T 2459/19 12-12-2022
Download und weitere Informationen:
Verfahren zum Betrieb eines Windparks
Neuheit - Stand der Technik
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, mit der festgestellt wurde, dass das europäische Patent Nr. 2 275 674 in der Fassung des Hilfsantrags 2 die Erfordernisse des EPÜ erfülle.
II. Die folgenden Dokumente sind für die vorliegende Entscheidung relevant:
E04: P. Christiansen et al.: "Grid Connection and Remote Control for the Horns Rev 150 MW Offshore Wind Farm in Denmark", Seiten 1 bis 11.
E04a: Dissertation von M. Kühn: "Dynamics and Design Optimisation of Offshore Wind Energy Conversion Systems", verteidigt am 5. Juni 2001 an der TU Delft, Seite 249.
E04b: Konferenzband, OWEMES 2000: "European Seminar OFFSHORE WIND ENERGY IN MEDITERRANEAN AND OTHER EUROPEAN SEAS: technology and other potential applications", 13.-15. April 2000, Italy, Titelblatt und Seiten 289 bis 299.
E04c: Schriftliche Erklärung des Herrn Gaetano Gaudiosi vom 25. Juli 2022.
III. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung unter anderem festgestellt, dass das Dokument E04 Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ bilde und der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag zwar neu sei, jedoch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber diesem Dokument beruhe.
IV. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 hatte die Kammer ihre vorläufige Meinung mitgeteilt, wonach die Zugehörigkeit des Dokuments E04 zum Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ nicht ausreichend nachgewiesen sei.
V. Mit Schreiben vom 22. August 2022 reichte die Einsprechende die Dokumente E04b und E04c ein.
VI. Die Patentinhaberin beantragte in dem Schreiben vom 8. September 2022 die Nichtzulassung der Dokumente E04b und E04c in das Beschwerdeverfahren.
VII. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2022 nahm die Einsprechende ihre Beschwerde und ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. Sie ist daher Beschwerdegegnerin im vorliegenden Verfahren.
VIII. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) beantragte schriftlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung des Hauptantrags, eingereicht mit Schreiben vom 28. Februar 2019. Hilfsweise beantragte sie die Aufrechterhaltung des Patents gemäß Hilfsantrag 1, ebenfalls eingereicht mit Schreiben vom 28. Februar 2019.
IX. Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) beantragte sinngemäß die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin.
X. Anspruch 1 des Hauptantrags hat den folgenden Wortlaut:
"Verfahren zum Betrieb eines Windparks, bestehend aus mehreren Windenergieanlagen (2), wobei der Windpark an ein elektrisches Versorgungsnetz (6) angeschlossen ist, in welches die von dem Windpark erzeugte elektrische Leistung eingespeist wird und der Windpark und/oder wenigstens eine der Windenergieanlagen des Windparks über einen Steuereingang (10) verfügt, mittels dem die elektrische Leistung des Windparks bzw. einer oder mehrerer einzelner Windenergieanlage(n) in einem Bereich von 0 bis 100% der jeweiligen zur Verfügung zu stellenden Leistung, insbesondere der Nennleistung, einstellt und dass eine Datenverarbeitungseinrichtung vorgesehen ist, welche mit dem Steuereingang verbunden ist und mittels welcher der Stellwert im Bereich von 0 bis 100% eingestellt wird, je nachdem wie groß die Leistung ist, die der gesamte Windpark an seinem Ausgang für die Einspeisung in das Energienetz zur Verfügung stellt, dadurch gekennzeichnet, dass der Betreiber (EVU) des elektrischen Versorgungsnetzes, an dem der Windpark angeschlossen ist, die vom Windpark abgegebene Leistung über den Steuereingang einstellt und wobei für die Steuerung des Windparks sowie auch für die Datenversorgung des Betreibers (EVU) des elektrischen Versorgungsnetzes ein standardisiertes Bussystem vorgesehen ist, welches über eine standardisierte Schnittstelle verfügt, so dass mittels entsprechend standardisierter Steuerbefehle auch die zentrale Windparksteuerung vornimmt."
Die Ansprüche 2 bis 9 sind von Anspruch 1 abhängig.
