ somit primär im Hinblick auf den Patentinhaber und nur akzessorisch auch für den Einsprechenden eine Regelung bringen. Im Hinblick auf den Patentinhaber sollte die Situation verfahrensrechtlich geregelt werden, die ein tritt, wenn die Einspruchsabteilung eine geänderte Fassung beabsichtigt, hierzu aber das Einverständnis des Patentin habers noch nicht vorliegt. Dies zeigt auch der Ausdruck "Widerspruchsrecht". Hat der Patentinhaber selbst die Fassung des Patents ausdrücklich beantragt, so ist kein Raum mehr für ein "Widerspruchsrecht". Eine Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ erübrigt sich.
5.2.3. Eine derartige Einschränkung des Anwendungsbereichs von Regel 58 (4) EPÜ widerspricht auch nicht Art. 102 (3) EPÜ. Dort wird zwar gesagt, daß "gemäß der Ausführungsordnung" feststehen muß, daß der Patentinhaber mit der Fassung einverstanden ist. Sinn dieser Formulierung, die den Einsprechenden nicht erwähnt, kann aber kaum sein, daß die nach Art. 113 (2) EPÜ zwingend notwendige Billigung des Patentinhabers auch dann, wenn sie bereits vorliegt, erneut "gemäß der Ausführungsordnung" einzuholen ist. Auch andere verfahrensrechtliche Vorschriften des Übereinkommens kennen eine solche Rückbeziehung auf die Ausführungsordnung, so Art. 91 (2), Art. 96 (2), Art. 97 (2) a), Art. 101 (2) und Art. 110 (2) EPÜ. Damit ist aber nicht gesagt, daß eine Regel der Ausführungsordnung auch dann noch zu vollziehen ist, wenn ihr Normzweck bereits erfüllt ist. Verfahrensnormen zur Herbeiführung gesetzlicher Erfordernisse werden nur gebraucht, wenn die Erfordernisse noch nicht erfüllt sind (vgl. z. B. die Entscheidung T 317/86 "Titel der Erfindung/SMIDTH" (ABl. EPA 1988, 464).
5.2.4. Hinsichtlich des Einsprechenden bleibt festzustellen, daß er selbstverständlich zu jedweder Neufassung des Patents rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ hat, insbesondere ob diese Fassung nicht eine unzulässige Erweiterung i. S. v. Art. 123 (2) oder (3) EPÜ darstellt. Im Rahmen der Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ aber ist die Anhörung des Einsprechenden nur akzessorisch, sie "läuft mit". Wenn diese Regel angewendet und damit dem Patentinhaber eine Möglichkeit des Widerspruchs gegeben wird, so erhält auch der Einsprechende eine Möglichkeit dazu, aus seiner Sicht zu widersprechen. Wie schon in der Literatur (oben 2.3) dargelegt, hindert ein Widerspruch des Einsprechenden aber den Abschluß des Verfahrens nicht. Daher kann er auch keine Pflicht zum Widerspruch haben. Er hat nur die Gelegenheit, die beabsichtigte Fassung, z. B. als unzulässige Erweiterung, zu beanstanden. Diese Gelegenheit sollte - wie die zitierte Stelle aus den Vorbereitenden Arbeiten zeigt - zum Beschwerderecht des Einsprechenden hinzutreten, keineswegs aber zu dessen Verlust führen.
6. Aus den grundlegenden Verfahrensvorschriften des Übereinkommens, nämlich Art. 113 (1) und (2) sowie Art. 102 (3), läßt sich daher in Verbindung mit den Vorbereitenden Arbeiten die Regel 58 (4) EPÜ auch allgemein nach dem ihr im Übereinkommen zukommenden Sinn und Zweck auslegen. Dementsprechend bedarf es einer Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ nicht, wenn das ausdrückliche Einverständnis des Patentinhabers zu der Fassung, in der die Einspruchsabteilung das Patent nach Art. 102 (3) EPÜ aufrechtzuerhalten beabsichtigt, bereits vorliegt. Unabhängig davon muß der Einsprechende in einer nach den Umständen ausreichenden Weise Gelegenheit gehabt haben oder noch erhalten, zum Text einer beabsichtigten Neufassung des Patents Stellung zu nehmen. Diese Gelegenheit kann ihm, insbesondere im schriftlichen Verfahren, im Rahmen einer Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ gegeben werden.
7. Die Wortauslegung von Regel 58 (4) EPÜ, ihre systematische Auslegung und die Anwendung des Grundsatzes der konventionskonformen Auslegung der Ausführungsordnung führen somit zu einer Bejahung der gestellten Rechtsfrage. Die Große Beschwerdekammer kommt zu diesem Ergebnis auch deswegen, weil sie Sinn und Zweck der Regel 58 (4) EPÜ anders sieht als die Erstinstanz. Die Kammer versteht aber, daß die Erstinstanz zu ihrem Verständnis dieser Regel kommen konnte - ausgehend von der Praxis der Zwischenentscheidung im Falle einer Aufrechterhaltung des Patent im geänderten Umfang. Die Praxis der an sich ausdrücklich nicht vorgesehenen Zwischenentscheidung ermöglicht es, daß zunächst die Unanfechtbarkeit der Zwischenentscheidung abgewartet wird, und vermeidet somit, daß der Patentinhaber die Aufwendungen für das neugefaßte Patent zweimal erbringen muß. Dies hat auch der Beschwerdegegner (Patentinhaber) im vorliegenden Fall als sein Anliegen vorgetragen (oben VIII.). Die Unanfechtbar keit der Zwischenentscheidung muß abgewartet werden, bevor die Aufforderung nach Regel 58 Absatz 5 EPÜ zur Zahlung der Druckkostengebühr und zur Vorlage der Übersetzungen ergeht. Dieses Verfahrensstadium kann mit Hilfe der hier gefundenen Auslegung der Regel 58 (4) EPÜ schnell erreicht werden. Nach mündlicher Verhandlung kann nämlich die Entscheidung in aller Regel sofort verkündet und unverzüglich abgefaßt werden. Im schriftlichen Verfahren kann dem Einsprechenden die notwendige Gelegenheit (vgl. oben 6.) zur Stellungnahme zu der von der Einspruchsabteilung beabsichtigten Neufassung des Patents auch anläßlich eines Bescheides an die Beteiligten gegeben werden. Demgegenüber bringt eine Anwendung der Regel als formalisierter, in allen Fällen obligatorischer Verfahrensabschluß keine echten Arbeitseinsparungen. Die Große Beschwerdekammer hält daher ihre Auslegung der Regel 58 (4) EPÜ auch aus diesem Grund für geboten.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden,
daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:
Die Beschwerde eines Einsprechenden ist nicht deswegen unzulässig, weil dieser es unterlassen hat, fristgerecht auf eine Aufforderung nach Regel 58 (4) EPÜ zu der Fassung, in der das europäische Patent aufrechterhalten werden soll, Stellung zu nehmen.