T 1080/18 26-02-2021
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KANTENLEISTE FÜR MÖBELSTÜCKE
Verspätetes Vorbringen - korrekte Ermessensausübung (ja)
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Offenbarung Figur
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (ja)
I. Sowohl die Einsprechende (Beschwerdeführerin 1) als auch die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin 2) legten Beschwerde ein gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent in geänderter Fassung gemäß dem Hilfsantrag 3a aufrechtzuerhalten.
II. Die vorliegende Entscheidung beruht auf dem folgenden, von der Einsprechenden im Einspruchsverfahren vorgelegten Dokument:
D9 DE 87 00 536 U1
III. Die Einspruchsabteilung hatte wie folgt entschieden:
a) Der Gegenstand des Hauptantrags (wie erteilt) ist nicht neu gegenüber Dokument D9 (Artikel 54 EPÜ). Dokument D9 wurde verspätet eingereicht, ist aber prima facie so relevant dass es zum Verfahren zugelassen werden muss.
b) Hilfsantrag 1 ist ebenfalls nicht neu gegenüber D9 (Artikel 54 EPÜ). Hilfsantrag 2 beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination von D9 mit dem Fachwissen des Fachmanns (Artikel 56 EPÜ). Hilfsantrag 3 beruht auf einer unzulässigen Änderung, die über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgeht (Artikel 123(2) EPÜ).
c) Der in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichte und zum Verfahren zugelassene Hilfsantrag 3a wurde als zulässig geändert angesehen (Artikel 123(2) EPÜ), und beansprucht einen neuen und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhenden Gegenstand (Artikel 54 und 56 EPÜ).
IV. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
a) Die Beschwerdeführerin 2 (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und das Patent in erteilter Fassung aufrechtzuerhalten (Hauptantrag). Hilfsweise beantragte sie, das Patent in geänderter Fassung auf Basis eines der Hilfsanträge 1-3, 3a (d. h. die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen), 4 und 5 aufrechtzuerhalten.
b) Die Beschwerdeführerin 1 (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
c) Der von der Beschwerdeführerin 2 mit ihrer Beschwerdebegründung gestellte Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Kantenleiste für Möbelstücke (6), umfassend einen Grundkörper (1) mit einer an ein Möbelstück (6) anlegbaren Unterseite (2) und einer von der Unterseite (2) abgewandten Oberseite (3, 4), wobei die Oberseite (3, 4) zumindest einen zu einem Rand (UR, OR) des Grundkörpers (1) hin abfallenden Übergangsabschnitt (3) aufweist, wobei der Übergangsabschnitt (3) zumindest abschnittsweise ein Dekor (5) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass das Dekor (5) auf den Grundkörper (1) der Kantenleiste aufgedruckt ist."
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin 1 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Zulassung des Dokuments D9 erfolgte unter korrekter Ausübung des Ermessens der Einspruchsabteilung.
b) Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei nicht neu gegenüber D9 (Artikel 54 EPÜ).
c) Sollte der Gegenstand des Anspruchs 1 jedoch als neu gegenüber D9 von der Kammer eingestuft werden, sei die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, insbesondere um die weiteren im Einspruchsverfahren geltend gemachten Neuheitsangriffe zu prüfen.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin 2 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Bei der Zulassung des Dokuments D9 habe die Einspruchsabteilung ihr Ermessen falsch ausgeübt, so dass das Dokument D9 nicht zum Verfahren zugelassen werden dürfe.
b) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sei neu gegenüber D9 (Artikel 54 EPÜ), da in D9 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart sei, dass die Kantenleiste an ihrer oberen vorderen Kante abgerundet ausgebildet ist.
Zulassung des Dokuments D9
1. Die Beschwerdeführerin 2 beantragte, die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Dokument D9 zum Verfahren zuzulassen, aufzuheben und D9 die Zulassung zum Verfahren zu verwehren.
1.1 Aus Sicht der Beschwerdeführerin 2 hat die Einspruchsabteilung ihr Ermessen bei der Zulassung des Dokuments D9 zum Verfahren aus folgenden Gründen nicht korrekt ausgeübt:
a) Die Einspruchsabteilung habe bei ihrer Entscheidung nicht den Stand des Verfahrens berücksichtigt, da vor einer Zulassung des Dokuments D9 erst die als ebenfalls neuheitsschädlich geltend gemachten Dokumente D4 und D7 detailliert geprüft werden hätten müssen.
b) Es seien keine Gründe für die verspätete Vorlage von D9 angegeben worden.
c) Die Inhaberin habe nicht ausreichend Zeit gehabt, das erst kurz vor der Verhandlung eingereichte Dokument D9 zu studieren und Gegenstrategien zu entwickeln.
d) Das maßgebliche Merkmal sei nicht unmittelbar und eindeutig der Figur 1 der D9 zu entnehmen, so dass D9 nicht relevant sei.
