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T 0038/15 16-10-2019
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Verfahren zum Schutz von Personen bei ihrer Arbeit an einer Servopresse sowie Servopresse mit Personenschutzeinrichtung
Bosch Rexroth AG
Schuler Pressen GmbH
Mit der Beschwerdebegründung eingereichte Beweismittel (zugelassen)
Beweismittel - Begutachtung durch Sachverständigen (nicht erforderlich)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Ausreichende Offenbarung (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden 1 richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 2 047 171 zurückzuweisen.
II. Zwei Einsprüche waren gegen das Patent in vollem Umfang eingelegt worden und mit den Einspruchsgründen nach Artikel 100 a) EPÜ (fehlende Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) bzw. Artikel 100 b) EPÜ begründet worden.
III. Am 16. Oktober 2019 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden. Für die ordnungsgemäß geladene Einsprechende 2 war niemand anwesend.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) oder, hilfsweise, die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der folgenden Unterlagen:
- Ansprüche 1 bis 10 gemäß Hilfsantrag 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 16. Oktober 2019;
- Beschreibungsseiten 2 bis 6 der Patentschrift;
- Figuren 1 bis 8 der Patentschrift.
V. Die Einsprechende 2, die Beteiligte kraft Gesetzes nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ ist, hat sich zu der Beschwerdesache nicht geäußert.
VI. Im Beschwerdeverfahren wurde unter anderem auf folgende Druckschriften Bezug genommen:
E1|"Doppelt gebremst hält besser", Gerhard Kobs, Computer&AUTOMATION, November 2006, Seiten 124 - 127; |
E3|US 2005/0103130 A1; |
E4|"Schwerkraftbelastete Achsen (Vertikalachsen)", Fachausschuss-Informationsblatt Nr. 005 in der Ausgabe Februar 2004 vom Fachausschuss Maschinenbau, Fertigungssysteme, Stahlbau; |
E14|"DIAX03 - Antrieb mit Servofunktion, Analog- und Parallelinterface - Funktionsbeschreibung: ASE 02VRS", Indramat GmbH, 1998, Inhaltsverzeichnis und Seiten 8-47 bis 8-61. |
VII. Die unabhängigen Ansprüche gemäß Hauptantrag lauten wie folgt (die in der angefochtenen Entscheidung verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern eingefügt):
"1. [a] Verfahren zum Schutz von Personen bei ihrer Arbeit an einer elektrisch angetriebenen Servopresse (1), [b] wobei ein Gefahrenbereich (6) der Servopresse (1) mittels einer diese umgebenden baulichen Schutzvorrichtung (5) mit einer verriegelbaren Zugangsmöglichkeit (7) absichert [sic] ist [c] und wobei eine Haltebremse (8) für die Servopresse (1) vorgesehen ist, welche zum Abbremsen eines Pressenstößels (2) plus einer kinetischen Energie des Pressenstößels (2) bei einem manuellen Einrichtbetrieb ausgelegt ist, [d] wobei eine Anforderung zum Eintritt in den Gefahrenbereich (6) abgefragt wird, [e] wobei die Haltebremse (8) auf ihre Funktion getestet wird [f] und wobei die Zugangsmöglichkeit (7) bei einem positiven Haltebremsentest freigegeben wird, dadurch gekennzeichnet, dass [g] nach Freigabe der Zugangsmöglichkeit (7) die Stößelgeschwindigkeit (vS) des Pressenstößels (2) auf eine für den Einrichtbetrieb maximal zulässige Geschwindigkeit (vMax) überwacht wird [h] und wobei bei Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit (vS) dann der Antrieb (4) freigeschaltet [i] und die Haltebremse (8) zum Abbremsen des Pressenstößels (2) angesteuert wird."
"2. [A] Servopresse mit Personenschutzeinrichtung, wobei die Servopresse einen Pressenstößel (2), einen Elektromotor (3) zum Antreiben des Pressenstößels (2), einen elektrischen Antrieb (4) zum Speisen des Elektromotors (3) auf Basis eines vorgegebenen Antriebssollwertes, [B] eine die Servopresse umgebende bauliche Schutzvorrichtung (5) mit einer verriegelbaren Zugangsmöglichkeit (7) für Personen zur Absicherung eines Gefahrenbereichs (6) der Servopresse [E] sowie eine Bremsentesteinrichtung zum Testen der Haltebremse (8) auf Anforderung zum Eintritt in den Gefahrenbereich (6), [C] eine Haltebremse (8), ausgelegt zum Abbremsen der Masse des Pressenstößels (2) plus einer kinetischen Energie des Pressenstößels (2), aufweist, gekennzeichnet durch
- [F] eine Freigabeeinrichtung zum Freigeben der Zugangsmöglichkeit (7) bei einem positiven Haltebremsentest,
- [H] eine Momentenfreischaltung zum Freischalten des elektrischen Antriebs (4) und
- [G] eine Überwachungseinrichtung zur Überwachung einer Stößelgeschwindigkeit (vS) auf Überschreitung einer zulässigen Geschwindigkeit (vMax) und zum Ansteuern der Momentenfreischaltung und der Haltebremse (8), falls bei freigegebener Zugangsmöglichkeit (7) die zulässige Geschwindigkeit (vMax) überschritten wird."
VIII. Im Vergleich zum Hauptantrag sind die Merkmale i bzw. G der Ansprüche 1 und 2 gemäß dem Hilfsantrag 1 wie folgt geändert worden:
"[i'] und anschließend die Haltebremse (8) zum Abbremsen des Pressenstößels (2) angesteuert wird. "
"[G'] eine Überwachungseinrichtung zur Überwachung einer Stößelgeschwindigkeit (vS) auf Überschreitung einer zulässigen Geschwindigkeit (vMax) [deleted: und] sowie zum Ansteuern der Momentenfreischaltung und zum anschließenden Ansteuern der Haltebremse (8), falls bei freigegebener Zugangsmöglichkeit (7) die zulässige Geschwindigkeit (vMax) überschritten wird. ".
IX. Der Vortrag der Beschwerdeführerin war im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung der Druckschrift E14
Die mit der Beschwerdebegründung eingereichte Druckschrift E14 sei eine Reaktion auf die in der angefochtenen Entscheidung erstmalig zum Ausdruck gebrachten Auffassung der Einspruchsabteilung, dass die Druckschrift E1 eine zum Patent widersprüchliche Lehre aufweise. Die Druckschrift E14 sei zum Nachweis des Fachwissens eingereicht worden.
