T 2790/19 14-10-2021
Download und weitere Informationen:
ANTRIEB FÜR SCHIENENFAHRZEUGE
Neuheit - (ja)
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (nein)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 569 197 in geändertem Umfang gemäß dem Hilfsantrag 2 aufrechtzuerhalten.
II. Die Einspruchsabteilung befand in ihrer Entscheidung unter anderem, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 bezüglich der zweiten Alternative (Merkmal 7b; siehe unten) neu gegenüber der Lehre der D2 (DE 1 916 078 A) und der D6 (DE 1 530 034 A) sei.
Mit der Beschwerdebegründung reichte die Einsprechende unter anderem folgende zusätzliche Dokumente ein:
D14: DE 28 43 830 A1, und
D15: DE 41 06 070 A1.
III. Am 14. Oktober 2021 wurde vor der Beschwerdekammer in Form einer Videokonferenz mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents. Verfahrensrechtlich beantragte sie die Zulassung der Dokumente D13 bis D17.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des Hilfsantrags 1, im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 9. Mai 2019 eingereicht als Hilfsantrag 7, oder des Hilfsantrags 2, eingereicht mit Schreiben vom 6. August 2021. Verfahrensrechtlich beantragte sie, die Dokumente D13 bis D17 nicht zuzulassen.
IV. Der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, d.h. der aufrecherhaltenen Fassung, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):
M1 "Antrieb für Schienenfahrzeuge, aufweisend
M2 - einen Antriebsmotor (1) mit einem Ständer (22) und
einem Läufer (4) und
M3 - zumindest ein vom Antriebsmotor (1) angetriebenes Rad
(7) oder einen vom Antriebsmotor angetriebenen Radsatz (7a, 7b), das/der beim Betrieb des Schienenfahrzeugs auf den Fahrschienen eines Schienenweges rollt, wobei
M4 - der Ständer (22) des Antriebsmotors (1) über eine
kardanisch bewegliche Aufhängung (2; 92) des Antriebs an einem Drehgestell (100) des Schienenfahrzeugs, an einem Wagenkasten des Schienenfahrzeugs oder an einer mit dem Drehgestell und/oder dem Wagenkasten verbundenen Konstruktion abgestützt ist,
M5 - der Läufer (4) des Antriebsmotors (1) über ein
kardanisch bewegliches Gelenk (5; 95) und/oder über eine kardanisch bewegliche Kupplung mit dem Rad (7), mit dem Radsatz (7a, 7b), mit zumindest einem Rad des Radsatzes und/oder mit einer Welle des Radsatzes gekoppelt ist, sodass beim Betrieb des Schienenfahrzeugs die Antriebskraft des Antriebsmotors (1) über das Gelenk (5; 95) und/oder die Kupplung übertragen wird, und
M6 - der Läufer (4) beim Betrieb des Antriebes eine
Antriebswelle (19) antreibt, die über ein Getriebe (8; 98) das Rad (7) oder die Radsatzwelle (6) des Radsatzes (7a, 7b) antreibt,
dadurch gekennzeichnet, dass
M7a - die Rotationsachse des Läufers (4) quer zur
Fahrtrichtung des Schienenfahrzeugs verläuft und der Ständer (22) nicht mit unbeweglichen Teilen des
Getriebes (8) verbunden ist sowie das Gelenk (5; 95) und/oder die Kupplung sich zwischen dem Läufer (4) und dem Getriebe (8) befindet; oder dass
M7b - der Ständer (22) fest mit den unbeweglichen Teilen
des Getriebes (98) verbunden ist."
1. Hauptantrag - Neuheit - Artikel 54 EPÜ
1.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist neu gegenüber den Offenbarungen von D2 und D6.
1.2 Strittig ist lediglich, ob die Antriebe von D2 und D6 das Merkmal M4 des Anspruchs 1 unmittelbar und eindeutig offenbaren. Dieses Merkmal fordert, dass der Ständer des Antriebsmotors über eine kardanisch bewegliche Aufhängung des Antriebs an einem Drehgestell des Schienenfahrzeugs, an einem Wagenkasten des Schienenfahrzeugs oder an einer mit dem Drehgestell und/oder dem Wagenkasten verbundenen Konstruktion abgestützt ist.
