D 0017/22 14-03-2023
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I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022, in der festgestellt wurde, dass die Prüfungsarbeit der Beschwerdeführerin zur Aufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 (im Folgenden: Aufgabe A) mit 39 Punkten und damit mit der Note "NICHT BESTANDEN" bewertet wurde.
II. Mit Schreiben vom 21. Juli 2022, das am 25. Juli 2022 beim EPA einging, legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 Beschwerde ein und begründete diese. Sie hatte bereits am 22. Juli 2022 die vorgeschriebene Beschwerdegebühr entrichtet. Das Prüfungssekretariat legte die Beschwerde der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (Beschwerdekammer) mit Schreiben vom 15. September 2022 vor und teilte mit, dass die Prüfungskommission beschlossen habe, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Weder der Präsident des Europäischen Patentamtes noch der Präsident des Rats des Instituts der zugelassenen Vertreter, denen nach Artikel 24 (4) Satz 1 der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter (VEP) in Verbindung mit Artikel 12 der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern (VDV) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, äußerten sich schriftlich zur Beschwerde.
III. Die Kammer teilte der Beschwerdeführerin am 6. März 2023 in einer Mitteilung gemäß Artikel 13(2) und 14 der Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten des Europäischen Patentamtes (EVBD) ihre vorläufige Einschätzung mit.
IV. Die Beschwerdeführerin nahm hierzu am 12. März 2023 Stellung und hielt ihren Hilfsantrag auf mündlichen Verhandlung aufrecht.
V. Die mündliche Verhandlung fand daher wie mit Ladung vom 3. Januar 2023 mitgeteilt am 14. März 2023 in Anwesenheit der Beschwerdeführerin statt und wurde als Videokonferenz durchgeführt. Am Ende der Verhandlung wurde die vorliegende Entscheidung verkündet.
VI. Zur Begründung ihrer Beschwerde machte die Beschwerdeführerin unter anderem Folgendes geltend:
Ihr auf ein Stampfwerk gerichteter Vorrichtungsanspruch entspreche weitgehend der deutschsprachigen Musterlösung, die Bewertung mit nur 13 der hier erzielbaren 28 Punkte müsse daher auf einem offensichtlichen Fehler beruhen.
So könne ein Abzug von 8 Punkten nicht mit der von ihr gewählten geschlossenen Aufzählung der Hammerbestandteile begründet werden, da im Gegensatz zu der im Englischen verwendeten offenen Variante "comprising" die deutsche Sprachversion der Musterlösung genau wie die Arbeit der Beschwerdeführerin das Wort "besteht" verwendet. Auch ein Klarheitsmangel (der zu einem Abzug von bis zu 5 Punkten hätte führen können) könne hierin nicht liegen.
Ein Abzug von 8 Punkten wegen einer unnötigen Beschränkung sei auch nicht angesichts des von ihr hinzugefügten Merkmals "wobei wenn der Kopf-Schaft-Winkel (a) weniger als 70 Grad beträgt der Hammerschaft (3) in Ruheposition im Vergleich zur Horizontalen eine Neigung nach unten aufweist" gerechtfertigt. Da die Einschränkung sich nur auf diesen Winkelbereich beziehe, dort aber nach der Aufgabe auch essentiell sei, stelle sich das Merkmal nicht als unnötige Beschränkung dar; es sei auch nicht unklar.
Zuletzt seien die Prüfer bei ihrer Einschätzung, ein Merkmal "weniger als 90°", wie es auch die Beschwerdeführerin gewählt hat, sei unklar, von einer rechtlich und technisch falschen Beurteilungsgrundlage ausgegangen, bzw. sei die Prüfungsaufgabe insoweit widersprüchlich und unverständlich formuliert.
Die Musterlösung im Prüferbericht enthalte daher schwere und eindeutige Fehler, die von der Kammer korrigiert werden könnten.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte,
- die angefochtene Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 aufzuheben und das Bestehen der europäischen Eignungsprüfung 2022 festzustellen, insbesondere für die Prüfungsaufgabe A der Beschwerdeführerin mindestens 45 Punkte und somit die Note "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" zu vergeben;
und
- die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.
