T 3075/19 09-03-2023
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BEHEIZBARE MEDIENLEITUNG MIT ZUMINDEST EINER MEDIENLEITUNG MIT ZWEI LEITUNGSVERBINDERN
Entscheidung im schriftlichen Verfahren - Sache entscheidungsreif
Neuheit - (ja)
Änderungen - zulässig (ja)
Neues Vorbringen - zulässig (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Die Patentinhaberin und die Einsprechende legten form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das europäische Patent Nr. 2 766 652 in geänderter Fassung aufrechterhalten wurde.
II. Der Einspruch richtete sich gegen das erteilte Patent im vollen Umfang und stützte sich auf Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) und 100 c) EPÜ.
III. In einer auf den 10. Juni 2022 datierten Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtlage mit, wonach die Beschwerde der Patentinhaberin voraussichtlich im Umfang des Hilfsantrags I, den die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung wegen mangelnder Neuheit für nicht gewährbar befunden hatte, erfolgreich sein dürfte.
IV. Mit Schriftsatz vom 28. Februar 2023 nahm die Einsprechende ihre Beschwerde zurück und erklärte, dass sie nicht an der für den 13. März 2023 anberaumten mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.
V. Mit Schriftsatz vom 7. März 2023 machte die Patentinhaberin ihren bisherigen Hilfsantrag I zum neuen Hauptantrag und reichte neue, an diesen neuen Hauptantrag angepasste Beschreibungsseiten 1 bis 21 ein. Im Folgenden wird dieser neue Hauptantrag weiterhin als Hilfsantrag I bezeichnet, als welchen die Patentinhaberin ihn mit Schriftsatz vom 3. Mai 2019 eingereicht hatte.
VI. Die Patentinhaberin als nunmehr alleinige Beschwerdeführerin beantragte damit zuletzt
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und
die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Basis des Hilfsantrags I und der am 7. März 2023 vorgelegten Beschreibungsseiten 1 bis 21 oder
hilfsweise
gemäß einem der Hilfsanträge II bis III,
alle Hilfsanträge eingereicht mit Schriftsatz vom 3. Mai 2019.
VII. Die als Beschwerdegegnerin im Verfahren weiter beteiligte Einsprechende beantrage zuletzt sinngemäß
die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin.
VIII. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I lautet (Merkmalsanalyse gemäß der angefochtenen Entscheidung):
1.1 "Beheizbare Medienleitung (1,1a,1b,1c,1d) mit zumindest einer Medienleitung (7,7a,7b) mit zwei Leitungsverbindern (2,2a,2b,3,3a,3b) und zwei oder drei elektrischen Heizlitzen (10,10a,10b,11,11a,11b,13, 13a, 13b),
1.2 wobei sich eine erste und eine zweite Heizlitze (10,10a, 10b, 11,11a, 11b) entlang der Medienleitung (7) erstrecken,
1.3 wobei zumindest ein Mittel vorgesehen ist, mittels dessen an den beiden Leitungsverbindern (2,2a,2b,3,3a,3b) der beheizbaren Medienleitung ein differenzierter Wärmeeintrag ermöglicht wird oder vorgesehen ist,
1.4 wobei als Mittel eine unterschiedliche Leistungseinkopplung an den beiden Leitungsverbindern (2,2a,2b,3,3a,3b) vorgesehen ist,
1.5 wobei eine unterschiedliche Anordnung der Heizlitzen (10,10a,10b,11,11a,11b, 13,13a, 13b) an den beiden Leitungsverbindern (2,2a,2b,3,3a,3b) vorgesehen ist,
1.5a und die Heizlitzen in Bereichen der beiden Leitungsverbinder einen unterschiedlichen Widerstand aufweisen,
1.6 wobei ein Ende der ersten Heizlitze (10) und ein Ende der zweiten Heizlitze (11) an einer Verbindungsstelle (14) direkt miteinander verbunden sind,
1.7 wobei die Verbindungsstelle (14) auf oder an dem ersten Leitungsverbinder (2) oder entlang der Medienleitung (7) angeordnet ist, und
1.8 wobei eine der beiden ersten und zweiten Heizlitzen (10, 11) oder die dritte Heizlitze (13,13a,13b) an oder auf dem zweiten Leitungsverbinder (3) angeordnet ist, wobei die dritte Heizlitze mit den beiden anderen Heizlitzen verbunden ist."
IX. In dieser Entscheidung werden die folgenden Dokumente erwähnt:
D1': EP 2 816 272 A1;
D2: WO 2011/085 154 A1;
D6: WO 2005/124 219 A1;
D7: WO 2007/032 034 A1;
D8: WO 2008/131 993 A1.
X. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien, wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Verfahrensrechtliche Aspekte
1.1 Die vorliegende Entscheidung ergeht unter Aufhebung des für den 13. März 2023 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020.
1.2 Die Beschwerdesache ist auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des umfänglichen schriftsätzlichen Vorbringens der Parteien unter Wahrung deren Rechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif.