Angebot eines "Sachverständigenbeweises"
Sollte die Beschwerdekammer dies für notwendig erachten, werde ein Sachverständigenbeweis angeboten. Der Sachverständige könne Aussagen machen zum allgemeinen Fachwissen, insbesondere hinsichtlich der Reihenfolge des Aktivierens der Haltebremse und des Antriebsfreischaltens.
Hauptantrag - Auslegung der Ansprüche
Weder Anspruch 1 noch Anspruch 2 enthalten eine eindeutige Reihenfolge der Momentenfreischaltung und der Ansteuerung der Haltebremse. Nur der zeitliche Ablauf in Bezug auf die Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit ergebe sich aus dem Wortlaut von Anspruch 1. Es sei nicht angemessen, einen Anspruch mit Bezug auf die Ausführungsbeispiele in der Patentbeschreibung auszulegen. Die Vorrichtung nach Anspruch 2 könne an sich keine Reihenfolge beanspruchen. Darüber hinaus erfordere Merkmal G nur eine bestimmte Eignung der Überwachungseinrichtung. Auch der Überschreitungsschritt werde nicht zeitlich festgelegt.
Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
Das Verfahren des Anspruchs 1 und die Vorrichtung des Anspruchs 2 seien gegenüber den Druckschriften E1 und E4 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen nicht erfinderisch.
Im Hinblick auf die Entscheidung T 153/85 bedeute der Bezug auf das Informationsblatt E4 in der Druckschrift E1, dass dessen Inhalt als Inhalt von der Druckschrift E1 angesehen werden könne. Die bauliche Schutzvorrichtung mit einer verriegelbaren Zugangsmöglichkeit gehe aus der Tabelle 2, Zeile A2 des Informationsblatts E4 hervor. Das Merkmal c verlange nur, dass die von der Haltebremse erzielbare Bremskraft die Gewichtskraft übersteige, was auf Seite 125 der Druckschrift E1 offenbart sei. Mit dem auf Seite 126, rechte Spalte, erster Absatz der Druckschrift E1 erwähnten Grenzwert sei die maximal zulässige Geschwindigkeit gemäß Merkmal g gemeint. In dem Absatz "Eskalationsstrategie" offenbare die Druckschrift E1 auch beide Schritte h und i.
Der einzige Unterschied liege somit in der Servopresse. Die objektive technische Aufgabe bestehe darin, das in der Druckschrift E1 in Verbindung mit dem Informationsblatt E4 geschilderte Verfahren für geeignete Maschinen verfügbar zu machen. Es sei für den Fachmann aber naheliegend, das in Bezug auf bekannte Vertikalachsenmaschinen offenbarte Verfahren auch für eine zum Beispiel in der Druckschrift E3 offenbarte Servopresse auszulegen.
Hilfsantrag 1 - Zulassung
Der während der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag sei verspätet und solle im Hinblick auf Artikel 13 VOBK nicht ins Verfahren zugelassen werden. Die Reihenfolge der Verfahrensschritte in den Merkmalen h und i des Anspruchs 1 gehe weder aus den von der Beschwerdegegnerin angegebenen Textstellen in der Beschreibung noch aus der Figur 3 und der dazugehörigen Beschreibung hervor. Damit gebe es prima facie keine Basis in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für das im Merkmal i eingefügte Wort "anschließend", so dass die Voraussetzungen des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfüllt seien.
Außerdem sei der Vorrichtungsanspruch 2 des Hilfsantrags durch die Angabe der zeitlichen Reihenfolge inhaltlich nicht geändert worden und somit prima facie ebenfalls nicht gewährbar.
Hilfsantrag 1 - Änderungen
Es gebe keine unmittelbare und eindeutige Basis in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für das in den Ansprüchen 1 und 2 eingefügte Wort "anschließend", so dass die Voraussetzungen des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfüllt seien. Insbesondere der ursprünglich eingereichten Beschreibung auf Seite 4, Zeilen 19 bis 27 sei die Reihenfolge der Verfahrensschritte nicht zu entnehmen. Vielmehr weise das Wort "Zugleich" auf Seite 12, Zeile 16 der Beschreibung auf einen zeitgleichen Ablauf.
Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit
Gegenüber einer Kombination der Druckschriften E1 und E4 mit der Funktionsbeschreibung E14 beruhe der Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Die Druckschrift E1 beschreibe im Zusammenhang mit der zweiten oder dritten Eskalationsstufe nicht, dass die Energiezufuhr zum Motor erst im Stillstand getrennt werde. Nirgends in der Druckschrift E1 sei erwähnt, dass ein antriebsgeführtes Bremsen gleichzeitig zu dem Einsatz der mechanischen Bremsen vorgesehen sei.
Die objektive technische Aufgabe bestehe darin sicherzustellen, dass Fehler in einem Antrieb sich nicht negativ auf die Bremsen auswirkten.
Ein Fachmann wüsste jedoch, dass beim Aktivieren der Haltebremse in einem Fehlerfall zugleich auch die Energiezufuhr unterbrochen werde, da niemals gegen den aktiven Antrieb gebremst werde. Es wäre somit naheliegend für den Fachmann, einen fehlerhaften Antrieb vor dem Abbremsen von der Last zu trennen und auch in den zweiten und dritten Eskalationsstufen den Antrieb bereits vor dem Zeitpunkt, an dem die Vertikalachse gebremst wird, freizuschalten.
Um das nachweisbar festzustellen, werde auf die Funktionsbeschreibung E14 verwiesen, die eine "Indramat"-Steuerung von der Firma Bosch Rexroth AG, ähnlich wie auf Seite 125 der Druckschrift E1 gezeigt, offenbare. Die Funktionsbeschreibung führe unterschiedliche Möglichkeiten auf, um einen Antrieb abzubremsen. Eine davon werde auf Seite 8-49 ausgeführt: Im Falle eines fatalen Fehlers werde der Fachmann erst die Haltebremse ansteuern, nachdem der Antrieb momentenfrei geschaltet sei.
Selbst wenn die Druckschrift E1 eine andere Reihenfolge offenbaren würde, könnte dies eine erfinderische Tätigkeit nicht begründen, da ja nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung stünden.
