J 0005/80 (Wiedereinsetzung/Sorgfalt des zugel. Vertreters) 07-07-1981
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann im Falle der Vertretung des Anmelders durch einen zugelassenen Vertreter nur dann gewährt werden, wenn auch der Vertreter die in Artikel 122(1) EPÜ vom Anmelder oder Patentinhaber verlangte Sorgfalt beachtet hat.
2. Hat der Vertreter Routinearbeiten, wie z.B. das Schreiben von Briefen nach Diktat, die Absendung von Schreiben und das Notieren von Fristen, einer Hilfsperson übertragen, so werden an die Sorgfalt der Hilfsperson nicht die gleichen strengen Anforderungen wie an die des Anmelders oder seines Vertreters gestellt.
3. Dem Vertreter wird jedoch ein Fehlverhalten einer Hilfsperson nur dann nicht angelastet, wenn er in diesem Zusammenhang die vorgeschriebene Sorgfalt beachtet hat. Hierzu gehört, daß er eine für diese Tätigkeit entsprechend qualifizierte Person auswählt, daß er sie mit ihren Aufgaben vertraut macht und daß er die Ausführung ihrer Arbeiten in vernünftigem Umfang überwacht.
4. Überträgt der Vertreter einer Hilfsperson eine Tätigkeit, deren Erledigung ihm aufgrund seiner Qualifikation selbst obliegt, wie z.B. die Auslegung von Gesetzen und Über- einkommen, so kann er nicht geltend machen, er habe alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet.
5. Artikel 48(2)(a) PCT ist weit auszulegen. Daraus folgt, daß zumindest die Artikel 121 und 122 sowie die Regel 85a EPÜ auf internationale Anmeldungen während des Übergangs auf die regionale Phase anzuwenden sind.
Wiedereinsetzung
Sorgfalt des Vertreters
Fristversäumnisse bei Euro-PCT
Euro-PCT/Fristversäumnisse
Sachverhalt und Anträge
I. Am 2. Oktober 1978 hat die Beschwerdeführerin die internationale Patentanmeldung PCT/FR 78/00026 eingereicht und dafür die Priorität ihrer in Frankreich am 3. Oktober 1977 eingereichten nationalen Patentanmeldung in Anspruch genommen; als Bestimmungsstaaten hat sie die Bundesrepublik Deutschland, das Vereinigte Königreich, Luxemburg, Schweden und die Schweiz angegeben.
II. Das Internationale Büro der Weltorganisation für geistiges Eigentum hat die internationale Anmeldung mit dem internationalen Recherchenbericht als Anlage am 5. April 1979 veröffentlicht. Die Frist für die Entrichtung der nationalen Gebühr und der Benennungsgebühren lief also am 5. Juli 1979 ab (Art. 22(1)(3) PCT, R. 104b(1) EPÜ).
III. Die nationale Gebühr wurde am 31. Mai 1979 rechtswirksam entrichtet, die Benennungsgebühren jedoch erst am 3. Oktober 1979, nachdem die Eingangsstelle die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 14. August 1979 darauf hingewiesen hatte, daß die Anmeldung als zurückgenommen gelte.
IV. In der auf Antrag der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidung vom 19. Dezember 1979 stellte die Eingangsstelle fest, daß die europäische Patentanmeldung nach Artikel 79(2) und 150(2) EPÜ als zurückgenommen gelte, da die Benennungsgebühren nicht rechtzeitig entrichtet worden seien.
V. Am 23. Januar 1980 machte die Beschwerdeführerin die Regel 85a EPÜ geltend und legte dar, daß diese neue Regel auf diesen Fall anzuwenden sei. Die in der Regel 85a EPÜ vorgesehene Zuschlagsgebühr wurde rechtzeitig entrichtet.
