T 1710/13 (Beschichtung für Biosensoren und Teststreifen/TESA) 15-01-2015
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Hydrophiler Beschichtungslack
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 014 727 zu widerrufen, Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Streitpatent in seinem gesamten Umfang wegen mangelnder Neuheit, mangelnder erfinderischer Tätigkeit, unzureichender Offenbarung und Erweiterung des Gegenstands über die ursprünglich eingereichte Fassung hinaus angegriffen worden (Artikel 100 a), b) und c) EPÜ).
III. Die Einspruchsabteilung entschied, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags, eingereicht mit Schreiben vom 4. Oktober 2011, und des Hilfsantrags, eingereicht mit Schreiben vom 15. März 2013, keine eindeutige und unmittelbare Grundlage in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen habe.
Anspruch 1 des damaligen Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Beschichtungslack aus mindestens einem anionischen Tensid mit
- einer kritischen Mizell-Bildungskonzentration (CMC, 25 °C) von höchstens 2,3 g/L und
- einer Oberflächenspannung (25 °C) der 0,1 Gew.-%igen wässrigen Lösung von höchstens 50 mN/m,
mindestens einem Lösemittel,
mindestens einem Bindemittel ausgewählt aus Polyvinylalkohol und Polyvinylbutyral sowie gegebenenfalls weiteren Additiven,
wobei die sich nach der Trocknung des Beschichtungslacks ergebende Oberfläche
- einen Kontaktwinkel mit Wasser von höchstens 30° und
- eine Oberflächenspannung von mindestens 60 mN/m aufweist."
IV. Mit der Beschwerdebegründung verfolgte die Beschwerdeführerin das Streitpatent auf Grundlage ihres der Entscheidung zu Grunde liegenden Hauptantrags weiter. Gleichzeitig reichte sie, als Ersatz für den der Entscheidung zu Grunde liegenden Hilfsantrag, die Hilfsanträge 1 und 2 ein.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom Hauptantrag dadurch, dass die Oberfläche des Beschichtungslackes eine Oberflächenspannung von mehr als 60 mN/m aufweist.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich vom Hauptantrag dadurch, dass die Oberfläche des Beschichtungslackes eine Oberflächenspannung von mindestens als 60 mN/m aufweist.
V. Die Argumente der Beschwerdeführerin zu den entscheidungserheblichen Sachverhalten lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Angabe "mindestens als 60 mN/m" offenbare in individueller Form eine Oberflächenspannung von "mindestens 60 mN/m" und "mehr als 60 mN/m". Der Rückzug auf eine dieser beiden Varianten in Anspruch 1 des Hauptantrages verstoße damit nicht gegen den Artikel 123 (2) EPÜ. Zu dem gleichen Ergebnis komme man auch bei vernünftiger Auslegung der strittigen Formulierung.
Die Angabe "mehr als 60 mN/m" im Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 werde darüber hinaus von beiden Varianten gestützt.
Bei vernünftiger Auslegung des Begriffs "mindestens als" sei der Schutzbereich klar. Ein Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ liege daher nicht vor.
VI. Die Argumente der Beschwerdegegnerin (Einsprechende) zu den entscheidungserheblichen Sachverhalten lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Angabe "mindestens 60 mN/m" im Anspruch 1 des Hauptantrags finde keine Grundlage in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen. Die ursprüngliche Formulierung "mindestens als 60 mN/m" sei unverständlich und mehrdeutig. Individualisierte Varianten werden durch sie nicht offenbart.
Gleiches gelte auch im Hinblick auf den Anspruch 1 des Hilfsantrags 1. Die explizite Ausnahme des Werts "60" aufgrund des Anspruchswortlauts "mehr als 60 mN/m", sei den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht zu entnehmen.
Die Angabe "mindestens als" im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 sei unklar und lasse mehrere Deutungsmöglichkeiten zu. Insbesondere sei nicht klar, ob der Wert "60" vom Umfang des Anspruchs umfasst werde oder nicht.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung.
VIII. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, und hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung.
IX. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Hauptantrag
2. Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
2.1 Anspruch 1 des Hauptantrags enthält, wie auch der erteilte Anspruch 1, das Merkmal, dass die Oberfläche des getrockneten Beschichtungslackes eine Oberflächenspannung von "mindestens 60 mN/m" aufweist. Diese Änderung wurde in der Prüfungsphase des Streitpatents als Korrektur eines offensichtlichen Fehlers gemäß Regel 139 EPÜ eingeführt. Die Einspruchsabteilung entschied, dass diese Änderung gegen den Artikel 123 (2) EPÜ verstieß.