Ausreichende Offenbarung
Das Merkmal h, insbesondere die "Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit", sei nicht ausreichend offenbart, so dass ein Fachmann die Erfindung nicht ausführen könne. Die in den Absätzen [0027] und [0039] der Patentschrift erwähnte "Überschreitung einer maximal zulässigen Geschwindigkeit" decke sich nicht mit dem Wortlaut des Merkmals h. Der Fachmann hätte keine Anleitung, wie eine Stößelgeschwindigkeit sich selbst überschreiten könne. Insbesondere gehe aus dem Patent nicht hervor, die Geschwindigkeit welcher Komponente die Stößelgeschwindigkeit überschreiten müsste, damit der Antrieb freigeschaltet werde.
X. Die Beschwerdegegnerin hat im Wesentlichen das Folgende vorgetragen:
Zulassung der Druckschrift E14
Die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereichte Funktionsbeschreibung E14 solle als verspätet unberücksichtigt bleiben. Die Druckschrift hätte bereits im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens, spätestens in Antwort auf die vorläufige Stellungnahme der Einspruchsabteilung in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung vorgelegt werden müssen. Die Frage, ob und wann ein Freischalten des Antriebs bei der in der Druckschrift E1 beschriebenen Lösung erfolge, und der diesbezügliche Widerspruch zwischen der Lehre der Druckschrift E1 und der Lehre des Patents seien bereits im schriftlichen Vorverfahren vor der Einspruchsabteilung sowie auch in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung detailliert diskutiert worden.
Hauptantrag - Auslegung der Ansprüche
Durch die Merkmale h und i werde der zeitliche Ablauf der verschiedenen Schritte dahingehend festgelegt, dass die Haltebremse erst angesteuert werde nachdem der Antrieb freigeschaltet sei. Diese Reihenfolge sei insbesondere in Absatz [0018] des Patents als erfindungswesentlich beschrieben. Sogar wenn der Zeitpunkt der Freischaltung mit dem Zeitpunkt der Ansteuerung zusammenfallen würde, habe die inhärente Verzögerung der Ansteuerung zur Folge, dass die Haltebremse nach der Freischaltung eingelegt werde. Die Reihenfolge ergebe sich auch aus dem Merkmal G des Anspruchs 2.
Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
Auf Seite 124 der Druckschrift E1 werde vom Informationsblatt E4 als Stand der Technik ausgegangen. Das Informationsblatt E4 lehre aber eine davon abweichende Lösung. Die verschiedenen technischen Lehren der Druckschriften E1 und E4 dürften im Rahmen einer Neuheitsprüfung oder zur Bestimmung der Unterscheidungsmerkmale bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nicht miteinander kombiniert werden. Sofern das Informationsblatt E4 als Teil der Offenbarung von der Druckschrift E1 angesehen werde, dürfe sich diese Offenbarung jedenfalls nur auf solche Merkmale aus dem Informationsblatt E4 beziehen, die nicht offensichtlich im Widerspruch zu der Lehre der Druckschrift E1 stünden.
Die Merkmale a bis g bzw. A bis G seien nicht aus der Druckschrift E1 bekannt. Dieser Stand der Technik offenbare weder eine Presse noch eine Schutzvorrichtung mit verriegelbarer Zugangsmöglichkeit. Der Sicherheitszuschlag in Höhe der 0.3-fachen Gewichtskraft mache die in der Druckschrift E1 offenbarte Bremse nicht automatisch zum Abbremsen der kinetischen Energie des Pressenstößels bei manuellem Einrichtbetrieb geeignet. Das könne auch nicht aus dem die Seiten 126 und 127 überbrückenden Absatz der Druckschrift E1 abgeleitet werden, da die Haltebremse immer nur im Zusammenspiel mit der Motorbremse eingesetzt werde. Der Haltebremsentest gemäß der Druckschrift E1 werde unabhängig von einer konkreten Anforderung auf Eintritt in den Gefahrenbereich durchgeführt. Außerdem finde keine Überwachung der Geschwindigkeit statt. Vielmehr würden Lage-Informationen überwacht.
Auch das Merkmal h bzw. H sei nicht offenbart. Die auf den Seiten 126 und 127 der Druckschrift E1 beschriebene Eskalationsstrategie gebe den klassischen Ansatz wieder, wonach die Funktion der Motorbremse durch mechanische Bremsen unterstützt werde, die nicht dazu gedacht seien, sich bewegende Achsen abzubremsen. Die mechanischen Bremssysteme werden nacheinander zugeschaltet, auch in den zweiten und dritten Eskalationsstufen. Sie arbeiteten dann also parallel zu dem antriebsgeführten Bremsvorgang. In der Druckschrift E1 erfolge somit keine Freischaltung des Antriebs bevor die Achse zum Stillstand gekommen sei. Nach der Erfindung hingegen werde rein mechanisch gebremst, um zu vermeiden, dass die Motorsteuerung das Sicherheitssystem negativ beeinflussen könne. Da die Lehre der Druckschrift E1 der Erfindung insbesondere in diesem Punkt widerspreche, würde der Fachmann nicht in naheliegender Weise zum beanspruchten Gegenstand gelangen.
Hilfsantrag 1 - Zulassung
Der Hilfsantrag solle ins Verfahren zugelassen werden. Die Beschwerdegegnerin habe nicht ahnen können, dass die Beschwerdekammer die Merkmale h und i des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag anders auslegen würde. Die Reihenfolge der Freischaltung und der Ansteuerung gehe eindeutig aus der Figur 3 hervor.
Auch in einem Vorrichtungsanspruch könnten funktionelle Merkmale einen zeitlichen Ablauf definieren. Eine Überwachungseinrichtung mit solchen Zweckangaben müsse dazu programmiert sein, die Tätigkeit mit dem beanspruchten zeitlichen Ablauf auszuführen. Durch die Aufnahme des Wortes "anschließenden" ergebe sich zwingend der zeitliche Ablauf der Steuerungsschritte in der Überwachungseinrichtung.
Hilfsantrag 1 - Änderungen
Die Hinzufügung des Wortes "anschließend" sei der Figur 3 und der Textstelle auf Seite 4, Zeilen 11 bis 27 der ursprünglich eingereichten Beschreibung zu entnehmen. Durch das Wort "Deshalb" auf Seite 4, Zeile 24 werde der kausale Zusammenhang und somit auch die Reihenfolge der Freischaltung und der Ansteuerung belegt. Darüber hinaus deute nicht nur die Ablauffolge in der Figur 3 sondern auch die Figurenbeschreibung auf Seite 12, Zeile 16 der Beschreibung an, dass der Schritt T5 auf den Schritt T4 folge.
Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit
Aus der Beschreibung der ersten und der zweiten Eskalationsstufe auf den Seiten 126 und 127 der Druckschrift E1 folge, dass der herkömmliche Antrieb erst freigeschaltet werde, nachdem er sich in dem sicher gebremsten Halt befinde. Demgegenüber werde im beanspruchten Verfahren das antriebsgeführte Primärbremssystem vor dem Ansteuern der Haltebremse wirkungslos gemacht, was sicher gewährleiste, dass die Bremswirkung der allein verwendeten Haltebremse zum Stillsetzen der Achse ausreiche.
Die objektive technische Aufgabe liege darin, eine erhöhte Sicherheit mit einer besonders einfachen, kompakten Bauform zu erreichen.
Anspruch 1 beruhe gegenüber einer von der Druckschrift E1 ausgehenden Kombination mit der Funktionsbeschreibung E14 auf einer erfinderischen Tätigkeit, weil die in der Funktionsbeschreibung E14 enthaltene Handlungsanweisung der in der Druckschrift E1 beschriebenen Lehre widerspreche. Selbst wenn der Fachmann die Funktionsbeschreibung E14 berücksichtigen würde, wäre er durch die schräggedruckten Kommentare in der linken Spalte auf den Seiten 8-47 und 8-49 nicht veranlasst, die auf den Seiten 8-49 bis 8-51 offenbarte Fehlerreaktion "Momentenfreischaltung" zu wählen. Nur im Falle eines fatalen Fehlers werde der Antrieb momentenfrei geschaltet, bevor gebremst werde. In den anderen Fällen finde immer eine bestmögliche Stillsetzung statt, wonach der Antrieb erst am Ende der Fehlerreaktion momentenfrei geschaltet werde, siehe die Tabelle auf Seite 8-47 und die Beschreibung auf Seite 8-48. Außerdem werde auf Seite 8-49 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Reaktion "Momentenfreischaltung" bei vorhandener Motorbremse, wovon in der Druckschrift E1 immer ausgegangen werde, nicht sinnvoll sei. Eine Kombination der Druckschriften E1 und E14 hätte der Fachmann deshalb nicht in Erwägung gezogen.
Ausreichende Offenbarung
Das Merkmal h sei im Patent nacharbeitbar offenbart. Die Bedeutung der Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit sei dem Fachmann klar: die Überwachung erfolgt auf ein Überschreiten einer zulässigen Geschwindigkeit, siehe Absätze [0027] und [0039]. Überlegungen, welche Komponente der Stößelgeschwindigkeit gemeint sein könnte, lägen dem Fachmann vor dem Hintergrund der eindeutigen Offenbarung in der Patentschrift völlig fern. Auf Punkt 3.1 der angefochtenen Entscheidung werde zudem verwiesen.
Zulassung der Druckschrift E14
1. Es liegt gemäß Artikel 12 (4) Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) im Ermessen der Kammer, Beweismittel nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Unbeschadet dieser Befugnis, wird das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Artikel 12 (1) VOBK von der Kammer berücksichtigt, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse nach Artikel 12 (2) VOBK erfüllt.
2. Die Funktionsbeschreibung E14 solle nach Auffassung der Beschwerdegegnerin als verspätet unberücksichtigt bleiben. Sie argumentiert, dass die in der angefochtenen Entscheidung erörterte Sichtweise, dass die Druckschrift E1 eine zum Patent widersprüchliche Lehre aufweise, kein triftiger Grund gewesen sei, die Druckschrift erst mit der Beschwerde vorzubringen. Im Laufe des schriftlichen Einspruchsverfahrens habe die Beschwerdegegnerin nämlich bereits schriftlich auf die grundsätzlich unterschiedlichen Vorgehensweisen nach dem Patent einerseits und nach der Druckschrift E1 andererseits hingewiesen.
3. Die Kammer stellt fest, dass die Druckschrift E14 zu Beginn des Beschwerdeverfahrens und im Anschluss an die für die Beschwerdeführerin negative Entscheidung der Einspruchsabteilung eingereicht wurde. Die Beschwerdegegnerin und die Einspruchsabteilung hatten in der Einspruchserwiderung bzw. im Ladungsbescheid zwar zu den Unterschieden im Verfahrensablauf zwischen dem Patent und der Druckschrift E1 Stellung genommen, allerdings nur im Rahmen der Neuheitsdiskussion gegenüber der Druckschrift E1.
Erst in der angefochtenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung darauf hin, dass die Lehre der Druckschrift E1 im Widerspruch zum Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 stehe, was dazu führe, dass die Druckschrift E1 die Merkmale h) bzw. H) nicht nahelegen könne (vgl. Punkt 3.2.2 der Entscheidungsgründe). Somit kann die Kammer der Beschwerdeführerin darin folgen, dass die mit der Beschwerdebegründung eingereichte Funktionsbeschreibung E14 eine angemessene und alsbaldige Reaktion auf die Feststellung der Einspruchsabteilung zur widersprüchlichen Lehre zwischen dem Patent und der Druckschrift E1 ist. Daher war nach Ansicht der Kammer das Vorlegen der Funktionsbeschreibung E14 zu diesem Punkt im erstinstanzlichen Verfahren nicht veranlasst gewesen.
4. Die Kammer hat daher die Druckschrift E14 gemäß Artikel 12 (4) VOBK im Beschwerdeverfahren berücksichtigt.
Angebot eines "Sachverständigenbeweises"
5. Mit der Beschwerdebegründung wurde zur Frage der Offenbarung der Druckschrift E1, insbesondere hinsichtlich der Reihenfolge des Aktivierens der Haltebremse und des Antriebsfreischaltens, und nur für den Fall, dass "die Beschwerdekammer dies für notwendig erachten [sollte]", ein Sachverständigenbeweis unter Angabe des Namens eines Sachverständigen, zu laden über die Beschwerdeführerin, angeboten.
6. Nach ständiger Rechtsprechung befindet eine Kammer einen Sachverständigenbeweis im Sinne von
Artikel 117 (1) e) EPÜ nur dann angemessen, wenn sich die Kammer außerstande sieht, über eine Frage ohne technischen Beistand zu entscheiden (siehe z.B. T 375/00, Punkt 1.2.2 der Entscheidungsgründe).
7. Die mit zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern besetzte Kammer erachtet sich jedoch für sachkundig, den technischen Gehalt der Druckschrift E1 zu beurteilen. Die Frage, ob das Aktivieren der Haltebremse vor oder nach dem Antriebsfreischalten stattfindet, kann schon aufgrund der detaillierten Beschreibung in der Druckschrift E1 beantwortet werden, ohne dass es dazu weiterer Beweismittel bedarf.