VIII. Hinsichtlich der Einzelheiten der streitigen Prüfungsaufgabe wird auf die veröffentlichte Aufgabe und den entsprechenden Prüferbericht verwiesen, die auf der Website des Europäischen Patentamts unter https:// www.epo.org/learning/eqe/compendium_de.html abrufbar sind.
IX. Von der Darstellung der weiteren Einwände der Beschwerdeführerin wird abgesehen, da diese für die Entscheidung nicht mehr relevant sind (siehe unten Entscheidungsgründe 5.6).
Die zulässige Beschwerde erweist sich als begründet.
1. Vorrichtungsanspruch Stampfwerk - Merkmal "weniger
als 90°"
1.1 Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern seit D 1/92 unterliegen Prüfungsentscheidungen einer Überprüfung durch die Beschwerdekammer nur dahin, ob sie auf schwerwiegenden und eindeutigen Fehler beruhen, die ohne Wiedereröffnung des gesamten Bewertungsverfahrens festgestellt werden können. Ein solcher Fehler kann im Einzelfall darin liegen, dass die Prüfer bei ihrer Bewertung von einer technisch oder rechtlich falschen Beurteilungsgrundlage ausgegangen sind, auf der die angefochtene Entscheidung beruht (D 16/02 und D 6/04, jeweils Punkt 3 der Entscheidungsgründe).
1.2 Die Kammer in der vorliegenden Besetzung schließt sich der Einschätzung der Kammer im Verfahren D 21/22 an, dass der Prüferbericht im Hinblick auf die vermeintliche Unklarheit des Merkmals "weniger als 90°" einen schwerwiegenden und eindeutigen Fehler enthält. Die Kammer hat dort zur Begründung ausgeführt:
"Aufgrund der Aussage im Prüferbericht (Seite 7, zweiter vollständiger Absatz), dass bei einem Anspruch auf einen Winkel von "weniger als 90 Grad" statt "ungleich 90 Grad", wegen eines Klarheitsmangels Punkte abgezogen wurden, muss die Beschwerdekammer davon ausgehen, dass das Merkmal "Kopf-Schaft-Winkel (alpha) unter 90 Grad" im Anspruch der Beschwerdeführerin als unklar und nicht etwa als unnötige Einschränkung angesehen wurde. Dem Prüferbericht ist jedenfalls an keiner Stelle zu entnehmen, dass erwartet wurde, dass auch ein Kopf-Schaft-Winkel (alpha) größer als 90 Grad beansprucht werden sollte, soweit dieser zu einer Schrägstellung des Hammerkopfs führt. Wiewohl bei Winkeln üblich ist, von "kleiner" (bzw. "größer") zu sprechen und nicht von "unter" (bzw. "über") oder "weniger" (bzw. "mehr"), dürfte der Klarheitseinwand nicht auf diesen semantischen Unterschieden beruhen, sondern vermutungsweise darauf, dass diese relativen Angaben Werte einschließen könnten, die nahe an 90 Grad liegen.
Unter diesem Gesichtspunkt kann die Beschwerdekammer aber nicht erkennen, weshalb dieser Einwand nicht auch auf die erwartete Lösung ("ungleich 90 Grad") zutrifft. Auch wenn der Prüferbericht dahin zu verstehen ist, dass die Anspruchsformulierung, dass der Kopf-Schaft-Winkel (alpha) ein fixer Winkel ungleich 90 Grad ist, zu Gunsten der Bewerber als Alternative zur erwarteten Definition, dass der Hammerkopf (2) in einer Schrägstellung zum Hammerschaft (3) angeordnet ist, akzeptiert wurde, ist ein Abzug wegen eines Klarheitsmangels bei der Beschwerdeführerin nicht gerechtfertigt. Denn ihre Lösung entspricht (mit Ausnahme des Ausschlusses von Kopf-Schaft-Winkel größer 90 Grad, der allerdings im Prüferbericht nicht abgesprochen wird) der alternativen Musterlösung."
