T 0191/08 (Hämagglutinin-Molekülkomplexe/NOVARTIS) 04-08-2011
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Verfahren zur immunchemischen Quantifizierung von inaktivierten, immunreaktiven Antigenen
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die am 19 November 2007 zur Post gegebene Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das europäische Patent Nr. 0 589 348 (Anmeldenummer 93 114 884.5) mit der Bezeichnung "Verfahren zur Immunchemischen Quantifizierung von inaktivierten, immunreaktiven Antigenen" gemäß den Artikeln 102(3) und 106(3) EPÜ 1973 in geändertem Umfang aufrechterhalten wurde.
II. Der Einspruch gegen die Erteilung des Patents war auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikel 54 (mangelnde Neuheit) bzw. 56 (mangelnde erfinderische Tätigkeit) sowie auf Artikel 100 c) EPÜ 1973 gestützt worden.
III. In der angefochtenen Zwischenentscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass der in Artikel 100 c) EPÜ 1973 genannte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegenstehe, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die Einspruchsabteilung in Bezug auf den in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag 1. Nach Meinung der Einspruchsabteilung verstößen die im Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen gegen Artikel 123(2) EPÜ 1973. Der ebenfalls in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag 2 (geänderte Ansprüche 1 bis 9 und Seiten 2 bis 5 der Patentschrift) wurde jedoch als gewährbar erachtet. Dementsprechend beschloss die Einspruchsabteilung die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage dieses Antrags.
IV. Im Beschwerdeverfahren verfolgte die Beschwerdeführerin ihre Anträge aus dem Einspruchsverfahren (Hauptantrag und Hilfsanträge 1 und 2) weiter. Außerdem beantragte sie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den Fall, dass keiner ihrer Sachanträge im schriftlichen Verfahren gewährt werden konnte.
V. Der Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet:
"1. Verfahren zur immunchemischen Quantifizierung von inaktivierten immunreaktiven Hämagglutinin-Molekülkomplexen von Influenzaviren, das folgende Schritte umfasst:
a) eine Probe, die ein oder mehrere zu bestimmende Hämagglutinin-Molekülkomplexe enthält, die durch Inaktivierung mit Formalehyd [sic] entstanden sind, wird mit einer proteinbindenden festen Phase inkubiert, wobei [sic] Hämagglutinin-Molekülkomplex an diese feste Phase physikalisch absorbiert und nicht durch immunchemische Reaktion gebunden wird,
b) die flüssige und die feste Phase werden getrennt,
c) der adsorbierte Hämagglutinin-Molekülkomplex wird mit einem oder mehreren spezifischen Antikörpern, die direkt oder indirekt eine Markierung tragen, inkubiert,
d) die Menge der an den Hämagglutinin-Molekülkomplex gebundenen Markierung bestimmt, und
e) aus der Menge der gebundenen Markierung durch Vergleich mit einem oder mehreren Standardwerten die Menge des immunreaktiven Hämagglutinin-Molekülkomplexes bestimmt."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 9 betreffen verschiedene Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1.
VI. Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich vom entsprechenden Anspruch des erteilten Patents durch folgende Änderungen im Wortlaut des Schritts a):
"1. ...
a) eine Probe, die ein oder mehrere zu bestimmende Hämagglutinin-Molekülkomplexe enthält, die während der Spaltung der Viren durch Lipidlösungsmittel und Inaktivierung mit Formaldehyd entstanden sind, wird mit einer proteinbindenden festen Phase inkubiert, wobei [sic] Hämagglutinin-Molekülkomplex an diese feste Phase physikalisch absorbiert und nicht durch immunchemische Reaktion gebunden wird,
..."
(Änderungen von der Kammer hervorgehoben)
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 9 sind mit denen des erteilten Patents identisch.
VII. Der Beschwerdegegnerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, die sie jedoch ungenutzt verstreichen ließ.