1.3 Der von der Patentinhaberin hilfsweise gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung kommt angesichts des Ausspruches dieser Entscheidung in Form der Stattgabe der Beschwerde auf der Basis des mit der Beschwerdebegründung eingereichten und mit Schriftsatz vom 7. März 2023 als vorrangig zu behandelnden Hilfsantrags I nicht zum Tragen.
1.4 Die Einsprechende hat mit ihrem Schriftsatz vom 28. Februar 2023 ausdrücklich erklärt, nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen.
1.5 Nachdem die von der Kammer in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 dargelegte vorläufige Meinung von der Einsprechenden weder weiter kommentiert noch bestritten wurde, sieht die Kammer - nachdem sie erneut alle relevanten Aspekte in Bezug auf diese Fragen berücksichtigt hat - keinen Grund, von ihren in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 getroffenen Feststellungen abzuweichen und bestätigt diese, wie im Folgenden näher dargestellt.
2. Zulässigkeit der Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
2.1 Die Einsprechende machte gegen Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I zumindest implizit denselben Einwand der unzulässigen Änderung wie bezüglich des ursprünglichen Hauptantrags geltend, dass die Einspruchsabteilung in Punkt 2.1 der Entscheidungsgründe zu Unrecht festgestellt habe, dass der Ausdruck "direkt verbunden" in Anspruch 1 gemäß dem damaligen Hauptantrag keine inhaltliche Erweiterung darstellt und es sich deshalb nicht um eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung handelt.
2.2 Die Einsprechende begründete ihren Einwand, indem sie inhaltlich ihr Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren wiederholte (vgl. Beschwerdeerwiderung der Einsprechenden, gesamte Seite 2).
2.3 Die Kammer kann diesem Vortrag, der in den begründeten Feststellungen in den Entscheidungsgründen zu diesem Einwand berücksichtigt ist, nicht folgen. Sie schließt sich vielmehr der von der Einsprechenden unwidersprochen gebliebenen Feststellung der Einspruchsabteilung an, dass der Ausdruck "direkt verbunden" schaltungstechnisch zu verstehen ist.
2.4 Die Kammer ist folglich nicht von einer Unrichtigkeit der Feststellungen der Einspruchsabteilung zur Zulässigkeit der Änderungen nach Artikel 123 (2) EPÜ in Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag überzeugt.
3. Neuheit (Artikel 54 EPÜ) - Dokument D1'
3.1 Die Einsprechende erhob erstmalig mit ihrer Erwiderung auf die Beschwerde der Patentinhaberin einen Einwand mangelnder Neuheit gegenüber der Offenbarung des Dokuments D1' unter Verweis auf die technische Lehre der Figur 5.
3.2 Es kann dahin gestellt beleiben, ob dieser erstmalig im Beschwerdeverfahren erhobene Einwand vor dem Hintergrund des Artikels 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 ins Verfahren zuzulassen wäre. Der Einwand überzeugt jedenfalls nicht, denn das Merkmal 1.5a ist in der Figur 5 des Dokuments D1' weder ausdrücklich noch implizit offenbart.
3.3 Dabei ist es aus Sicht der Kammer unerheblich, ob mit dem Ausdruck "Widerstand" der spezifische Widerstand oder der Gesamtwiderstand der Heizlitzen bezeichnet ist.
3.4 Gemäß der einheitlichen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts ist ein Merkmal in einem Dokument des Stands der Technik dann offenbart, wenn es sich unmittelbar und eindeutig aus diesem entnehmen lässt (vgl. Rechsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, I.C.4.).
3.5 Die Kammer teilt die Auffassung der Patentinhaberin, dass sich der Figur 5 in Dokument D1', die letztlich nur eine vereinfachende Seitenansicht der dargestellten Fluidleitung wiedergibt, weder die Heizleiterlänge noch andere zur Bestimmung eines elektrischen Widerstandwertes notwendige Angaben, wie Heizleiterdurchmesser oder spezifische Widerstände, entnehmen lassen (vgl. Beschwerdebegründung der Patentinhaberin, Seite 4, Absatz 3), so dass aus der reinen Vermutung der Einsprechenden, dass die Länge der Heizlitzen (3) verschieden sei (vgl. Beschwerdeerwiderung der Einsprechenden, Seite 17, Absatz 1) keine Aussagen zu Widerstandswerten getroffen werden kann. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Vermutung der Einsprechenden zuträfe, denn ein Widerstandswert ergibt sich nicht nur aus der Länge eines elektrischen Leiters. Dokument D1' schweigt schlicht zu der Höhe der elektrischen Widerstände der Heizleiter im Bereich der Verbinderteile 21 und 22, so dass der Fachmann keine entsprechende Lehre, ob explizit oder implizit, entnehmen kann. Folglich ergibt sich auch keine Offenbarung des Merkmals 1.5a in der Lehre der Figur 5 des Dokuments D1'.