1.3 Nicht anders liegt der Fall vorliegend. Der Fehler muss dabei auch bei der Bewertung relevant geworden sein, da sich der vorgenommene Punkteabzug nur unter Berücksichtigung dieses Abzugs erklären lässt, so dass die Kammer sich auch der abschließenden Einschätzung der Kammer in der dortigen Besetzung anschließen kann:
"Es liegt mithin ein schwerwiegender und eindeutiger Fehler bei der Bewertung der Prüfungsarbeit vor, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt."
1.4 Die weiteren Abweichungen können für sich oder in Kombination genommen den Abzug aus den folgenden Gründen nicht rechtfertigen:
2. Vorrichtungsanspruch Stampfwerk - fehlende Funktionsangabe
2.1 Die Beschwerdeführerin hat den Anspruch eingeleitet mit "Stampfwerk, umfassend einen Bottich...". Die Musterlösung enthält demgegenüber noch eine Funktionsangabe "Stampfwerk, zur Herstellung von Papierpulpe umfassend einen Bottich..." [Hervorhebung durch die Kammer].
2.2 Ein Abzug lässt sich durch diese Abweichung jedoch nicht rechtfertigen, wie die Kammer in der vorliegenden Zusammensetzung bereits im Verfahren D 30/22 entschieden und wie nachstehend begründet hat; die Kammer hält an dieser Begründung auch im vorliegenden Fall fest:
"Für die von der Musterlösung vorgesehene Funktionsangabe ist im Kontext der Aufgabenstellung kein Anlass erkennbar, etwa dahingehend, dass eine Abgrenzung erforderlich erschiene gegenüber anderen Vorrichtungen, die auch als Stampfwerke zu sehen, aber nicht zur Pulpeherstellung geeignet wären. Die Angabe erscheint daher nicht notwendig und wird auch im Prüferbericht nicht näher begründet.
Die Antwort des Beschwerdeführers enthält damit alle im Prüferbericht als erforderlich angesehenen Merkmale....
Das den Prüfern eingeräumte Ermessen ist vorliegend nicht berührt. Es betrifft insbesondere die Einschätzung, welcher Punktabzug für fehlerhafte Antworten angemessen ist oder welche hinter der Ideallösung zurückbleibenden Alternativen ebenfalls vertretbar sind und wie diese bepunktet werden sollten. Es kann dagegen nicht als Freibrief missverstanden werden, nach Belieben Punkte abzuziehen, selbst wenn die Antwort technisch und rechtlich einwandfrei ist und alle vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung erwarteten und in der Musterlösung angeführten Aspekte enthält."
3. Vorrichtungsanspruch Stampfwerk - Merkmal "besteht"
3.1 Das von der Beschwerdeführerin anschließend formulierte Merkmal "Bottich, der mit einem Hammer versehen ist, welcher aus einem Hammerkopf (2), einem Hammerschaft (3), und einer Hammer-Schlagfläche (4) besteht" [Hervorhebung durch die Kammer], entspricht wörtlich der Musterlösung im deutschsprachigen Prüferbericht.
3.2 Ein Abzug wegen unnötig starker Beschränkung, wie er sich gegebenenfalls vor dem Hintergrund des englisch-sprachigen Prüferberichts und des dort verwendeten Wortes "comprising" hätte rechtfertigen lassen, ist daher nicht zulässig.
3.3 Ein Klarheitsdefizit ist ebenfalls nicht erkennbar.
4. Vorrichtungsanspruch Stampfwerk - Merkmal "Neigung nach unten [bei Kopf-Schaft-Winkel von weniger als 70°]"
4.1 Das von der Beschwerdeführerin formulierte Merkmal "wobei wenn der Kopf-Schaft-Winkel (a) weniger als 70 Grad beträgt der Hammerschaft (3) in Ruheposition im Vergleich zur Horizontalen eine Neigung nach unten aufweist" rechtfertigt keinen Abzug von 8 Punkten wegen einer unnötigen Beschränkung des Anspruchs: Für den Winkelbereich von 70° bis kleiner 90° ist das Merkmal nicht einschränkend; für den darunter liegenden Winkelbereich ist es aber in der Aufgabe klar als wesentlich gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund ist seine Aufnahme (beschränkt auf diesen Bereich) in den Anspruch gerechtfertigt.