8. Folglich hielt die Kammer eine Ladung des von der Beschwerdeführerin angebotenen Sachverständigen nicht für erforderlich.
Hauptantrag - Auslegung der Ansprüche
9. In den Verfahrensmerkmalen h und i des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag wird der Bremsvorgang im Falle einer unzulässig hohen Stößelgeschwindigkeit beansprucht. Dabei versteht die Kammer die "Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit" im Zusammenhang mit dem Merkmal g und den Absätzen [0027] und [0039] des Patents als die Überschreitung der maximal zulässigen Geschwindigkeit des Stößels.
10. Durch das Temporaladverb "dann" erfordern die Merkmale h und i, dass die Freischaltung des Antriebs und die Ansteuerung der Haltebremse erst ausgeführt werden nachdem die maximal zulässige Geschwindigkeit überschritten ist.
Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin lässt der Anspruch aber offen, in welcher zeitlichen Reihenfolge der Antrieb freigeschaltet und die Haltebremse angesteuert wird. Da keine Indizien für einen gleichzeitigen Ablauf der Freischaltung und der Ansteuerung sprechen, mag auch dahingestellt bleiben, ob eine eventuelle Verzögerung der Ansteuerung zur Folge hätte, dass die Haltebremse erst nach der Freischaltung eingelegt werde.
Die Kammer sieht keine Veranlassung, die Beschreibung zur Interpretation des Anspruchs heranzuziehen und die Merkmale h und i, die eine eindeutige technische Bedeutung aufweisen, durch Verweis auf eine bestimmte Ausführungsform enger auszulegen.
11. Ähnliches gilt hinsichtlich der Ansteuerung der Momentenfreischaltung und der Haltebremse im Vorrichtungsmerkmal G. Der Wortlaut des Anspruchs 2 definiert nicht, in welcher Reihenfolge die Freischaltung des Antriebs und die Ansteuerung der Haltebremse erfolgen müssen.
Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit
12. Ausgangspunkt - Unterscheidungsmerkmale
12.1 Es ist unstrittig, dass die Druckschrift E1 den nächstliegenden Stand der Technik darstellt.
Die Druckschrift E1 offenbart ein Verfahren zum Schutz von Personen bei ihrer Arbeit an einer elektrisch angetriebenen Maschine mit Vertikalachse. Um die Personensicherheit zu gewährleisten, lässt sich die Vertikalachse anhand einer Haltebremse (siehe Absatz 3 auf Seite 125: "motor-integrierte Haltebremse") abbremsen. Die Haltebremse ist ausgelegt, die Masse der Vertikalachse als hängende Last plus eine bestimmte kinetische Energie der Vertikalachse abzubremsen (siehe Absatz 4 auf Seite 125: "mit jeweils der 1,3-fachen maximalen Gewichtslast") (vgl. Merkmale a und c).
Gemäß dem aus der Druckschrift E1 bekannten Verfahren wird eine Anforderung auf Eintritt in den Gefahrenbereich der Vertikalachse abgefragt (siehe den die Spalten 2 und 3 auf Seite 126 überbrückenden Satz). Die Haltebremse wird zyklisch auf ihre Funktion getestet (siehe Absatz 4 auf Seite 125: "einen zyklischen Test der Bremsen"). Bei einem positiven Haltebremsentest wird die Zugangsmöglichkeit zu dem Gefahrenbereich freigegeben (siehe die linke Spalte auf Seite 126: "Haben beide Haltesysteme den Bremsentest erfolgreich bestanden ... ist ein weiterer Zutritt mit Aufenthalt unter der Vertikalachse ohne erneuten Bremsentest möglich") (vgl. Merkmale d, e und f).
Nach Freigabe der Zugangsmöglichkeit wird die Geschwindigkeit der Vertikalachse auf eine für den Einrichtbetrieb maximal zulässige Geschwindigkeit überwacht (siehe Absatz 1 der rechten Spalte auf Seite 126: "Mit Betätigung eines Zustimmtasters lässt sich die Vertikalachse nun mit sicher reduzierten Geschwindigkeiten verfahren. Auch hier erfolgt eine sichere Überwachung hinsichtlich der Einhaltung der parametrierten Grenzwerte"). Bei Überschreitung dieser Stößelgeschwindigkeit offenbart die Druckschrift E1 in dem die Seiten 126 und 127 überbrückenden Abschnitt eine "Eskalationsstrategie im Fehlerfall". In der ersten Stufe dieser Eskalationsstrategie wird die Vertikalachse über die Antriebssteuerung zum Stillstand gebracht (die sogenannte "Sollwert-Null-Schaltung"). Im Stillstand werden dann "die beiden Bremsen angesteuert und der Antrieb trennt zweikanalig die Energiezufuhr zum Motor". Demzufolge werden sowohl die Freischaltung des Antriebs als auch die Haltebremse angesteuert (Merkmale g, h und i).
12.2 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann bei korrekter Auslegung einer ersten Vorveröffentlichung, die eine Bezugnahme auf eine zweite Vorveröffentlichung enthält, die Offenbarung der zweiten Vorveröffentlichung ganz oder teilweise als Bestandteil der Offenbarung des Hauptdokuments angesehen werden (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage 2019, I.C.5.1).
Im vorliegenden Fall enthält die Druckschrift E1 mehrere Bezugnahmen auf "das Merkblatt Nr. 5 des Fachausschusses Maschinenbau, Fertigungssysteme, Stahlbau der Berufsgenossenschaft Metall Süd" (siehe den zweiten Absatz auf Seite 124, sowie den vierten Absatz auf Seite 125 und den fünften Absatz auf Seite 127). Dass damit das im Februar 2004 herausgegebene Informationsblatt E4 mit dem Titel "Schwerkraftbelastete Achsen (Vertikalachsen)" gemeint ist, wird von den Beteiligten nicht bestritten.
Anhand der allgemein für Maschinen geltenden Sicherheitsnorm DIN EN 954-1 legt das Informationsblatt E4 bestimmte sicherheitstechnische Maßnahmen gegen ungewolltes Herabsinken von Vertikalachsen dar. Besonders die im Informationsblatt E4 vorgeschlagenen redundanten Lösungen in Hinblick auf die Kategorie 3 der DIN-Norm werden in der Druckschrift E1 mehrfach erwähnt. Solche Lösungen sind im Abschnitt 3 auf Seite 2 des Informationsblatts E4, insbesondere in Bezug auf die Betriebsart A1 in der Tabelle 1, beschrieben. Demzufolge versteht die Kammer den "Zutritt mit Aufenthalt unter der Vertikalachse" in der linken Spalte auf Seite 126 der Druckschrift E1 als einen Zutritt durch eine trennende zugehaltene Schutzeinrichtung zu einem zugangsgesicherten Bereich, in dem sich die Vertikalachse befindet. Wie sich aus dem die Spalten der Seite 2 überbrückenden Satz des Informationsblatts E4 ergibt, erfordert der durch das Ergebnis des zyklischen Tests bedingte Zutritt, dass die Zugangsmöglichkeit der baulichen Schutzeinrichtung verriegelbar gestaltet ist (vgl. Merkmal b).
