T 0607/18 (Dilemma des Fachmanns - nicht in Kombination ausführbare Verfahrensmerkmale im Anspruch) 22-11-2022
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Verfahren zum Verbinden von Kunststoff-Hohlkammerprofilen im Eckbereich
profine GmbH
Hanssen Beleggingen B.V.
Veka AG
REHAU Industries SE & Co. KG
Kruba B.V.
I. Die Einsprechenden 1 bis 3 (Beschwerdeführerinnen 1 bis 3) legten Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, die Einsprüche gegen das Streitpatent zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass das Streitpatent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
IV. Die Beschwerdeführerinnen 1 bis 3 (Einsprechende 1 bis 3) beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 2 236 723.
Die Beschwerdegegnerinnen (Patentinhaberinnen) beantragten die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent unverändert aufrecht zu erhalten.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt (Merkmalsgliederung in eckigen Klammern hinzugefügt):
[1.1] Verfahren zum Verbinden von Kunststoff-Hohlkammerprofilen (1, 7) im Eckbereich,
[1.2] bei dem wenigstens zwei Hohlkammerprofile (1, 7) unterschiedlicher Querschnittskontur miteinander im Eckbereich verschweißt werden, wobei
[1.3] - wenigstens ein erstes Hohlkammerprofil (1) eine in einem ersten Winkel alpha zur Außensichtfläche (3) schräg nach außen abfallende Überschlagskammer (4) und
[1.4] - wenigstens ein zweites Hohlkammerprofil (7) eine
[1.5a] - senkrecht zur Außensichtfläche (9) verlaufende oder
[1.5b] - in einem zweiten, vom ersten Winkel alpha abweichenden Winkel beta zur Außensichtfläche (9) schräg nach außen abfallende Überschlagskammer (10) aufweist,
gekennzeichnet, durch folgende Verfahrensschritte:
[1.6] a) das erste Hohlkammerprofil (1) wird unter Bildung eines Gehrungsbereichs (5) mit einem senkrecht zur Außensichtfläche (3) und unter 45° zur Längserstreckung verlaufenden,
[1.7] sich bis zu einem Abstand "A" zur Außensichtfläche über einen Großteil der Tiefe des ersten Höhlkammerprofils (1) erstreckenden Sägeschnitt oder eine entsprechende Fräsung
[1.8] und einem zweiten, parallel und etwa im Abstand "A" zur Außensichtfläche (3) verlaufenden zweiten Sägeschnitt oder eine entsprechende Fräsung
[1.9] unter Bildung einer Überblattung (6) mit der Stärke "A" beschnitten oder befräst;
[1.10] b) das zweite Hohlkammerprofil (7) wird unter Bildung eines Gehrungsbereichs (11) senkrecht zur Außensichtfläche (9) und unter 45° zur Längserstreckung
[1.11] bis zu einer im Winkel delta und im Abstand zur Sichtfläche (8) der Überschlagskammer (10) verlaufenden Linie "B" eingeschnitten oder eingefräst;
[1.12] c) die Außenseite (13) des zweiten Hohlkammerprofils (7) wird zur Bildung einer Überblattungs-Ausklinkung (12) mit senkrecht zur Längserstreckung verlaufender Kante (14) bis etwa zum Abstand "A" von der Außensichtfläche (9) durch Sägen oder Fräsen entfernt;
[1.13] d) durch einen im Winkel alpha zur Außensichtfläche (9) bis zur Linie "B" verlaufenden Schnitt oder eine entsprechende Fräsung wird das zweiten [sic] Hohlkammerprofil (7) im Bereich der Überschlagskammer (10) ausgeklinkt,
[1.14] wobei die Verfahrenschritte a) bis d) auch in abweichender Reihenfolge durchgeführt werden können;
[1.15] e) das erste Hohlkammerprofil (1) wird mit dem zweiten Hohlkammerprofil (7) im Gehrungsbereich (5, 11) verschweißt,
[1.16] wobei die Überblattung (6) des ersten Hohlkammerprofils (1) die Überblattungs-Ausklinkung (12) des zweiten Hohlkammerprofils (7) überdeckt.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die beanspruchte Erfindung sei nicht ausführbar offenbart, da einerseits ein Verschweißen der beiden Hohlkammerprofile gemäß Merkmal [1.15] zwingend einen Materialüberstand im Gehrungsbereich erfordere, andererseits aber bei anspruchsgemäßer Schnittführung gemäß den Merkmalen [1.6], [1.10], [1.11] und [1.13] kein solcher Materialüberstand vorliegt.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerinnen, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der Fachmann wisse von der Notwendigkeit eines Materialüberstands für ein Verschweißen der beiden Hohlkammerprofile und würde daher die Schnitte so führen, dass im Gehrungsbereich ein entsprechender Materialüberstand gebildet wird. Die beanspruchte Erfindung sei deshalb ausführbar offenbart.