1.3 Hinsichtlich D2 räumten beide Parteien ein, dass der Ständer (i.e. Fahrmotor 1) am Fahrgestell derart aufgehängt ist, dass eine Drehbewegung des Ständers um die durch die beiden Aufhängelager gehende Achse 5 ermöglicht ist. Die Beschwerdeführerin brachte weiterhin vor, durch die Bewegung des rechten Aufhängelagers 2 axial entlang des Lagerzapfens 9 (in D2 als "axialer Federweg" bezeichnet) ergebe sich eine Drehung des Motors um eine Achse senkrecht zur Figurenebene von D2 durch die Mitte des linken Aufhängelagers 3. Dabei sei festzustellen, dass die elastischen Zwischenlagen 13 und 14 einen Anschlag darstellten und dass diese im eingebauten Zustand nicht in Kontakt mit dem Lager 2 seien, sondern, wie in der Figur gezeigt, eine Lücke und somit großes Spiel aufwiesen. Diese Lücke ermögliche die erwähnte Drehung um eine Achse senkrecht zur Figurenebene von D2 im eingebauten Zustand zwischen den Anschlägen der Zwischenlagen, sodass eine Bewegung um eine Achse senkrecht zur Achse 5 weiterhin möglich sei. Somit entspreche die Aufhängung des Motors 1 einer kardanisch beweglichen Aufhängung gemäß Merkmal M4. Zudem trug die Beschwerdeführerin vor, dass, selbst wenn diese Bewegung um eine Achse durch die Mitte des Lagers 3 und senkrecht zur Figurenebene in D2 offenbart sei, um Toleranzen bei der Montage aufnehmen zu können, eine (ggf. unterschiedliche) Auslenkung in entgegengesetzten Richtungen entlang des Lagerzapfens 9 selbst im montierten Zustand weiterhin möglich sei, und zwar aufgrund eines zusätzlichen Federwegs auch nach dem Toleranzausgleich.
Die Kammer ist nicht überzeugt und folgt der Ansicht der Beschwerdegegnerin. Nach Merkmal M4 ist der Ständer über eine kardanisch bewegliche Aufhängung an dem Drehgestell des Schienenfahrzeugs abgestützt. Eine derartige Aufhängung ermöglicht den miteinander gekoppelten Teilen (in diesem Fall Motor und Drehgestell), sich relativ zueinander um zwei zueinander senkrecht stehende Drehachsen zu bewegen (siehe Absatz [0017] des Streitpatents). Jedoch ist der Motor 1 des Antriebs in D2 derartig am Drehgestell aufgehängt, dass lediglich eine Bewegung um die Achse 5 uneingeschränkt möglich ist (siehe Seite 3, dritte Absatz). Die von der Beschwerdeführerin behauptete Drehung um eine Achse senkrecht zu der Figur von D2 und durch die Mitte des Aufhängelagers 3 findet allenfalls während der Montage des Antriebs statt, um Toleranzen für den Abstand zwischen der Treibachse und den Befestigungsflächen im Fahrgestell aufnehmen zu können. Jedoch ist die Beweglichkeit im montierten Zustand stark begrenzt, wie in der Figur von D2 gezeigt ist. Die von der Beschwerdeführerin behaupteten Lücken erlauben nicht mehr die axiale Bewegung des Aufhängelagers 2. Aus der Figur ist eindeutig zu entnehmen, dass in diesen Lücken Passscheiben mit einem Durchmesser breiter als der Außendurchmesser des Lagerzapfens 9 montiert sind und somit eine axiale Bewegung lediglich durch die Verformung der elastischen Zwischenlage 10 sowie durch die nachfolgende Verformung der elastischen Zwischenlagen 13 und 14 des Aufhängelagers 2 möglich ist. Jedoch wird, wie aus dem dritten Absatz auf Seite 3 von D2 hervorgeht ("Bei Beanspruchung des Fahrmotors 1 in Fahrtrichtung wird die Zwischenlage 10 des Aufhängelagers 2 hauptsächlich auf Schub, die des Aufhängelagers 3 hauptsächlich auf Druck beansprucht"), entsprechend auch die elastische Zwischenlage 10 des Aufhängelagers 3 verformt in der Ebene der Figur von D2 bzw. in Fahrtrichtung (lässt bei Beanspruchung auf Druck eine Bewegung in dieselbe Richtung zu), sodass aus der daraus resultierenden Bewegung nicht unmittelbar und eindeutig die behauptete Drehung um die Achse senkrecht zu der Figur durch die Mitte des Aufhängelagers 3 abzuleiten ist. Auch aus den weiteren im dritten Absatz auf Seite 3 diskutierten Beanspruchungen während der Fahrt lässt sich keine kardanisch bewegliche Aufhängung gemäß Merkmal M4 ableiten. Dies wurde auch nicht vorgetragen.
Zudem erfüllt - wie von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung festgestellt (siehe Punkt 4.4.4 B) der angefochtenen Entscheidung) - eine allseitige "elastische Verformbarkeit" zum Ausgleich von Toleranzen nicht die technische Definition einer kardanisch beweglichen Aufhängung. Wie auch aus dem Absatz [0069] des Streitpatents hervorgeht, geht die Funktion der kardanisch beweglichen Aufhängung über einen bloßen Ausgleich von Toleranzen hinaus.
Infolgedessen ist der D2 eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung einer Drehung der Aufhängung des Motors 1 an dem Drehgestell 4 um eine Achse senkrecht zur Figurenebene von D2 durch die Mitte des Aufhängelagers 3 nicht zu entnehmen und Merkmal M4 damit nicht gezeigt.