VIII. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Zur Vorbereitung der Verhandlung gab die Beschwerdekammer in einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern eine vorläufige Stellungnahme ab. Nach der vorläufigen Auffassung der Kammer stand Artikel 100 c) EPÜ bzw. Artikel 123(2) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 entgegen.
IX. Die Beschwerdeführerin teilte der Kammer mit Eingabe vom 14 Juli 2011 mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
X. Die mündliche Verhandlung, bei der weder die Beschwerdeführerin noch die Beschwerdegegnerin vertreten waren, fand am 4. August 2011 statt.
XI. In dieser Entscheidung wird folgendes Dokument erwähnt:
(8): S. S. Gandhi, 1978, J. Biological Standardization, Band 6, Seiten 121-126.
XII. Die in der Beschwerdebegründung angeführten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die in Anspruch 1 eingeführten Änderungen beruhten auf den Angaben auf Seite 2 der Beschreibung der Anmeldung, in denen in Zusammenhang mit der der Erfindung zugrundeliegenden Aufgabe auf das Dokument (8)verwiesen werde. Die von der vorliegenden Erfindung gelöste Aufgabe ergebe sich aus der Beobachtung, dass ein herkömmlicher SRD("single radial diffusion")-Test für mit Formaldehyd inaktivierte Influenza-Vakzine nicht geeignet sei. Nicht der Inhalt des Dokuments (8), sondern allein der Verweis auf dieses Dokument unter Angabe seiner vollständigen Bezeichnung seien als Grundlage für das strittige Merkmal zu betrachten. Da die Bezeichnung des Dokuments (8) in knappen Worten die Aufgabe der Erfindung definiere, sei sie als Teil der Offenbarung der Anmeldung als relevant zu betrachten. Ob der Inhalt des Dokuments (8) nach den Richtlinien für die Prüfung, Kapitel C-VI, Absatz 5.3.8. und der Entscheidung T 689/90 (OJ EPO 1993, 616) als Teil der ursprünglichen Offenbarung betrachtet werden könne, sei entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung nicht relevant.
Für den Fachmann sei es zweifelsfrei erkennbar, dass das Merkmal der Lipidsolubilisierung weder in dem obengenanten Absatz noch anderswo in der Beschreibung als wesentlich beschrieben werde; dies gelte auch für die Reihenfolge der Schritte Lipidsolubilisierung und Formaldehyd-Behandlung. Der von der Einspruchsabteilung zitierte Absatz der Beschreibung beschreibe zwar eine typische Reihenfolge von Verfahrensschritten zur Herstellung von Influenza-Vakzinen, diese sei jedoch kein wesentliches Merkmal der Erfindung. Weder die Beschwerdegegnerin noch die Einspruchsabteilung hätten technische Gründe angeführt, warum ein Fachmann die Lipidsolubilisierung als wesentlich betrachtet hätte.
Entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung werde in der relevanten Passage der Anmeldung lediglich die Inaktivierung mit Formaldehyd als Ursache für das der Erfindung zugrunde liegende Problem erwähnt. Außerdem wisse der Fachmann, dass eine Formaldehyd-Behandlung die Modifizierung und Quervernetzung von Proteinen bewirke, die für den SRD-Test nachteilig sei, während durch die Lipidsolubilisierung die Viren in kleinere Komponenten aufgeschlossen werden. Letzteres stehe im Gegensatz zu den in der Anmeldung erwähnten "großen Molekülkomplexen".
Zwei weitere technischen Erwägungen sprächen gegen die Annahme, dass die Lipidsolubilisierung zur Lösung des der Erfindung zugrundeliegenden Problems wesentlich sei. Zum einen würden bei der Durchführung des SRD-Tests Detergentien, d.h. Lipidlösungsmittel zum Aufschluss der Viren benutzt. Zum anderen würde ein Fachmann auf dem einschlägigen Gebiet wissen, dass zur Herstellung aller Influenza-Vakzine aus nicht-lebenden Viren eine Inaktivierung erforderlich sei, während nicht bei jeder Vakzine die Viren mit Lipidlösungsmitteln behandelt werden. Ein Fachmann hätte der Tatsache, dass im Beispiel 1 des Patents eine Vakzine eingesetzt wird, bei der die Viren einer Lipidsolubilisierung unterzogen wurden, nicht entnommen, dass diese Behandlung wesentlich sei.