1.2 Die Kammer kann nicht erkennen, warum die Zulassung von D9 erst nach einer erschöpfenden Behandlung von D4 und/oder D7 erfolgen hätte dürfen. Es obliegt der Einspruchsabteilung, zur Sicherstellung einer effizienten Verhandlungsführung eine aus ihrer Sicht erfolgsversprechendere Angriffslinien zum gleichen Einspruchsgrund vorzuziehen. Entsprechend musste die Einspruchsabteilung nicht erst über D4 und D7 entscheiden, bevor sie sich bei der Diskussion der Neuheit des Hauptantrags mit dem Dokument D9 beschäftigen hätte dürfen, sondern sie durfte sich sofort bei der Neuheitsdiskussion dem Dokumente D9 zuwenden.
1.3 Zudem ist festzustellen, dass im Protokoll unter Punkt 2 ausgeführt wird, dass die Einsprechende in der Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erklärte, weshalb das Dokument D9 verspätet eingereicht worden war. Das Protokoll nennt hier zwar nicht den geltend gemachten Grund, dokumentiert aber entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin 2, dass Gründe für die Verspätung angegeben wurden.
1.4 Das Protokoll enthält zudem auch keinen Hinweis darauf, dass die Patentinhaberin der Einspruchsabteilung in der Verhandlung signalisiert hätte, dass sie sich im Vorfeld der Verhandlung nicht adäquat mit D9 auseinandersetzen hätte können und um eine Vertagung gebeten hätte. Dies scheint auch nicht notwendig gewesen zu sein, da D9 nur drei Seiten Beschreibung, zwei Figuren und fünf Ansprüche umfasst.
1.5 Bei der Entscheidung über die Zulassung von D9 hat die Einspruchsabteilung das korrekte Kriterium (prima facie-Relevanz) verwendet und dieses Kriterium auch korrekt angewandt: Die prima facie-Prüfung des Dokuments hat gemäß Punkt 2 der Entscheidung der Einspruchsabteilung ergeben, dass D9 den Ausgang des Verfahrens maßgeblich beeinflusst, da D9 sowohl für den Hauptantrag, als auch die Hilfsanträge von der Einspruchsabteilung als hoch relevant angesehen wurde.
Die prima facie-Prüfung ist dabei nicht gleichzusetzen mit einer detaillierten und erschöpfenden Prüfung des Dokumentes, sondern stellt eine erste grobe Einschätzung aus Sicht der Einspruchsabteilung dar. Nachdem die Einspruchsabteilung später dann aber auch nach detaillierter Prüfung und Diskussion zwischen den Parteien entschied, dass D9 aus ihrer Sicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags war, hat sich diese erste Einschätzung für die Einspruchsabteilung letztlich sogar bei detaillierter Prüfung des Dokuments bestätigt.
1.6 Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, D9 zum Verfahren zuzulassen, ist daher nicht zu beanstanden.
Hauptantrag - Neuheit gegenüber D9
2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist gegenüber Dokument D9 entgegen der Entscheidung der Einspruchsabteilung neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ.
2.1 Das Dokument D9 offenbart unstrittig zwischen den Beschwerdeführerinnen in Figur 1 eine Kantenleiste für Möbelstücke (siehe Titel), umfassend einen Grundkörper (Leistenkern 1 mit Auflage 4) mit einer an ein Möbelstück anlegbaren Unterseite (in Figur 1 die rückwärtige Fläche der Kantenleiste) und einer von der Unterseite abgewandten Oberseite, wobei die gesamte Auflage 4 ein Dekor (Holzmaserung 5) aufweist. Das Dekor ist auf den Grundkörper der Kantenleiste aufgedruckt (Seite 5, erster Absatz).
2.2 Strittig ist jedoch, ob die aus D9 bekannte Kantenleiste an ihrer Oberseite zumindest einen zu einem Rand des Grundkörpers hin abfallenden Übergangsabschnitt aufweist.
Die Einspruchsabteilung hat hierzu entschieden, dass aus der perspektivischen Darstellung der Kantenleiste in Figur 1 abgeleitet werden könne, dass die obere vordere Kante abgerundet ausgebildet sein müsse, da die in der Figur gezeigte Schnittfläche der Abtragung nicht spitz, sondern ausgerundet zulaufe. Zudem sei keine Kantenlinie im Bereich außerhalb der Abtragung zu erkennen, die jedoch bei einer rechtwinkeligen Kante außerhalb der Abtragung zu erwarten gewesen wäre.