XI. Der unabhängige Anspruch 10 des Hauptantrags hat den folgenden Wortlaut:
"Windpark, bestehend aus mehreren Windenergieanlagen (2) zur Durchführung des Verfahrens nach einem der vorhergehenden Ansprüche, wobei jede Windenergieanlage einen Rotor und einen mit dem Rotor gekoppelten elektrischen Generator zum Abgeben elektrischer Leistung an ein elektrisches Netz aufweist und der Windpark an ein elektrisches Versorgungsnetz angeschlossen ist, in welches die von dem Windpark erzeugte elektrische Leistung eingespeist wird und der Windpark und/oder wenigstens die eine Windenergieanlage des Windparks über einen Steuereingang verfügt, mittels dem die elektrische Leistung des Windparks beziehungsweise einer oder mehrerer einzelner Windenergieanlagen in einem Bereich von 0 bis 100 % der jeweiligen zur Verfügung zu stellenden Leistung, insbesondere der Nennleistung, einstellbar ist, und dass eine Datenverarbeitungseinrichtung vorgesehen ist, welche mit dem Steuereingang verbunden ist und mittels welchem der Stellwert im Bereich von 0 bis 100 % eingestellt wird, je nachdem, wie groß die Leistung ist, die der gesamte Windpark an seinem Ausgang für die Einspeisung in das Versorgungsnetz (Energienetz) zur Verfügung stellt und wobei der Betreiber (EVU) des elektrischen Versorgungsnetzes, an dem der Windpark angeschlossen ist, die vom Windpark abgegebene Leistung über den Steuereingang einstellen kann und wobei für die Steuerung des Windparks sowie auch für die Datenversorgung des Betreibers (EVU) des elektrischen Versorgungsnetzes ein standardisiertes Bussystem vorgesehen ist, welches über eine standardisierte Schnittstelle verfügt, sodass mittels entsprechend standardisierter Steuerbefehle auch die zentrale Windparksteuerung vorgenommen werden kann."
XII. Angesichts der von der Kammer über den Hauptantrag getroffenen Entscheidung ist es an dieser Stelle nicht erforderlich, den Wortlaut des Hilfsantrags 1 wiederzugeben.
XIII. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Das Dokument E04 bilde keinen Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ. Die Einspruchsabteilung habe nicht dargelegt, unter welchen Umständen eine Veröffentlichung des Dokuments E04 erfolgt sei. Das Dokument E04 trage kein Veröffentlichungsdatum. Die Einspruchsabteilung habe den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht richtig ausgeübt. Es seien Abweichungen zwischen dem Titel, Seitennummerierung und der Schreibweise des Autors des Dokuments E04 und der Referenzierung in dem Dokument E04a festgestellt worden. Diese erweckten Zweifel daran, dass das Dokument E04 tatsächlich vor dem Prioritätstag des Streitpatents öffentlich zugänglich gemacht wurde. Die Einsprechende habe nicht belegen können, dass das Dokument E04 vor dem Prioritätstag des Streitpatents im Internet abrufbar war. Entsprechenden Internetdienste hätten keine entsprechenden Informationen darüber enthalten. Die Annahme, das Dokument E04 sei vor dem Prioritätstag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, sei daher reine Spekulation. Die Zweifel an der Vorveröffentlichung des Dokuments E04 seien somit derart, dass es als nicht veröffentlicht einzustufen sein müsse.
Es werde ferner beantragt, den neuen Vortrag der Beschwerdegegnerin basierend auf den neuen Beweismitteln E04b und E04c und eingereicht mit Schreiben vom 22. August 2022 als verspätet zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin könne von der vorläufigen Meinung der Kammer nicht überrascht worden sein, denn die Beschwerdeführerin habe bereits im erstinstanzlichen Verfahren die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments E04 bestritten. Die vorläufige Meinung der Kammer enthalte insoweit keine neuen tragenden Argumente oder Erwägungen zu Zweifeln der Vorveröffentlichung des Dokuments E04, welche die Beschwerdegegnerin nicht bereits im Jahr 2018 kennen konnte. Das Beschwerdeverfahren sei ein Überprüfungsverfahren, sodass sich die Beschwerdegegnerin nicht darauf verlassen konnte, dass die Kammer die Auffassung der Einspruchsabteilung teilen und inhaltlich bestätigen würde. Spätestens nach dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 28. Mai 2018, vor allem aber nach der Beschwerdebegründung habe für die Beschwerdegegnerin dringende Veranlassung bestanden, weitere Beweismittel im Hinblick auf die Vorveröffentlichung des Dokuments E04 vorzulegen.