VI. Am 8. Februar 1980 legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung der Eingangsstelle Beschwerde mit Begründung ein und entrichtete ordnungsgemäß die Beschwerdegebühr. Unter Bezugnahme auf eine fernmündliche Mitteilung der Eingangsstelle, wonach Regel 85a EPÜ auf Euro/PCT-Anmeldungen nicht anwendbar sei, führte die Beschwerdeführerin folgendes aus:
a) Als das Europäische Patentamt die Beschwerdeführerin am 14. August 1979 darauf hingewiesen hatte, daß ihre Anmeldung als zurückgenommen gelte, hatte sie noch genügend Zeit gehabt, die Wiedereinsetzung zu beantragen. Daß sie die Regel 69 statt Artikel 122 EPÜ geltend gemacht habe, sei ein kleinerer und entschuldbarer Irrtum, der im übrigen durch die falsche Unterrichtung seitens des Europäischen Patentamts hervorgerufen worden sei;
b) sie habe rechtzeitig die Anwendung der Regel 85a EPÜ verlangt, die nach ihrer Ansicht nicht verweigert werden könne, da die auf eine europäische Anmeldung anwendbaren Regeln auch auf eine Euro/PCT-Anmeldung anwendbar seien;
c) bei einer anderen europäischen Patentanmeldung habe der gleiche Irrtum unter Anwendung der Bestimmungen des Artikels 122 EPÜ berichtigt werden können.
VII. Mit Bescheid vom 30. Oktober 1980 wurde die Beschwerdeführerin von der Juristischen Beschwerdekammer unterrichtet, daß in dem vorliegenden Fall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gänzlich ausgeschlossen erscheine, daß jedoch die in der Beschwerdeschrift angegebenen Gründe noch näher ausgeführt werden müßten.
VIII. Mit Schreiben vom 29. Dezember 1980 beantragte die Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf die am 8. Februar eingereichte Beschwerde hilfsweise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Aus diesem Schreiben und einer schriftlichen Erklärung der Bürovorsteherin der Kanzlei des zugelassenen Vertreters ergibt sich, daß dieser ihr die Anweisung gegeben hat, alle vorgeschriebenen Gebühren zu entrichten, und daß sie Artikel 78 EPÜ in der Weise ausgelegt hat, daß, wenn in einer PCT-Anmeldung das Europäische Patentamt bestimmt worden ist, nur die Anmeldegebühr innerhalb eines Monats nach der Einreichung beim Übergang der PCT-Anmeldung in die nationale Phase zu bezahlen ist.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und der Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Die Beschwerdeführerin stützt ihre Beschwerde auf zwei Rechtsbehelfe: auf die Anwendung der Regel 85a EPÜ und auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 EPÜ. Die Kammer hat die beiden Möglichkeiten untersucht, da die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit weniger Kosten verbunden wäre als die Anwendung der Regel 85a EPÜ.
3. Die Wiedereinsetzung setzt nach Artikel 122(1) EPÜ voraus, daß der Anmelder trotz Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt verhindert war, gegenüber dem Europäischen Patentamt eine Frist einzuhalten.
4. Bei der Münchner Diplomatischen Konferenz 1973 wurde anläßlich der Änderung des im Entwurf enthaltenen Begriffs der "höheren Gewalt" in "alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt'' festgestellt, daß im Falle einer Vertretung des Anmelders auch der Vertreter alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet habe müsse (Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, herausgegeben von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, Nrn. 574, 575, 577, 578 und M/PR/G. Anlage I, Kap. II, Nr. 10 Abs. 2). Diese Auslegung erscheint richtig.
5. Auf dieser Konferenz wurde auch die Frage erörtert, ob ein Verschulden eines Angestellten eines zugelassenen Vertreters, der seine Arbeit gewöhnlich zufriedenstellend erledigt, entschuldigt werden könne. Hierzu ist zuerst festzustellen, daß gewisse untergeordnete Arbeiten, die regelmäßig anfallen, wie zum Beispiel das Schreiben von Briefen nach Diktat, die Absendung von Schreiben und das Notieren von Fristen, gewöhnlich nicht vom Vertreter selbst, sondern von seinen Angestellten ausgeführt werden. Dies entspricht den im Wirtschafts- und Berufsleben üblichen Gewohnheiten.
Die Delegation der AIPPI hat auf der Konferenz ein konkretes Beispiel für die Schwierigkeiten gegeben, die in dieser Beziehung auftreten können. Die Erörterung hat zu der unter Nr. 4 oben erwähnten Änderung geführt. Es ergibt sich aus der Erörterung, daß die Konferenz nicht ausschließen wollte, daß ein Verschulden eines Angestellten entschuldigt werden könne ("Berichte....", op. cit., Nr. 559 ff., 571 Abs. 2).