2.3 Die Offenbarung dieser abgerundeten Kante ist jedoch nicht unmittelbar und eindeutig, wie es der "Goldstandard" aus G2/10 verlangt.
2.3.1 Das Dokument D9 beschreibt weder im allgemeinen Teil der Beschreibung, noch in der Beschreibung der in Figur 1 gezeigten Ausführungsform der Kantenleiste explizit die Geometrie bzw. die Querschnittsform der Kantenleiste.
Die Erfindung der D9 ist darin zu sehen, dass der Grundkörper der Kantenleiste aus marmoriertem Kunststoff besteht, so dass bei einer Abtragung eines Teils der Oberfläche (wie in Figur 1 dargestellt) eine Sichtfläche entsteht, die einer Holzmaserung gleicht. Hierfür spielt die konkrete Ausgestaltung des Querschnitts der Kantenleiste keine Rolle.
2.3.2 Die Figur 1 stellt eine schematische Zeichnung dar, die die Querschnittsform der Leiste und insbesondere auch die Ausgestaltung der oberen vorderen Kante der Kantenleiste nicht unmittelbar zeigt. Auf der linken Seite der perspektivischen Darstellung wird zwar die Stirnseite und damit die Querschnittsausgestaltung der Kantenleiste gezeigt, doch befindet sich gerade im relevanten Bereich der Stirnfläche eine Abtragung. Entsprechend kann hier kein Rückschluss darauf gezogen werden, ob die obere vordere Kante der Kantenleiste ausgerundet oder scharfkantig rechtwinkelig ausgebildet ist.
2.3.3 Aufgrund der ausgerundeten Form des Randes an der rechten Spitze der dargestellten Abtragung kann zwar vermutet werden, dass die obere vordere Kante der Kantenleiste ausgerundet zu sein scheint - es könnte sich jedoch auch um eine lediglich zeichnerische Ausgestaltung des Erstellers der Figur handeln, da Figur 1 nur eine schematische Darstellung ist. Zudem wäre es auch denkbar, dass die Abtragung nicht in einer Ebene erfolgte, sondern einen unregelmäßigen, räumlich gekrümmten Verlauf aufweist.
2.3.4 Auch das Fehlen einer Darstellung der scharfkantigen rechtwinkeligen Kante durch eine durchgezogene Kantenlinie stellt zwar ein Indiz dafür dar, dass die obere Fläche abgerundet in die vordere Fläche der Kantenleiste überzugehen scheint. Es könnte sich hierbei aber auch um eine Nachlässigkeit des Erstellers der Figur handeln, da es sich bei der Figur eben nicht um eine CAD-Zeichnung oder ähnliches handelt, sondern um eine zwar mit Zeichengerät erstellte, aber dennoch händisch ausgeführte perspektivische Darstellung.
2.3.5 Deshalb scheint es zwar wahrscheinlich zu sein, dass die obere vordere Kante der in Figur 1 gezeigten Kantenleiste abgerundet ausgebildet ist, ein Restzweifel bleibt jedoch bestehen. Daher ist der Figur 1 das strittige Merkmal nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, wie es der "Goldstandard" aber verlangt.
2.4 Dokument D9 offenbart somit nicht einen sich zum Rand des Grundkörpers abfallenden Übergangsabschnitt, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu gegenüber der aus D9 bekannten Kantenleiste ist.
Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
3. Die Einsprechende hat im Einspruchsverfahren zusätzlich zur fehlenden Neuheit gegenüber D9 geltend gemacht, dass auch die Dokumente D1 und D4 - D7 neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags (Patent wie erteilt) seien. Die Einspruchsabteilung verwies in ihrer vorläufigen, mit der Ladung kommunizierten Meinung darauf, dass sie D4 und D7 als neuheitsschädlich erachte.
3.1 Zur Frage der Neuheit gegenüber diesen Dokumenten hat die Einspruchsabteilung jedoch nicht entschieden. Diese weiteren Neuheitsangriffe wurden nachweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung auch noch nicht diskutiert.
3.2 Die Beschwerdeführerin 1 beantragte daher eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung, um auch diese weiteren, bisher ungeprüften Angriffe unter Artikel 54 EPÜ in zwei Instanzen vorbringen zu können.
3.3 Auch die Beschwerdeführerin 2 beantragte eine Gelegenheit, zu diesen weiteren Angriffslinien inhaltlich vorzutragen.
3.4 Es liegen somit besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 vor, die eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung rechtfertigen, da wesentliche Fragen zur Patentfähigkeit zwischen den Parteien noch nicht ausreichend im Rahmen einer mündlichen Verhandlung diskutiert und von der Einspruchsabteilung noch nicht geprüft und entschieden wurden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.