2.2 Die Formulierung "mindestens 60 mN/m" findet sich unbestritten nicht in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen. Vielmehr enthält der ursprüngliche Anspruch 1 die Angabe "mindestens als 60 mN/m". Die gleiche Angabe findet sich an allen Stellen der ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen, an denen auf die Größe der Oberflächenspannung verwiesen wird (siehe Seite 8, Zeile 24; Seite 12, Zeile 14; Ansprüche 1 und 8). Auch in den Beispielen wird der Wert "60" nicht als individueller Wert offenbart.
2.3 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ergeben sich aus der strittigen Angabe "mindestens als" für den fachmännischen Leser genau zwei Deutungsmöglichkeiten: erstens, die Oberflächenspannung beträgt "mindestens 60 mN/m" und zweitens, die Oberflächenspannung beträgt "mehr als 60 mN/m". Beide Möglichkeiten würden vom Fachmann mitgelesen und seien folglich in individueller Form offenbart. Darüber hinaus sei die Angabe "mindestens als" im breitesten Sinne auszulegen, analog zu dem Begriff "comprising", der sowohl "aufweisen" als auch "bestehen aus" bedeuten könne. Der strittigen Angabe käme somit in jedem Fall die Bedeutung "mindestens" zu. In diesem Zusammenhang verwies die Beschwerdeführerin auf die Entscheidungen T 759/91, T 522/91 und T 457/02. Darüber hinaus sei auch aus sprachlogischen Gründen die Deutungsmöglichkeit "mindestens" wahrscheinlicher als die Deutungsmöglichkeit "mehr als". Um von "mehr als" zu "mindestens als" zu gelangen, müsse das Wort "mehr" entfernt werden und das Wort "mindestens" hinzugefügt werden. Es sei nicht wahrscheinlich, dass dies zufällig oder irrtümlich geschehen sei. Die Anwesenheit des Wortes "mindestens" bedeute daher ohne Zweifel, dass mit der strittigen Angabe "mindestens als" nichts anderes gemeint sein könne als "mindestens".
2.4 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin insoweit zu, dass sich aus der strittigen, erkennbar fehlerhaften Angabe für den fachmännischen Leser der Anmeldung mehrere Deutungsmöglichkeiten ergeben. Eine dieser Möglichkeiten schließt den Wert 60 ein (Variante 1, "mindestens 60 mN/m"). Dies entspricht der Formulierung des Anspruchs 1 des Hauptantrags. Die andere Möglichkeit schließt den Wert 60 aus (Variante 2, "mehr als 60 mN/m"). Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass der fachmännische Leser die ebenfalls denkbare Möglichkeit "weniger als" unter Berücksichtigung der Beispiele ausschließen würde.
Den ursprünglichen Anmeldeunterlagen ist jedoch an keiner Stelle unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, welche der beiden vorgenannten Deutungsmöglichkeiten beabsichtigt war (siehe Punkt 2.2 oben). Die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass die strittige Angabe so auszulegen sei, dass beide Deutungsmöglichkeiten eindeutig und ummittelbar offenbart werden, teilt die Kammer nicht. Sie ist vielmehr der Überzeugung, dass für den fachmännische Leser nur eine der beiden Deutungsmöglichkeiten in Betracht kommt.
Darüber hinaus teilt die Kammer auch nicht die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass die fehlerhafte und somit unklare und mehrdeutige Angabe "mindestens als" in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen zu Gunsten der Patentinhaberin breit auszulegen sei und mithin alle denkbaren Deutungsmöglichkeiten umfasse. Eine solche Vorgehensweise würde der Patentinhaberin eine in ihrem Belieben stehende Auslegung fehlerhafter oder mehrdeutiger Begriffe in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen und eine dementsprechende Wahlmöglichkeit für spätere Änderungen oder Berichtigungen einräumen. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern erfordert Artikel 123 (2) EPÜ jedoch, dass Änderungen und Berichtigungen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents nur im Rahmen dessen erfolgen dürfen, was der Fachmann der Gesamtheit der ursprünglichen Anmeldeunterlagen, unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens, objektiv und bezogen auf den Anmeldetag, unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 2/10, ABl. EPA 2012, 376, Punkt 4.3 der Entscheidungsgründe).
Die Kammer sieht auch keine Analogie zu den von der Beschwerdeführerin angezogenen Entscheidungen. In diesen war es erforderlich für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit die Bedeutung des Begriffs "comprising" festzustellen. Dessen ursprüngliche Offenbarung stand jedoch nicht in Frage, noch bildete dieser zumindest nicht fehlerhafte Begriff die Grundlage für Änderungen.