12.3 Eine Servopresse mit Pressenstößel bzw. ein Verfahren zum Schutz von Personen bei ihrer Arbeit an einer elektrisch angetriebenen Servopresse ist aber nicht in der Druckschrift E1, auch nicht in Verbindung mit dem Informationsblatt E4, offenbart.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich daher von der aus der Druckschrift E1 bekannten Maschine dadurch, dass sie eine Servopresse ist und die Vertikalachse ein Pressenstößel.
12.4 Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass die in der Druckschrift E1 offenbarte Bremse nicht zum Abbremsen der Vertikalachse plus einer kinetischen Energie der Vertikalachse ausgelegt sei, hat die Kammer nicht überzeugt.
Eine Belastung der Haltebremse mit der 1,3-fachen Gewichtslast im Sinne von der Druckschrift E1 muss ausreichend sein, um eine herabsinkende Vertikalachse zum Stillstand zu bringen und in der Ruheposition zu halten. Zwar wird die Wirksamkeit der Bremswirkung von der tatsächlichen Sinkgeschwindigkeit der Vertikalachse abhängen. Da die bekannte Haltebremse aber den Bremsentest bestanden hat, ist sie zweifellos dazu ausgelegt, eine (im Anspruch nicht genauer detaillierte) kinetische Energie aufzunehmen.
Darüber hinaus folgt aus dem die Seiten 126 und 127 überbrückenden Absatz, dass die bekannte Haltebremse auch für den Einsatz im Fehlerfall gedacht ist, wo sie die herabsinkende Vertikalachse zum Stillstand bringen muss.
12.5 Die Beschwerdegegnerin machte in Bezug auf das Merkmal g geltend, dass in der Druckschrift E1 nicht die Geschwindigkeit der Vertikalachse sondern deren Lage überwacht werde.
Die Kammer kann dem nicht zustimmen. Die im vierten Absatz auf Seite 125 der Druckschrift E1 erwähnte "zweikanalige Überwachung der Lage-Information auf der Grundlage eines parametrierten Toleranzbandes" betrifft den zyklischen Test der Bremsen, der im Stillstand der Vertikalachse vor der Freigabe der Zugangsmöglichkeit erfolgt. Demgegenüber folgt aus der rechten Spalte auf Seite 126 eindeutig, dass nach der Freigabe überwacht wird, ob die Geschwindigkeit der Vertikalachse unterhalb eines vorgegebenen Grenzwerts bleibt ("mit sicher reduzierten Geschwindigkeiten" im ersten Absatz, und "ob die parametrierten Geschwindigkeitsreduzierung auch eingehalten wird" im vierten Absatz).
13. Objektive technische Aufgabe
Die objektive technische Aufgabe ist die Bereitstellung des eingangs genannten Verfahrens zum Schutz von Personen bei ihrer Arbeit an bestimmten Maschinen.
14. Naheliegen
Servopressen, bei denen das notwendige Drehmoment am vertikal beweglichen Pressenstößel über Servo-Motoren erzeugt wird, sind seit langer Zeit bekannt. Nach Auffassung der Kammer bedarf es für einen Fachmann keiner erfinderischen Tätigkeit, das aus der Druckschrift E1 in Verbindung mit dem Informationsblatt E4 bekannte Personenschutzverfahren für Vertikalachsen auch bei einer Servopresse mit einem elektrisch angetriebenen, vertikal verfahrbaren Pressenstößel anzuwenden.
15. Daher beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
Hilfsantrag 1 - Zulassung
16. Es steht im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen (Artikel 13 (1) VOBK). Bei der Ausübung dieses Ermessens wird nicht nur die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt, sondern auch, ob gute Gründe für das späte Vorbringen vorliegen und ob das späte Vorbringen für die Lösung der zu diskutierenden Punkte zielführend ist.
Darüber hinaus werden nach Artikel 13 (3) VOBK Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.
17. Die Änderung des Anspruchs 1 wird von der Kammer als eine direkte Reaktion der Beschwerdegegnerin auf die geänderte Position der Kammer in Bezug auf die Auslegung der Merkmale h und i eingestuft. Erst während der Diskussion des Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung hat sich nämlich herausgestellt, dass die zeitliche Reihenfolge der Freischaltung und der Ansteuerung, die für die Frage der erfinderischen Tätigkeit gegenüber der Druckschrift E1 entscheidungswesentlich war, nicht durch den Wortlaut des Anspruchs 1 festgelegt wird (siehe oben zu Punkt 10). Die Beschwerdeführerin konnte während der mündlichen Verhandlung angemessen auf den Hilfsantrag eingehen.
Darüber hinaus hat die Ergänzung des beanspruchten Gegenstands durch das Wort "anschließend" keine besonderen Schwierigkeiten hervorgerufen oder Fragen aufgeworfen, deren Behandlung der Kammer oder der Beschwerdeführerin ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten war.
18. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass die zeitliche Reihenfolge bei einem Vorrichtungsanspruch keine Rolle spiele und dass Anspruch 2 des Hilfsantrags deshalb inhaltlich nicht geändert würde, überzeugt die Kammer nicht. Das Merkmal "eine Überwachungseinrichtung...zum Ansteuern der Momentenfreischaltung und zum anschließenden Ansteuern der Haltebremse (8), falls bei freigegebener Zugangsmöglichkeit (7) die zulässige Geschwindigkeit (vMax) überschritten wird" ist ein funktionelles Merkmal, das zwei Verfahrensschritte direkt mit einem bestimmten Vorrichtungsmerkmal und mit einer bestimmten Bedingung verbindet. Die Überwachungseinrichtung ist de facto eine Steuerungseinrichtung, die nicht nur zur Ausführung der Verfahrensschritte geeignet ist, sondern eigens für die Durchführung der Schritte programmiert ist. Das bedeutet auch, dass der durch das Wort "anschließenden" festgelegte zeitliche Ablauf der verschiedenen Steuerungsschritte ein technisch wesentlicher Bestandteil dieses Merkmals ist.