1.4 Hinsichtlich D6 trug die Beschwerdeführerin vor, dass die Lager 6 und 7 zusätzlich elastisch und damit die Lagerungen des Fahrmotors federnd ausgebildet seien. Diese elastische bzw. federnde Lagerung ermögliche ergänzend zu der Drehbewegung um die Drehachse 9 zweifelsfrei Drehbewegungen des Fahrmotors um weitere Achsen. Beispielsweise könne der Fahrmotor hierdurch eine Drehbewegung um eine durch das untere Lager 7 senkrecht zu der Figur 2 gehende Hochachse ausführen. Gleiches gelte für das obere Lager 6 in der Figur 2. Somit ermögliche die Aufhängung sowohl eine Drehbewegung des Ständers um die Drehachse 9 als auch um eine senkrecht zu dieser stehenden Achse durch eines der Lager, sodass diese Aufhängung nach der vorstehenden Auslegung des Merkmals M4 eine kardanisch bewegliche Aufhängung darstelle.
Dies überzeugt die Kammer nicht, und zwar aus genau den gleichen Gründen wie bereits weiter oben für die Aufhängung des Motors in D2 hinsichtlich der Verformung der elastischen Zwischenlage im montierten Zustand ausgeführt. Darüber hinaus, wie auch von der Beschwerdegegnerin vorgetragen und von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung begründet, ist in D6 der Motor im Fahrgestell pendelnd aufgehängt und außerdem hinsichtlich der möglichen Bewegungen so festgelegt, dass er nur eine Drehbewegung um die durch die Lager 6 und 7 festgelegte Drehachse 9 ausführen kann (siehe Seite 6, letzter Absatz). Der Vortrag der Beschwerdeführerin ist somit spekulativ und widerspricht der Offenbarung von D6.
1.5 Damit geht das Merkmal M4 weder aus D2 noch aus D6 unmittelbar und eindeutig hervor.
2. Zulassung von D14 und D15
2.1 Die Beschwerdeführerin reichte die Entgegenhaltungen D14 und D15 zum ersten Mal mit der Beschwerdebegründung ein und machte Neuheitseinwände in Anbetracht dieser Dokumente gegen den Gegenstand gemäß der zweiten Alternative des Kennzeichens des Anspruchs 1 des Hauptantrags (d.h. Merkmal M7b) geltend.
2.2 Gemäß Artikel 25(2) VOBK 2020 (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2019, A63) ist Artikel 12(4) VOBK 2007 (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2007, 536) im vorliegenden Fall anzuwenden. Gemäß Artikel 12(4) VOBK 2007 verfügt die Kammer über die Befugnis, Beweismittel nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können.
2.3 Die Beschwerdeführerin begründete die verspätete Einreichung dieser Entgegenhaltungen zum einen damit, dass sie prima facie hochrelevant seien. Zum anderen seien die Dokumente in Anbetracht der Tatsache zuzulassen, dass die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Auffassung über die fehlende Neuheit gegenüber D2 aufgrund der Diskussion über die Auslegung von Merkmal M4 geändert habe, insbesondere des Begriffes "kardanisch bewegliche Aufhängung".
2.4 Die Kammer teilt die Ansicht der Beschwerdegegnerin, wonach aus dem Einspruchsverfahren kein Anlass ersichtlich ist, der die Einreichung der Entgegenhaltungen D14 und D15 zu diesem späten Stand des Verfahrens rechtfertigen würde. Diese Dokumente werden lediglich hinsichtlich der zweiten Alternative (Merkmal M7b) des Anspruchs 1 diskutiert, die der zweiten Alternative des erteilten Anspruchs 1 entspricht. Die Beschwerdeführerin hätte diese Dokumente damit bereits mit ihrer Einspruchsschrift einreichen können und sollen. Zudem sind die während des Einspruchsverfahrens vorgetragenen Argumente der Patentinhaberin hinsichtlich der Auslegung des Merkmals M4 seit der Einspruchserwiderung unverändert geblieben, sodass die Beschwerdeführerin spätestens vor der mündlichen Verhandlung diese Dokumente hätte einreichen können und sollen.
Was die Änderung der Auffassung der Einspruchsabteilung während der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Neuheit im Hinblick auf D2 betrifft, so liegt es in der Natur einer vorläufigen Stellungnahme, dass sie für die endgültige Entscheidung nicht bindend ist, und die Beschwerdeführerin hätte damit rechnen müssen, dass die Argumentation der Patentinhaberin die Einspruchsabteilung überzeugen könnte. Sie hätte dementsprechend Dokumente, die der Auslegung der Patentinhaberin Rechnung tragen, einreichen müssen, um Ihre Position zu verstärken (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, III.B.2.3.7).
Im Übrigen stellt die Kammer fest, dass gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammer das Kriterium der prima facie Relevanz neu eingeführter Beweismittel nicht das vorrangige oder gar ausschließlich anzuwendende Kriterium für die Ausübung des Ermessens der Kammer im Rahmen von Artikel 12(4) VOBK 2007 darstellt.
2.5 Unter diesen Umständen hat die Kammer Ihr Ermessen dahingehend ausgeübt, die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereichten neuen Beweismittel D14 und D15 nicht in das Verfahren zuzulassen.
3. Eine Entscheidung über die Zulassung der weiteren Dokumente D13, D16 und D17 erübrigt sich, da keine separate Angriffslinie ausgehend von einem dieser Dokumente vorgetragen wurde.
4. Weitere Angriffslinien lagen nicht vor. Daher ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung zu bestätigen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.