Weiterhin ist nach Überzeugung der Kammer die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte höhere Wahrscheinlichkeit zu Gunsten der Variante 1 kein taugliches Kriterium für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer diesbezüglichen Änderung. Dies wird durch die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern bestätigt, nach der bei der Prüfung der Zulässigkeit von Änderungen nach Artikel 123 (2) EPÜ ein strenger, dem Urteil "zweifelsfrei" entsprechender Maßstab anzuwenden ist (T 383/88, Punkt 2.2.2 der Entscheidungsgründe; T 1248/08, Punkte 1.1.2 und 1.1.3 der Entscheidungsgründe). Im Übrigen ist es für die Kammer nicht nachvollziehbar, warum für den fachmännischen Leser die Variante 1 wahrscheinlicher sein sollte als die Variante 2. Aus den ursprünglichen Anmeldeunterlagen ist dies jedenfalls nicht ableitbar. Die Angaben der Beschwerdeführerin über eine ursprünglich beabsichtigte und dann doch geänderte Formulierung beruhen auf Kenntnissen und Absichten, die nur der Patentanmelderin bekannt waren und die sich objektiv den Anmeldeunterlagen nicht eindeutig und unmittelbar entnehmen lassen.
2.5 Aus den vorstehend genannten Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Anspruch 1 durch die Angabe "mindestens 60 mN/m" eine technische Information enthält, die den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen ist. Der Hauptantrag verstößt somit gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
Hilfsantrag 1
3. Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
3.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 wurde dahingehend geändert, dass die Angabe "mindestens 60 mN/m" durch die Angabe "mehr als 60 mN/m" ersetzt wurde.
3.2 Die Beschwerdeführerin berief sich in diesem Zusammenhang erneut auf die nach ihrer Auffassung eindeutig und unmittelbar offenbarten zwei Deutungsmöglichkeiten. Darüber hinaus brachte sie vor, dass die Offenbarung "mindestens 60 mN/m" nichts anderes bedeute als "genau 60 mN/m" + "mehr als 60 mN/m". In jeder der beiden Varianten 1 und 2 sei daher eine Oberflächenspannung von mehr als 60 mN/m eindeutig und unmittelbar offenbart.
3.3 Wie bereits unter Punkt 2.4 oben erörtert, werden nach Überzeugung der Kammer in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen keine zwei individualisierten Ausführungsformen offenbart. Vielmehr lässt die strittige Angabe "mindestens als", die sich durch die gesamte Anmeldung zieht, keinen Rückschluss darauf zu, welche Deutungsmöglichkeit Teil der technischen Lehre ist. Dies bedeutet, dass sowohl die Angabe "mindestens" als" als auch die Angabe "mehr als" dem beanspruchten Gegenstand eine technische Information hinzufügen, die den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht zu entnehmen ist. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass die Deutungsmöglichkeit "mindestens" zusätzlich aufgespalten werden könne in den Wert "60 mN/m" und "mehr als 60 mN/m" ist in diesem Zusammenhang nicht relevant.
Hilfsantrag 2
4. Klarheit (Artikel 84 EPÜ)
4.1 Im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 wurde die Oberflächenspannung von "mindestens 60 mN/m" auf "mindestens als 60 mN/m" geändert. Unter diesen Umständen ist die Kammer gemäß Artikel 101 (3) EPÜ dazu befugt zu überprüfen, ob diese Änderung ursächlich mangelnde Klarheit des beanspruchten Gegenstandes zur Folge hat und somit ein Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ vorliegt. Dies wurde nicht bestritten.
4.2 Artikel 84 EPÜ in Verbindung mit Regel 43(1) EPÜ erfordert, dass die Ansprüche klar sind und den Gegenstand des Schutzbegehrens durch Angabe der technischen Merkmale definieren. Diese Erfordernisse sollen sicherzustellen, dass die Öffentlichkeit nicht über den Schutzumfang der Ansprüche im Unklaren gelassen wird. Ein Anspruch, der es nicht erlaubt zu unterscheiden, ob ein Gegenstand von den Ansprüchen umfasst wird oder nicht, erfüllt daher nicht das Erfordernis des Artikels 84 EPÜ.
4.3 Die Formulierung "mindestens als" in Verbindung mit dem numerischen Wert "60" ist fehlerhaft und mehrdeutig. Sie lässt, wie bereits in Punkt 2.4 (erster Absatz) erörtert, Deutungsmöglichkeiten zu, die den Wert "60" entweder ein- oder ausschließen. Damit ist der Schutzumfang des Anspruchs unklar.
4.4 Die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass dieser Ausdruck bei vernünftiger Auslegung beide Deutungsmöglichkeiten umfasse, der Anspruchsumfang also klar sei, teilt die Kammer aus den bereits in Punkt 2.4 (zweiter Absatz) genannten Gründen nicht. Eine Analogie zur Auslegung des an sich nicht fehlerhaften Begriffs "comprising" vermag die Kammer in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht zu erkennen.
4.5 Aus den vorstehend genannten Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 nicht die gemäß Artikel 84 EPÜ erforderliche Klarheit aufweist.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.