4. Neuheit (Artikel 54 EPÜ) - Dokument D2
4.1 Die Patentinhaberin wendete sich gegen die Feststellung in Punkt 4.2 der Entscheidungsgründe, dass der Lehre des Dokuments D2, dort insbesondere der Figur 5C, das Merkmal 1.5a zu entnehmen ist. Sie trägt vor, dass in Dokument D2 an keiner Stelle ein Widerstand oder ein unterschiedlicher Widerstand der darin genannten Heizelemente offenbart sei (vgl. Beschwerdebegründung der Patentinhaberin, Seite 11, letzter Teilabsatz, bis Seite 12, Absatz 2).
4.2 Die Kammer teilt in analoger Berücksichtigung der zu den bereits in Bezug auf die Figur 5 des Dokuments D1' in Punkt 3.5 dieser Entscheidung dargelegten Erwägungen die Auffassung der Patentinhaberin, dass die Feststellung der Einspruchsabteilung, dass Figur 5C ausdrücklich offenbare, dass links eine Crimpstelle in einer Position [dargestellt] sei, wodurch links weniger Litzenmaterialien erforderlich sei, nicht hinreichend darlegt, dass der Fachmann der Offenbarung der Figur 5C aus Dokument D2 auch unmittelbar und eindeutig entnähme, dass die Heizlitzen in Bereichen der beiden Leitungsverbinder einen unterschiedlichen Widerstand aufweisen.
4.3 Folglich gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D2 ist und die anderslautende Feststellung in Punkt 4. der angefochten Entscheidung insoweit unrichtig ist. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
5. Einwände mangelnder erfinderische Tätigkeit
(Artikel 56 EPÜ) -
Kombination der Lehren aus D6 und D7 und
Kombination der Lehren aus D8 und D2
5.1 Die von der Einsprechenden weiter vorgetragenen Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I beruhend auf den Kombinationen der Lehren von Dokument D6 und Dokument D7 sowie der Lehren von Dokument D8 und Dokument D2 waren nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidungen.
5.2 Diese Einwände wurden jedoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit der Einspruchsbegründung gegenüber dem Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag vorgetragen (vgl. Einspruchsbegründung, Seite 19, Absatz 1, bis Seite 25, Absatz 1). Weiterhin hatte die Einsprechende im Verlauf der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung angekündigt, einen auf den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit gründenden Angriff vortragen zu wollen (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung, Seite 1, Absatz 12). Angesichts der Entscheidung der Einspruchsabteilung zur mangelnden Neuheit des Gegenstandes von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag wurde dieser Angriff jedoch nicht mehr Gegenstand des Verfahrens und folgerichtig auch nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung, obgleich er von der Einsprechenden im Einspruchsverfahren aufrechterhalten blieb.
5.3 Die Kammer lässt daher die beiden genannten Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit in Anwendung ihres aus Artikel 12 (4) VOBK 2020 zustehenden Ermessens ins Verfahrens zu.
5.4 Die Einsprechende bezog sich zur Begründung auf ihren Vortrag zu ihren Einwänden hinsichtlich der mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes von Anspruch 1 gemäß dem damaligen Hauptantrag. Sie ergänzt dieses Vorbringen im Hinblick auf das Merkmal 1.5a um den Vortrag, dass in beiden Kombinationen die Heizlitzen an den beiden Verbindern eine unterschiedliche Länge und eine unterschiedliche Anordnung aufweisen, so dass auch der Wert des Widerstands an den beiden Leitungsverbindern unterschiedlich sei (vgl. Beschwerdeerwiderung der Einsprechenden, Seite 17 und 18, übergreifender Absatz).
5.5 Die Kammer ist angesichts der von ihr in Punkt 3.5 oben dargelegten Erwägungen bereits nicht davon überzeugt, dass sich aus einer möglichen unterschiedlichen Länge oder Anordnung von Drähten oder Heizlitzen für den Fachmann eine hinreichend klare, eindeutige Aussage zu den Werten der jeweiligen Widerstände ergäbe, so dass bereits aus diesem Grund die von der Einsprechenden vorgelegten Einwände zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht überzeugen können.
6. Der Patentinhaberin gelingt es folglich, die Unrichtigkeit der Feststellungen zur mangelnden Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag gegenüber der Lehre des Dokuments D2 in überzeugender Weise darzulegen, während die übrigen von der Einsprechenden vorgebrachten Einwände gegen Hilfsantrag I nicht überzeugen.
7. Die Patentinhaberin legte mit Schriftsatz vom 7. März 2023 eine an Hilfsantrag I angepasste Beschreibung vor.
8. Die Kammer erkennt keine Hindernisse, die einer Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des Hilfsantrags I entgegenstünden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung
mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in
folgender, geänderter Fassung aufrechtzuerhalten:
Ansprüche: 1 bis 10, eingereicht als
Hilfsantrag I mit Schriftsatz vom
3. Mai 2019,
Beschreibung: Seiten 1 bis 21, eingereicht mit
Schriftsatz vom 7. März 2023,
Figuren: 1 bis 12 wie erteilt.