19. Unter diesen Umständen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) und (3) VOBK entschieden, den Hilfsantrag 1 in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Hilfsantrag 1 - Änderungen
20. Die Kammer hat das Argument der Beschwerdeführerin, dass die in den Merkmalen h und i' des Anspruchs 1 bzw. in dem Merkmal G' des Anspruchs 2 durch die Änderung "anschließend" festgelegte Reihenfolge der Verfahrensschritte nicht unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar sei, nicht überzeugt.
Nach der Figurenbeschreibung auf Seite 9 der ursprünglich eingereichten Anmeldung, stellt die Figur 3 die "Ablauffolge zur fortlaufenden Überwachung der Stößelgeschwindigkeit entsprechend dem erfindungsgemäßen Verfahren" in Form eines Flussdiagramms grafisch dar. Nach dem Start T0 wird die Geschwindigkeit gemäß dem Merkmal g durch die Schritte T1, T2 und T3 überwacht. Im Falle einer Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit ("nein" unterhalb der Entscheidungsraute T3) wird im Schritt T4 der Antrieb freigeschaltet und erst im darauffolgenden Schritt T5 die Haltebremse angesteuert.
Nach Auffassung der Kammer hat das Wort "Zugleich" in dem Satz auf Seite 12, Zeilen 16 bis 18 der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht nur die Bedeutung "gleichzeitig", sondern auch "ebenso, auch". In Verbindung mit der Wortfolge "im darauffolgenden Schritt T5" kann es nur auf die durch die vorgenommene Änderung "anschließend" hervorgerufene Reihenfolge deuten.
Deshalb sind die Voraussetzungen des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllt.
Hilfsantrag 1 - Erfinderische Tätigkeit
21. Die Beschwerdeführerin hat die Kammer nicht davon überzeugt, dass das Verfahren des Anspruchs 1 und die Vorrichtung des Anspruchs 2 gemäß Hilfsantrag 1 gegenüber den Druckschriften E1 und E4 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen oder gegenüber einer Kombination der Druckschriften E1 und E4 mit der Funktionsbeschreibung E14 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, und zwar aus folgenden Gründen.
21.1 In der Druckschrift E1 besteht die Bremsstrategie bei Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit darin, abhängig von der Fehlerreaktion drei Eskalationsstufen nacheinander zu aktivieren (siehe den Abschnitt "Eskalationsstrategie im Fehlerfall" auf Seiten 126 und 127):
- Die Antriebssteuerung überführt die Vertikalachse in den Stillstand. Erst dann werden die Haltebremse und eine zweite Bremse aktiviert und der Antrieb trennt die Energiezufuhr zum Motor (erste Eskalationsstufe).
- Sollte die Antriebssteuerung alleine nicht imstande sein, die Vertikalachse zum Stillstand zu bringen, wird die Haltebremse bei herabsinkender Vertikalachse angesteuert (zweite Eskalationsstufe). Die zweite Bremse wird erst im Stillstand aktiviert.
- Falls auch die Haltebremse die Geschwindigkeit nicht ausreichend reduzieren kann, wird zusätzlich die zweite Bremse bei herabsinkender Vertikalachse zugeschaltet (dritte Eskalationsstufe).
Folglich findet die Unterbrechung der Energiezufuhr zum Motor, d.h. die Freischaltung des Antriebs, im herkömmlichen Verfahren immer nach der Ansteuerung der Haltebremse statt.
21.2 Demgegenüber verlangen die Merkmale h und i' bzw. das Merkmal G', dass die Haltebremse erst nach der Freischaltung des Antriebs ("anschließend") angesteuert wird.
Somit unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 sowie des Anspruchs 2 gemäß Hilfsantrag 1 von dem aus der Druckschrift E1 bekannten Verfahren bzw. von der darin offenbarten Vorrichtung dadurch, dass die Maschine eine Servopresse mit Pressenstößel ist (siehe den Punkt 12.3 oben) und so ausgestaltet ist, dass bei Überschreitung der Stößelgeschwindigkeit der Antrieb freigeschaltet und anschließend die Haltebremse zum Abbremsen des Pressenstößels angesteuert wird.
21.3 Die Beschwerdeführerin hat dem entgegengehalten, dass die Druckschrift E1 nicht erwähne, dass ein antriebsgeführtes Bremsen auch in den letzten beiden Eskalationsstufen insbesondere gleichzeitig zur Verwendung der mechanischen Bremsen stattfinde.
Dem kann sich die Kammer nicht anschließen. Die Eskalationsstufen werden in Abhängigkeit des Fehlerfalls im Sinne einer Kaskade nacheinander durchlaufen. In den letzten beiden Eskalationsstufen werden die Bremskomponenten jeweils zugeschaltet, d.h. die Antriebssteuerung versucht weiter die Vertikalachse abzubremsen, wird dabei aber von den mechanischen Bremsen unterstützt. Verdeutlicht wird das im zweiten Absatz der linken Spalte auf Seite 127 durch die Funktionsbeschreibung "kommt es in der letzten Eskalationsstufe zur Zuschaltung des zweiten Bremssystems. Insgesamt stehen damit drei Kanäle zum Abbremsen der Vertikalachse zur Verfügung".
21.4 Der technische Effekt des weiteren Unterscheidungsmerkmals liegt gemäß den Absätzen [0018] und [0039] des Patents darin, dass ein aufgrund eines technischen Fehlers entstehendes zusätzliches Moment des Antriebs, das keine sichere Abbremsung mittels der Haltebremse mehr möglich machen würde, vermieden wird. Das schafft ein größtmögliches Maß an Sicherheit.
21.5 Die zu lösende Aufgabe setzt sich aus zwei technisch voneinander unabhängigen Teilaufgaben zusammen. Für die erste Teilaufgabe wird auf obigen Punkt 13 verwiesen. Die zweite objektive technische Teilaufgabe wird darin gesehen, eine erhöhte Sicherheit herzustellen.