XIV. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Beschwerdeführerin versuche, den Maßstab der freien Beweiswürdigung weg von einem Abwägen der Wahrscheinlichkeit hin zu einer absoluten Gewissheit zu verschieben. Die Frage einer Vorveröffentlichung eines schriftlichen Dokuments hänge ausweislich der Prüfungsrichtlinien ausschließlich davon ab, ob für das betreffende Entscheidungsorgan des EPA eine Vorveröffentlichung wahrscheinlicher ist als eine Nicht-Vorveröffentlichung. Das Dokument E04a belege die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments E04 vor dem Prioritätstag das Patents. Bei dem Dokument E04a handele es sich um eine Doktorarbeit, welche auf Seite 249 unter der Referenz [2.3] das Dokument E04 zitiere. Das Dokument E04a bilde Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ, denn ausweislich Seite 5 dieses Dokuments, fand die Doktorprüfung am 5. Juni 2001 und somit vor dem Prioritätstag des Patents statt.
Die Kammer habe in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung dargelegt, dass Zweifel an der Inhaltsgleichheit der Dokumente E04 und der in E04a zitierten Referenz [2.3] bestünden. Diese völlig überraschende Auffassung der Kammer habe die Beschwerdegegnerin dazu veranlasst, das Dokument E04b vorzulegen, welches bis auf einen unwesentlichen Formatierungsunterschied identisch zu dem Dokument E04 sei und welches als Teil des Konferenzbandes des OWEMES 2000 Seminars vor dem Prioritätsdatum veröffentlicht worden sei. Des weiteren belege eine unterzeichnete Erklärung des damaligen wissenschaftlichen Koordinators des damaligen Seminars, dass der Konferenzband bereits während des Seminars und auch später im Jahr 2000 verteilt wurde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Entscheidung im schriftlichen Verfahren
2.1 Da die Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung nur für den Fall beantragt hat, dass weder dem Hauptantrag noch dem Hilfsantrag im schriftlichen Verfahren stattgegeben wird, und die Beschwerdegegnerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgezogen hat, kann die vorliegende Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020 ergehen.
2.2 Darüber hinaus basiert diese Entscheidung nur auf Argumenten und Beweismitteln, die den Parteien mit der Beschwerdebegründung und der Beschwerdeerwiderung sowie mit Schreiben vom 22. August 2022 und vom 8. September 2022 zugestellt worden sind und die in der Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 berücksichtigt worden sind. Die Parteien hatten daher Gelegenheit, sich diesbezüglich zu äußern (Artikel 113 EPÜ).
3. Zurechenbarkeit des Dokuments E04 zum Stand der Technik (Artikel 54 (2) EPÜ)
3.1 Die in der angefochtenen Entscheidung erörterten Einwände gegen den Hauptantrag unter Artikel 54 EPÜ und Artikel 56 EPÜ stützen sich maßgeblich auf das Dokument E04 (siehe Punkt 15 und 16 der Gründe für die angefochtene Entscheidung).
3.2 Die Beschwerdeführerin hat bestritten, dass eine Veröffentlichung des Dokuments E04 vor dem Prioritätstag des Streitpatents nachgewiesen wurde. Die Beschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang insbesondere auf die abweichende Seitennummerierung und Schreibweise des Autorennamens zwischen dem Dokument E04 und der in dem Dokument E04a vorhandenen Referenz [2.3] verwiesen. Die Einspruchsabteilung ist dennoch zu der Überzeugung gelangt, dass (inhaltliche) Übereinstimmung zwischen dem Dokument E04 und der in E04a angegebenen Referenz [2.3] herrscht.
3.3 Für die Verfahren vor dem Europäischen Patentamt gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe G 1/12, ABl. EPA 2014, A114, Punkt 31. der Gründe, sowie G 3/97, ABl. EPA 1999, 245, Punkt 5 der Gründe). Nach diesem Grundsatz ist aus der Sicht des angerufenen Organs unter Berücksichtigung aller relevanten Beweismittel zu prüfen, ob eine Tatsache als bewiesen angesehen werden kann. Im vorliegenden Fall geht es maßgeblich um die Beantwortung der Frage, ob das Dokument E04 Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bildet. Für diesen Fall ist daher der beim EPA übliche Maßstab bei der Beweiswürdigung des Abwägens der Wahrscheinlichkeit anzuwenden (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, III.G.4.3, insbesondere 4.3.1 und 4.3.4b)).