XIII. Die Beschwerdeführerin beantragte im schriftlichen Verfahren die Aufhebung der angefochtenen Zwischenentscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des Hilfsantrags 1 oder des Hilfsantrags 2, beide eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.
XIV. Die Beschwerdegegnerin äußerte sich im schriftlichen Verfahren nicht und stellte keinen Antrag.
Hauptantrag - Artikel 100(c) EPÜ
1. Der Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung leitet sich von dem Anspruch 1 der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung ab, der im Prüfungsverfahren wie folgt geändert wurde:
- Der Anspruch 1 der Patentanmeldung betrifft ein Verfahren zur immunchemischen Quantifizierung von "inaktivierten immunreaktiven Antigenen", während das Verfahren gemäß Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung auf die Quantifizierung von "inaktivierten immunreaktiven Hämagglutinin-Molekülkomplexen von Influenzaviren" abzielt.
- Im Verfahrensschritt (a) (siehe Absatz V oben) wurden drei zusätzliche Merkmale hinzugefügt, die die Hämagglutinin-Molekülkomplexe kennzeichnen, nämlich dass die Komplexe (i) durch Inaktivierung mit Formaldehyd entstanden sind, (ii) an die feste Phase physikalisch adsorbieren und (iii) nicht durch immunchemische Reaktion gebunden werden.
2. Im Prüfungsverfahren nannte die Anmelderin als Stütze für die erste Änderung die Textpassage von Seite 2, Zeile 4 bis Seite 3, Zeile 4 der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen (siehe Eingaben der Anmelderin vom 4. Juni 1999 und 20. März 2000). Als Grundlage für das "Formaldehyd"-Merkmal und die "physikalische nicht immunchemische Adsorption" wurde der zweite Absatz auf Seite 2 bzw. der dritte Absatz auf Seite 5 der Anmeldung angegeben (siehe Eingabe der Anmelderin vom 26. Juli 2001).
3. Im Einspruchsverfahren wurde der Einspruchsgrund des Artikels 100 c) EPÜ 1973 in Bezug auf das Merkmal "Hämagglutinin-Molekülkomplexe [...], die durch Inaktivierung mit Formaldehyd entstanden sind" von der Einsprechenden (der jetzigen Beschwerdegegnerin) geltend gemacht.
4. Die Einspruchsabteilung stellte in der angefochtenen Zwischenentscheidung fest, dass die einzige Stelle der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen, in der eine Inaktivierung von Hämagglutinin-Molekülkomplexen von Influenza-Viren mit Formaldehyd erwähnt wird, der erste Satz des Absatzes 3 auf Seite 2 der Anmeldung sei. Dies wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Die Textstelle, auf die sich die Einspruchsabteilung bezog, lautet:
"Es hat sich nun gezeigt, daß einige Influenza-Vaccinen sich offensichtlich aufgrund der physikalischen Form des Hämagglutinins - große Molekülkomplexe, die während der Spaltung der Viren durch Lipidlösungsmittel und nachfolgende Inaktivierung mit Formaldehyd entstehen - sich im SRD nicht überprüfen lassen (GANDHI, S.S. (1978), "The effect of formaldehyde treatment of influenza virus on the assay of its haemagglutinin antigen content by the single-radial-immunodiffusion (SRD) technique", J. Biological Standardization 6, 121-126)."