21.6 Bei der Beurteilung, ob die Lösung der zweiten Teilaufgabe für einen Fachmann unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens durch den Stand der Technik nahegelegt ist, hat die Beschwerdeführerin die Funktionsbeschreibung E14 herangezogen, in der verschiedene antriebsseitige Fehlerreaktionen eines elektrischen Antriebs beschrieben werden. Die Beschwerdeführerin hat zwar auf die Ähnlichkeit mit der auf den Seiten 124 und 125 der Druckschrift E1 erwähnten "Indradrive-Baureihe" verwiesen. Allerdings ist nicht nachgewiesen, ob es sich in der Funktionsbeschreibung "ASE 02VRS" des Antriebs "DIAX03" gemäß dem Dokument E14 tatsächlich um einen Antrieb handelt, der dem Antrieb in der Druckschrift E1 ähnlich ist bzw. der mit der darin offenbarten Vertikalachse kompatibel ist.
Der schräggedruckte Satz oben links auf Seite 8-47 der Funktionsbeschreibung E14 weist darauf hin, dass die Reaktion auf einen Fehler im Regelgerät wesentlich von der Klasse des aufgetretenen Fehlers abhängt. Eine Tabelle listet die vier vorhandenen Fehlerklassen auf, von denen drei die auf Seite 8-48 beschriebene Reaktion "bestmögliche Stillsetzung" anwenden. Die Reaktion zielt darauf ab, dass eine Geschwindigkeits-Sollwert-Nullschaltung auf eine Aktivierung der Haltebremse folgt, eventuell mit Zwischenschaltung der Motorbremse, vgl. die Abbildungen 8-51, 8-52 und 8-55 bis 8-58. Erst am Ende des Bremsvorgangs wird der Antrieb momentenfrei geschaltet (siehe oben auf Seite 8-48).
Die Fehlerreaktion "bestmögliche Stillsetzung" entspricht im Wesentlichen dem aus der Druckschrift E1 bekannten Vorgehen im Fehlerfall. Es liegt deshalb für den Fachmann auch in Anbetracht der Lehre der Funktionsbeschreibung E14 auf der Hand, eine antriebsseitige Steuerung und eine nachfolgende Ansteuerung der Haltebremse bis zum Stillstand der Vertikalachse durchzuführen, bevor der Antrieb von der Energiezufuhr freigeschaltet wird.
Nur im Fall einer weiteren, vierten Fehlerklasse, des sogenannten "fatalen Fehlers", wird in der Funktionsbeschreibung E14 von der "bestmöglichen Stillsetzung" abgesehen und es erfolgt eine sofortige Momentenfreischaltung. Angesichts der schräggedruckten Bemerkung auf Seite 8-49 ist die Fehlerreaktion "Momentenfreischaltung" bei vorhandener Motorbremse aber nicht sinnvoll. In der mittleren Spalte auf Seite 126 der Druckschrift E1 wird angedeutet, dass der Antrieb über eine Motorbremse verfügt ("die kinetische Energie der Achsen [wird] in der Regel durch das elektrische Abbremsen in einen Ballastwiderstand verheizt"). Demzufolge müsste der Fachmann sich bei der Entscheidung, die Momentenfreischaltung vor der Haltebremse anzusteuern, von der eigentlichen Lehre der Funktionsbeschreibung E14 abwenden, was aber einer rückschauenden Betrachtungsweise gleichkommt, die unzulässigerweise von der Kenntnis der Erfindung Gebrauch macht.
Da kein überzeugender Grund für ein solches Vorgehen erkenntlich ist, kann die Änderung der Reihenfolge der Vorgänge in den Merkmalen h und i', bzw. im Merkmal G', nicht als naheliegend gelten.
21.7 Auch die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass für die Reihenfolge nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung stünden, was die erfinderische Tätigkeit einer dieser Möglichkeiten nicht begründen könnte, kann die Kammer nicht überzeugen.
Die Überlegung, den Antrieb von der herabsinkenden Vertikalachse freizuschalten und somit die antriebsseitige Sollwert-Null-Schaltung komplett wegzulassen, widerspricht im Kern der Lehre der Druckschrift E1 und wäre deshalb von dem Fachmann nicht erwogen worden.
Es ist für die Kammer auch nicht nachvollziehbar, welchen Anlass der Fachmann hätte, die Reihenfolge in der Druckschrift E1 zu tauschen, um die Aufgabe zu lösen, eine erhöhte Sicherheit herzustellen.
21.8 Die Beschwerdeführerin hat deshalb nicht überzeugend dargelegt, dass dem Verfahren nach Anspruch 1 oder der Vorrichtung nach Anspruch 2 keine erfinderische Tätigkeit zugesprochen werden kann.
Folglich beruht der Gegenstand von Anspruch 1 und von Anspruch 2 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
Ausreichende Offenbarung
22. Die Kammer versteht den strittigen Wortlaut des Merkmals h als die Bedingung, dass die Geschwindigkeit des Pressenstößels die maximal zulässige Stößelgeschwindigkeit überschreitet. Das geht nicht nur aus dem Merkmal g des Anspruchs 1 und dem Merkmal G bzw. G' des Anspruchs 2, aber auch eindeutig aus der Beschreibung des Patents, die für die Frage der ausreichenden Offenbarung berücksichtigt werden muss, hervor. Insbesondere wird auf die Absätze [0017] ("wird die Stößelgeschwindigkeit auf einen zulässigen Wert überwacht"), [0022] ("die Stößelgeschwindigkeit ... [wird] auf eine für den Einrichtbetrieb maximale zulässige Geschwindigkeit überwacht"), [0027] ("eine Überwachungseinrichtung zur Überwachung einer Stößelgeschwindigkeit auf Überschreitung einer zulässigen Geschwindigkeit") und [0039] ("Für den Fall, dass die erfasste Stößelgeschwindigkeit vS kleiner ist als diese zusätzliche maximale Geschwindigkeit vMax, wird zum Schritt T2 zurückverzweigt. Anderenfalls ...") der Patentschrift verwiesen. Auch die Entscheidungslogik im Flussdiagramm der Figur 3 lehrt nichts Anderes: Ist der erfasste Wert vS nicht kleiner als der Grenzwert vMax ("nein" unterhalb der Entscheidungsraute T3), dann erfolgt eine sichere Momentenfreischaltung (T4) und eine sichere Ansteuerung der Haltebremse (T5).
Insoweit kann dem Argument der Beschwerdeführerin, wonach das Merkmal h des Anspruchs 1 nicht ausreichend offenbart sei, nicht gefolgt werden.
Deshalb ist die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 83 bzw. Artikel 100 (b) EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverweisen, das Patent in geänderter Fassung mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche: Nr. 1 bis 10 gemäß Hilfsantrag 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 16. Oktober 2019;
- Beschreibung: Seiten 2 bis 6 der Patentschrift;
- Zeichnungen: Figuren 1 bis 8 der Patentschrift.