6. Im vorliegenden Fall brauchen die Regeln der nationalen Zivilrechte über die Beziehungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer hinsichtlich eines Fehlverhaltens von Hilfspersonen nicht in Betracht gezogen zu werden. Die Kammer hat lediglich den Begriff der gemäß Artikel 122(1) EPÜ "nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt" auszulegen. Nach Auffassung der Kammer darf man an eine Hilfsperson, der Routinearbeiten übertragen sind, nicht die gleichen strengen Anforderungen stellen wie an den Anmelder oder seinen Vertreter. Auch die eingehenden Diskussionen über die Wiedereinsetzung auf der Münchner Diplomatischen Konferenz lassen keine andere Auslegung zu.
7. Damit der Zweck des Artikels 122(1) EPÜ verwirklicht werden kann, muß allerdings der Vertreter, der sich solcher Hilfspersonen bedient, in diesem Zusammenhang die in dieser Bestimmung vorgeschriebene Sorgfalt anwenden. Grundsätzlich gehört dazu, daß er für diese Tätigkeit eine entsprechend qualifizierte Person auswählt, daß er sie mit ihren Aufgaben vertraut macht und die Ausführung ihrer Arbeiten in vernünftigem Umfang überwacht.
8. Es muß weiter in Betracht gezogen werden, daß die Vertragsstaaten die Vertretung von Anmeldern vor dem Europäischen Patentamt nach Artikel 134(1) EPÜ grundsätzlich "zugelassenen Vertretern" anvertraut und vorbehalten haben, die durch ihre Qualifikation die bestmögliche Vertretung sicherstellen sollen. Daraus folgt aber auch, daß ein Vertreter sich nicht von Aufgaben entlasten kann, deren Erledigung ihm aufgrund seiner Qualifikation persönlich obliegt, wie zum Beispiel die Auslegung von Gesetzen und Übereinkommen. Überträgt er jedoch solche Aufgaben einem Angestellten und begeht dieser bei der Ausführung dieser Arbeiten einen Fehler, der eine Fristversäumung zur Folge hat, so kann der Vertreter nicht geltend machen, er habe alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet.
9. In dem vorliegenden Fall hat der zugelassene Vertreter seiner Bürovorsteherin, deren Zuverlässigkeit und Sachkunde die Kammer nicht in Zweifel zieht, die allgemeine Anweisung erteilt, alle anfallenden Gebühren rechtzeitig zu entrichten. Damit wurden einer Angestellten Aufgaben zur selbständigen Erledigung übertragen, die über den Rahmen von Routinearbeiten hinausgehen, zumal es sich dabei auch um die nicht einfache Auslegung von zwei neuen internationalen Übereinkommen gehandelt hat. Der zugelassene Vertreter kann daher nicht geltend machen, er habe die nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet, um einen Rechtsverlust zu verhindern. Die Beschwerdeführerin kann also nicht wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden.
10. Die Beschwerdeführerin stützt ihr Begehren vor allem auf die Anwendung der Regel 85a EPÜ. Danach kann, wenn die Benennungsgebühr für eine europäische Patentanmeldung nicht in der in Artikel 79(2) EPÜ vorgeschriebenen Frist entrichtet ist, diese Gebühr mit einer Zuschlagsgebühr innerhalb einer weiteren Frist von zwei Monaten rechtswirksam entrichtet werden. In der Regel 85a EPÜ wird jedoch nicht die Regel 104b(1) EPÜ aufgeführt, die für Euro/PCT-Anmeldungen gilt.
11. In dem vorliegenden Fall handelt es sich gerade um diese Frist, die die Beschwerdeführerin nicht eingehalten hat, eine Frist, die den Übergang der internationalen Anmeldung von der internationalen Phase auf die regionale Phase, d. h. auf das europäische Verfahren, regelt. In diesem Übergangsstadium müssen die beiden internationalen Konventionen, der Patentzusammenarbeitsvertrag und das Europäische Patentübereinkommen, angewendet werden; Artikel 150(2) EPÜ schreibt hierzu vor, daß im Fall einander entgegenstehender Bestimmungen die Vorschriften des Patentzusammenarbeitsvertrags vorgehen.