5. Nach Meinung der Einspruchsabteilung sei ein Verfahren zur immunchemischen Quantifizierung mit Formaldehyd inaktivierter Hämagglutinin-Molekülkomplexe von Influenza-Viren - ohne vorhergehende Lipidsolubilisierung - in dieser Passage der Anmeldung nicht zweifelsfrei offenbart.
6. Die Beschwerdekammer ist derselben Auffassung. Aus der Sicht der Kammer steht das Merkmal "Inaktivierung mit Formaldehyd" in der zitierten Passage der Anmeldung (siehe Absatz 4 oben) nicht isoliert, sondern in einem klaren Zusammenhang mit dem Schritt der "Spaltung der Viren durch Lipidlösungsmittel". Dagegen dienen die darauffolgenden Angaben in dieser Passage, die sich auf das Dokument (8) beziehen, zur Darstellung des Standes der Technik und werden von einem Fachmann, der die Anmeldung liest, auch in diesem Zusammenhang verstanden.
7. Das Argument der Beschwerdeführerin, der Fachmann würde erkennen, dass die Spaltung der Viren durch Lipidlösungsmittel für die Erfindung nicht wesentlich sei, vermag die Kammer nicht zu überzeugen. Das Weglassen dieses Schritts im Titel des Dokuments (8), bei dem es sich erkennbar um eine verkürzte Wiedergabe des Inhalts dieses Dokuments handelt, würde der Fachmann nicht als Hinweis darauf interpretieren, dieses, die Hämagglutinin-Molekülkomplexe kennzeichnende Merkmal sei nicht wesentlich. Auch die von der Beschwerdeführerin angeführten technischen Erwägungen können das Argument der Beschwerdeführerin nicht stützen. Ob es Influenza-Vakzine gibt, bei denen die Viren nicht mit Lipidlösungsmitteln gespalten werden, ist im vorliegenden Fall irrelevant, weil sich die Offenbarung auf Seite 2 der Anmeldung eindeutig auf Influenza-Vakzine bezieht, bei denen die Viren vor der Inaktivierung mit Formaldehyd einer Behandlung mit Lipidlösungsmitteln unterzogen werden.
8. Aus diesen Gründen kann die Beschwerdekammer in der ursprünglichen Anmeldung keine klare, eindeutige und unmittelbare Offenbarung erkennen, die als Grundlage für den Anspruch 1 in der erteilten Fassung dienen könnte. Folglich steht der der Einspruchsgrund des Artikels 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegen.
Hilfsantrag 1 - Artikel 123(2) EPÜ
9. Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass die Hämagglutinin-Molekülkomplexe durch Spaltung der Viren mit Lipidlösungsmitteln und Inaktivierung mit Formaldehyd erhalten werden.
10. Wie die Einspruchsabteilung kann die Beschwerdekammer keine Grundlage in der ursprünglichen Anmeldung für eine beliebige Reihenfolge der Schritte Lipidsolubilisierung und Formaldehydbehandlung erkennen. In der ursprünglich eingereichten Anmeldung werden diese zwei Schritte in einer bestimmten Reihenfolge offenbart, nämlich zuerst die Spaltung der Viren durch Lipidlösungsmittel und nachfolgend die Inaktivierung mit Formaldehyd.
11. Somit ist die Kammer der Auffassung, dass die Änderung im Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 gegen Artikel 123(2) EPÜ verstößt.
Hilfsantrag 2 - Verbot von "reformatio in peius"
12. Der Hilfsantrag 2 im Beschwerdeverfahren ist mit dem Antrag identisch, auf dessen Grundlage die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang von der Einspruchsabteilung beschlossen wurde.
13. Da die Patentinhaberin die alleinige Beschwerdeführerin gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ist, darf nach dem Grundsatz des Verbots von reformatio in peius diese Fassung des Patents weder von der Beschwerdekammer noch von der Beschwerdegegnerin in Frage gestellt werden (vgl. Entscheidungen G 9/92 und G 4/93, ABl. EPA 1994, 875).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.