3.4 Die Kammer ist im Lichte des Tatsachenvorbringens der Parteien nach Abwägung der Wahrscheinlichkeiten zu dem Schluss gelangt, dass eine Übereinstimmung zwischen dem Dokument E04 und der in dem Dokument E04a unter [2.3] auf Seite 249 angegebenen Referenz nicht als bewiesen angesehen werden kann.
3.5 Das Dokument E04 trägt den Titel "Grid Connection and Remote Control for the Horns Rev 150 MW Offshore Wind Farm in Denmark" und enthält unstreitig weder ein konkretes Veröffentlichungsdatum noch sonstige Hinweise, welche auf eine Veröffentlichung und insbesondere auf den Zeitraum einer solchen Veröffentlichung schließen lassen.
Mangels jedweden Hinweises auf eine Veröffentlichung des Dokuments E04, hat die Beschwerdegegnerin als entsprechenden Nachweis das Dokument E04a vorgelegt, welches auf Seite 249 eine Quellenangabe [2.3] enthält, deren Wortlaut wie folgt ist:
[2.3] Christensen, P.; JØrgensen, K.K. et al., 2000, Grid Connection and Remote Control for the Horn's Reef 150 MW Offshore Wind Farm in Denmark, Proc. OWEMES 2000, 285 - 295.
Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin nimmt die Quellenangabe [2.3] eindeutig Bezug auf das vorgelegte Dokument E04.
3.6 Die Einspruchsabteilung hat aus der Quellenangabe [2.3] gefolgert, dass das Dokument E04 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents (28. September 2001) zugänglich gemacht worden sein müsse und damit Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bilde.
3.7 Ungeachtet der Frage, ob die bloße Referenz oder Quellenangabe [2.3] in dem Dokument E04a überhaupt geeignet ist, eine Veröffentlichung dieser Quelle nachzuweisen, ist die Kammer jedenfalls zu der Überzeugung gelangt, dass eine Identität zwischen der Quellenangabe [2.3] in E04a und dem vorgelegten undatierten Dokument E04 unwahrscheinlicher ist als eine fehlende Identität zwischen dem Dokument E04 und der Angabe in der Referenz [2.3].
3.8 Zwischen der Referenz [2.3] und dem Inhalt des Dokuments E04 lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang herstellen. Aus der Referenz [2.3] ergibt sich zunächst lediglich der Hinweis auf ein vermeintliches Dokument, welches im Rahmen eines OWEMES Seminars im Jahr 2000 eingereicht worden sein soll. Zwar weist die Referenz [2.3] einen sehr ähnlichen Titel zu dem Dokument E04 auf. Es lässt sich jedoch mangels jeglicher diesbezüglicher Hinweise nicht feststellen, ob es sich bei dem vorgelegten Dokument E04 auch dem Inhalt nach identisch um das in der Referenz [2.3] genannte Dokument handelt. Das Dokument E04 selber enthält keinen Hinweis auf eine Verwendung im Rahmen des betreffenden OWEMES Seminars.
3.9 Wie die Patentinhaberin zu Recht vorgetragen hat, wecken insbesondere die Unterschiede in den Titeln und den Autorennamen Zweifel an einer inhaltlichen Übereinstimmung zwischen der Referenz unter [2.3] des Dokuments E04a und dem eingereichten Dokument E04. Die Referenz [2.3] an sich gibt, wie oben dargelegt, keinen Aufschluss über den tatsächlichen Inhalt des benannten Dokuments. Die Abweichungen in den Titeln zwischen der Referenz [2.3] und dem Dokument E04 wecken demgegenüber den Anschein, dass es sich um verschiedene Versionen handelte und es daher auch Abweichungen inhaltlicher Art zwischen dem in der Referenz [2.3] genannten und dem vorgelegten Dokument E04 geben könnte.