12. Artikel 48(2)(a) PCT bestimmt, daß jeder Vertragsstaat, soweit er betroffen ist, eine Fristüberschreitung als entschuldigt ansieht, wenn Gründe vorliegen, die nach seinem nationalen Recht zugelassen sind. Nach der Definition des Artikels 2(x) PCT sind Bezugnahmen auf das "nationale Recht" auch als Bezugnahmen auf den Vertrag zu verstehen, der die Einreichung regionaler Anmeldungen vorsieht. Der Ausdruck "entschuldigt" ist ein allgemeiner Ausdruck und muß daher sehr weit ausgelegt werden. Die Bestimmung erstreckt sich daher nach Auffassung der Kammer grundsätzlich auf alle nationalen oder regionalen Bestimmungen, die ein Verschulden entschuldigen oder die Folgen von Fristüberschreitungen beseitigen.
Auf jeden Fall ist die Kammer der Ansicht, daß die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Art. 122 EPÜ) und auch die Vorschriften betreffend die Weiterbehandlung der europäischen Patentanmeldung (Art. 121 EPÜ) durch Artikel 48(2)(a) PCT erfaßt sind, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. Aber auch die Regel 85a EPÜ verfolgt den gleichen Zweck und erlaubt es dem Anmelder das Verfahren fortzusetzen, wenn er gewisse Fristen nicht eingehalten hat, und die Kammer sieht keinen Grund, diese Vorschrift von der Anwendung des Artikels 48(2)(a) PCT auszuschließen.
13. Die Tatsache, daß Anmeldern von PCT-Anmeldungen damit ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, den Anmelder rein europäischer Patentanmeldungen in vergleichbaren Fällen nicht haben, nämlich die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 EPÜ, ist kein Grund, sie von der Anwendung der Regel 85a EPÜ auszuschließen. Es ist richtig, daß gerade der in Artikel 122(5) EPÜ festgelegte Ausschluß dieser Möglichkeit für die Anmelder europäischer Patentanmeldungen zur Annahme der Regel 85a EPÜ geführt hat. Dies kann aber nicht dazu führen, PCT-Anmeldern diesen anders ausgestalteten Rechtsbehelf zu versagen, der vor allem keinen Entschuldigungsgrund vorschreibt. Die Frage einer "Besserstellung" von PCT-Anmeldern gegenüber den Anmeldern europäischer Patente ist im übrigen für die Auslegung des Artikels 48(2)(a) PCT rechtlich irrelevant.
14. Nach der Feststellung, daß auch die Regel 85a EPÜ grundsätzlich unter die Vorschrift des Artikels 48(2)(a) PCT fällt, ist die Kammer der Auffassung, daß die sich aus dieser PCT-Vorschrift ergebenden Verpflichtungen auf jeden Fall für den Zeitraum anwendbar sind, der den Übergang vom rein internationalen Verfahren auf das europäische Verfahren betrifft. Die Regel 104b(1) EPÜ, deren Frist versäumt worden ist, bildet nach ihrem Zweck genau einen Teil dieses Verfahrensabschnittes. Die Regel 85a EPÜ ist daher anzuwenden.
15. In dem vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin am 3. Oktober 1979 die Benennungsgebühren und am 23. Januar 1980 die Zuschlagsgebühr nach Artikel 2 Nr. 3b der Gebührenordnung entsprechend der Entscheidung des Verwaltungsrats vom 30. November 1979 entrichtet.
16. Es sind daher alle Voraussetzungen für die Anwendung der Regel 85a EPÜ erfüllt. Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung der Eingangsstelle aufgehoben werden muß.
17. In dem vorliegenden Fall ist kein Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ gestellt worden, und die Umstände des Falles rechtfertigen auch nicht eine solche Rückzahlung.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
Die Entscheidung der Eingangsstelle des Europäischen Patentamts von 19. Dezember 1979 wird aufgehoben.