4.2 Soweit die Prüfungskommission das Merkmal als unklar angesehen haben sollte, wäre nach den eigenen Bewertungskriterien allenfalls ein Abzug von bis zu 5 Punkten gerechtfertigt gewesen. Der Abzug von weiteren 10 Punkten wie vorliegend vorgenommen, ist dagegen nicht erklärbar.
4.3 Es kann daher festgestellt werden, dass die auf einer technisch bzw. rechtlich unzutreffenden Ausgangsbasis (siehe oben Punkt 1.2) getroffene Beurteilung des Vorrichtungsanspruchs auf schwerwiegenden und eindeutigen Fehlern beruht, die zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung gemäß Artikel 24(4) VEP führen.
5. Antrag auf Zuerkennung einer Note
5.1 Im Falle der Stattgabe einer Beschwerde verweist die Beschwerdekammer die Angelegenheit gemäß Artikel 12 der Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (EVBD) zur Neubewertung der betreffenden Arbeit an die Prüfungskommission zurück, es sei denn es liegen besondere Gründe vor, die gegen eine Zurückverweisung sprechen. Diese sind vorliegend gegeben, da die Neubewertung sich hier als reine Formalie darstellen würde (im Anschluss an D 14/17 Punkt 3.3 der Entscheidungsgründe).
5.2 Die Beschwerdeführerin, deren Arbeit bereits mit 39 Punkten bewertet worden war, hat nicht die Vergabe einer konkreten Punktzahl beantragt, welche nur als Folge einer umfassenden Neubewertung ihrer Arbeit in Betracht käme, sondern die Bewertung ihrer Prüfungsaufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 mit mindestens der Note "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit". Hintergrund für diesen Antrag ist, dass sie die anderen Aufgaben ebenfalls im Jahr 2022 bereits mit 88, 76 und 73 Punkten bestanden hat. Jede Bewertung mit 45 oder mehr Punkten bedeutet für sie daher das Bestehen der Eignungsprüfung insgesamt.
5.3 Die Kammer hatte daher allein zu beurteilen, ob - ohne Eingriff in das der Prüfungskommission zustehende Ermessen - festgestellt werden kann, dass eine Neubewertung jedenfalls zu einer Vergabe von 6 Punkten mehr als bislang vergeben führen müsste.
5.4 Dies ist vorliegend der Fall. Wie oben unter Punkt 1 bis 4 ausgeführt, ist kein legitimer Grund ersichtlich, warum die Prüfungskommission von ihrer eigenen Musterlösung im Prüferbericht ausgehend für den Vorrichtungsanspruch um mehr als 5 Punkte hinter der vollen Punktzahl von 28 zurückbleiben könnte. Wie unter Punkt 4.2 dargelegt, ist zwar eine Bewertung zwischen 23 und 28 denkbar, je nachdem ob und wie stark das Merkmal betreffend die horizontale Neigung als unklar eingestuft wird. In allen Fällen ergibt sich aber eine Bewertung, die deutlich über den benötigten sechs zusätzlichen Punkten liegt.
5.5 Es kann daher dahinstehen, ob die Prüfungskommission am Ende 10 oder 15 Punkte mehr vergibt. Die beantragte Benotung mit mindestens "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" gemäß Regel 6 (3) c) ABVEP wäre in jedem Fall gerechtfertigt.
5.6 Ob weitere der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Einwände gegen die Prüfung gerechtfertigt sind und ob diese Auswirkungen auf die Beurteilung hätten, kann vor diesem Hintergrund ebenfalls dahinstehen.
6. Erstattung der Beschwerdegebühr
Da der vorliegenden Beschwerde stattzugeben ist, entspricht es mangels entgegenstehender Anhaltspunkte der Billigkeit, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Artikel 24(4) Satz 3 VEP anzuordnen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Für die Prüfungsaufgabe A der Europäischen Eignungsprüfung 2022 der Beschwerdeführerin wird die Gesamtnote "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" vergeben.
3. Es wird festgestellt, dass die Bedingungen des Artikels 14(1) VEP erfüllt sind und die Beschwerdeführerin die europäische Eignungsprüfung bestanden hat.
4. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.