3.10 Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin zu Recht auf die Unterschiede in der Seitennummerierung 1 bis 11 des Dokuments E04 einerseits und die in der Referenz [2.3] genannten Seiten 285 bis 295 andererseits hingewiesen. Die unterschiedlichen Seitennummerierungen lassen den Schluss zu, dass die Referenz [2.3] eindeutig nicht Bezug nimmt auf das Dokument E04, welches eine abweichende Seitennummerierung aufweist. Selbst wenn jedoch das in der Referenz [2.3] zitierte Dokument als mit dem Dokument E04 in Zusammenhang stehend anerkannt wird, sind im Lichte der abweichenden Seitennummerierung (sowie im Lichte des abweichenden Titels, s.o.) Unterschiede inhaltlicher Art zwischen dem in der Referenz [2.3] genannten Dokument und dem vorgelegten Dokument E04 zumindest wahrscheinlich.
3.11 Insgesamt hält die Kammer daher eine Identität, insbesondere inhaltlicher Art, zwischen dem in der Referenz [2.3] genannten Dokument und dem vorgelegten Dokument E04 für unwahrscheinlicher als eine Nicht-Identität. Daher ist die Kammer bereits aus diesem Grund der Überzeugung, dass das Dokument E04 keinen Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ bildet.
3.12 Die in der angefochtenen Entscheidung erörterten Einwände gegen den Hauptantrag unter Artikel 54 EPÜ und Artikel 56 EPÜ stützen sich maßgeblich auf das Dokument E04. Da das Dokument E04 keinen Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bildet, sind die Einwände unter Artikel 54 und 56 EPÜ nicht gestützt und bedürfen daher keiner Erörterung in der vorliegenden Entscheidung. Weitere Einwände gegen den Hauptantrag hat die Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren nicht in substantiierter Weise vorgebracht.
4. Neuer Tatsachenvortrag - Zulassung in das Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK 2020)
4.1 Mit Schreiben vom 22. August 2022 und somit nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer, hat die Beschwerdegegnerin neue Beweismittel E04b und E04c vorgelegt, welche eine Vorveröffentlichung des Dokuments E04 belegen sollen. Bei dem Dokument E04b handelt es sich um einen Auszug aus dem Konferenzband des OWEMES Seminars vom 13.-15. April 2000. Bei dem Dokument E04c handelt es sich um eine schriftliche Erklärung des damaligen wissenschaftlichen Koordinators der Organisation OWEMES. Die Dokumente sollen belegen, dass das Dokument E04 vor dem Prioritätstag des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
4.2 Das neue Vorbringen der Beschwerdegegnerin, basierend auf den Beweisen E04b und E04c, stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin dar, dessen Nicht-Zulassung in das Beschwerdeverfahren von der Beschwerdeführerin beantragt wird. Insbesondere stellt der Vortrag einen gänzlich neuen Tatsachenvortrag dar. Dieser ist nämlich nicht mehr auf die mittelbare Veröffentlichung des Dokuments E04 durch Referenzierung in dem Dokument E04a gerichtet, sondern zielt nunmehr auf den Nachweis der Veröffentlichung des Dokuments E04 in den Konferenzberichten des OWEMES Seminars im Jahr 2000 ab. Es handelt sich somit um einen anderen Veröffentlichungstatbestand betreffend das Dokument E04, der erstmals nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer geltend gemacht wurde. Insofern stimmt die Kammer auch nicht mit der Beschwerdegegnerin darin überein, dass das Dokument E04b, aufgrund seines im Wesentlichen identischen Inhalts mit dem Dokument E04, nicht als neues Dokument zu betrachten sei.
4.3 Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020, anwendbar unter Artikel 25 (1) VOBK 2020, bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Ein entsprechender Hinweis war in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung der Kammer unter Punkt 19 vorhanden.
4.4 Die Beschwerdegegnerin hat in dem vorgenannten Schreiben geltend gemacht, sie sei von der vorläufigen Meinung der Kammer völlig überrascht worden, wonach Zweifel an einer inhaltlichen Übereinstimmung zwischen dem Dokument E04 und der Referenz [2.3] des Dokuments E04a bestünden. Dieser Umstand habe die Beschwerdegegnerin zur Vorlage der neuen Beweismittel veranlasst.
4.5 Zwar können außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 anerkannt werden, wenn die Änderung des Beschwerdevorbringens eine gerechtfertigte und fristgerechte Erwiderung auf einen von der Kammer erhobenen neuen Einwand darstellt, der nicht unter die zuvor von der Kammer oder von einem Beteiligten erhobenen Einwände fällt (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2020, V.A.4.5.4a)). Dies trifft im vorliegenden Fall jedoch nicht zu.
Der Einwand, das Dokument E04 bilde keinen Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ, hatte die Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorgebracht (siehe Punkt 6 der Einspruchserwiderung). Nachdem die Beschwerdegegnerin das Dokument E04a als Nachweis für die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments E04 erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt hat, wurde der entsprechende Einwand von der Beschwerdeführerin auch im Hinblick auf das Dokument E04a aufrechterhalten. Aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung geht insbesondere folgender Einwand der Beschwerdeführerin hervor:
"[...] Der Inhalt dieses Dokuments [Anm. d. Kammer: das in der Referenz [2.3] genannte Dokument] und des Dokuments E04 könne auch anders sein." (siehe Seite 2, zweiter Absatz des Protokolls)
4.6 Der von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Einwand ist in der Folge auch Gegenstand der angefochtenen Entscheidung geworden und wurde dort u.a. im Hinblick auf die Übereinstimmung des Dokuments E04 und der Referenz [2.3] erörtert (siehe Punkt 13.3 der Gründe für die angefochtene Entscheidung). Insbesondere hat die Einspruchsabteilung in diesem Zusammenhang auch zu den Unterschieden im Titel, den Autorennamen und den Seitennummerierungen des Dokuments E04 und der Referenz [2.3] Stellung genommen. Die Einspruchsabteilung ist schließlich zu dem Schluss gelangt, dass das Dokument E04, trotz der bestehenden Unterschiede, der in E04a genannten Referenz [2.3] inhaltlich entspricht.
4.7 In der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung hat die Kammer den Einwand der Beschwerdeführerin gegen die Qualifizierung des Dokuments E04 als Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ aufgegriffen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen neuen Einwand, sondern höchstens um Präzisierungen des ursprünglich erhobenen Einwands, welche die Einreichung neuer Beweismittel in keiner Weise rechtfertigen.
Die der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügte Mitteilung der Kammer enthält daher unter den Punkten 5 bis 10 insgesamt nichts, was über das hinausgeht, was bereits in der angefochtenen Entscheidung erörtert oder von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren vorgetragen wurde. Insbesondere war die fehlende Übereinstimmung in den Titeln und den Seitennummerierungen bereits Gegenstand der angefochtenen Entscheidung und wurde darüber hinaus von der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung erneut vorgetragen (siehe insbesondere Seite 3, 1. Absatz der Beschwerdebegründung).
Die der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügte Mitteilung schafft somit keine Grundlage für außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020.
4.8 Wie die Beschwerdeführerin zutreffend ausgeführt hat, konnte die Beschwerdegegnerin, aufgrund des vorrangigen Ziels des Beschwerdeverfahrens die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12 (2) VOBK 2020), nicht darauf vertrauen, dass die Kammer die im Hinblick auf das Dokument E04 unter Artikel 54 (2) EPÜ getroffene Entscheidung bestätigen würde. Spätestens mit dem erneuten Vorbringen des Einwandes durch die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung hätte daher seitens der Beschwerdegegnerin Veranlassung bestanden, die neuen Beweismittel vorzulegen. Allerspätestens hätte dies in Reaktion auf die Beschwerdeerwiderung der Beschwerdeführerin geschehen müssen.
4.9 Aus den vorstehend genannten Gründen hat die Kammer das ihr unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 zustehende Ermessen dahingehend ausgeübt, den nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergangenen Vortrag basierend auf den neuen Beweismitteln E04b und E04c unberücksichtigt zu lassen.
5. Ergebnis
Da die Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren keine weiteren Einwände, insbesondere auch keine auf anderen Dokumenten beruhenden Einwände, ausdrücklich gegen den Hauptantrag erhoben hat, und da solche Einwände auch nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung sind, war dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
Beschreibung:
Absätze: 1 bis 99 der Patentschrift
Ansprüche:
Nr.: 1 bis 10 gemäß Hauptantrag, eingegangen am 28. Februar 2019
Zeichnungen:
Nr. 1 bis 13 der Patentschrift