1. Ausführbare Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ)
1.1 Die beanspruchte Erfindung betrifft im Allgemeinen ein Verfahren zum Verbinden von Kunststoff-Hohlkammerprofilen im Eckbereich, bei dem ein erstes Hohlkammerprofil 1 und ein zweites Hohlkammerprofil 7 jeweils auf Gehrung geschnitten und dann verschweißt werden (Merkmale [1.1], [1.6], [1.10] und [1.15]).
1.2 Eine Besonderheit bei dem beanspruchten Verfahren besteht darin, dass die beiden Hohlkammerprofile eine unterschiedliche Querschnittskontur haben (Merkmal [1.2]). So weist das erste Hohlkammerprofil 1 eine im Winkel alpha zur Außensichtfläche 3 schräg nach außen abfallende Überschlagskammer 4 auf (Merkmal [1.3]), die im zweiten Hohlkammerprofil 7 keine identische Entsprechung findet (Merkmale [1.5a]/[1.5b]).
Würde man daher beide Hohlkammerprofile jeweils nur mit einem unter 45° zur Längserstreckung verlaufenden Gehrungsschnitt versehen, würden sie nach dem Zusammenfügen im Bereich der Überschlagskammer nicht bündig miteinander abschließen (siehe auch Absatz [0008] des Streitpatents).
1.3 Das beanspruchte Verfahren umfasst daher eine spezielle Schnittführung zur Ausbildung des Gehrungsbereichs 11, die sich wie folgt zusammenfassen lässt:
Das erste Hohlkammerprofil wird mit einem senkrecht zur Außensichtfläche und unter 45° zur Längserstreckung verlaufenden Schnitt oder eine entsprechende Fräsung beschnitten oder befräst (Merkmal [1.6]).
Das zweite Hohlkammerprofil wird mit zwei Schnitten bzw. Fräsungen bearbeitet. Zum einen wird es senkrecht zur Außensichtfläche 9 und unter 45° zur Längserstreckung bis zu einer im Winkel delta und im Abstand zur Sichtfläche 8 der Überschlagskammer 10 verlaufenden Linie "B" eingeschnitten oder eingefräst (Merkmale [1.10] und [1.11]). Zum anderen wird es durch einen im Winkel alpha zur Außensichtfläche 9 bis zur Linie "B" verlaufenden Schnitt oder eine entsprechende Fräsung im Bereich der Überschlagskammer 10 ausgeklinkt (Merkmal [1.13]).
1.4 Da die beiden Schnitte oder Fräsungen im zweiten Hohlkammerprofil anspruchsgemäß jeweils zu der Linie "B" verlaufen, treffen sie dort zwangsläufig aufeinander, mit dem Resultat, dass die Ausklinkung im so beschnittenen oder befrästen Hohlkammerprofil einen (einzigen) Knick beschreibt, entlang dem die Linie "B" verläuft. Nach fachmännischer Lesart der beanspruchten Schnitte oder Fräsungen bezieht sich nämlich die Schnittführung auf das Ergebnis, also auf die Schnittflächen am geschnittenen Werkstück, und ist insoweit unabhängig von der Dicke des Schneidwerkzeugs oder der Größe und Form des Fräskopfs. So hat nach fachmännischem Verständnis ein Werkstück, das bei 1000 mm abgeschnitten oder abgefräst werden soll, im Ergebnis eine Länge von 1000 mm, und nicht etwa von 998 mm.
Würde das zweite Hohlkammerprofil daher eine Stufe im Gehrungsbereich aufweisen, so wäre zumindest einer der beiden Schnitte bzw. eine der beiden Fräsungen, entgegen der Anweisung im Anspruch, nicht zu der Linie "B", sondern zu einer anderen Linie geführt worden.
1.5 Ein Beispiel für eine solche nicht-anspruchsgemäße Schnittführung findet sich in der im Folgenden abgebildeten Figur 10 des Streitpatents. Hier wurde der 45°-Schnitt im Sinne der Merkmale [1.10] und [1.11] zu einer (von der Kammer zur Illustrierung nachträglich eingezeichneten) Linie "C" geführt, die etwas oberhalb der Linie "B" verläuft. Der unter dem Winkel alpha verlaufende Schnitt im Sinne des Merkmals [1.13] hingegen wurde zu der weiter unten verlaufenden Linie "B" geführt.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
1.6 Das in Figur 10 des Streitpatents dargestellte zweite Hohlkammerprofil 7 wurde also nicht gemäß dem in Anspruch 1 des Streitpatents beanspruchten Verfahren erzeugt.
1.7 Die in dieser Figur veranschaulichte Schnittführung ist indes nicht willkürlich. Nach überzeugendem Vortrag der Beschwerdeführerinnen wurde hier der 45°-Schnitt im Sinne der Merkmale [1.10] und [1.11] zu einer Linie ("C") oberhalb der Linie "B" geführt, um im Gehrungsbereich einen Materialüberstand zu erzeugen, der bei einem anschließenden Verschweißen im Sinne des Merkmals [1.15] verpresst werden kann.
Auch das von der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vorgelegte und von der Kammer und den Beteiligten in Augenschein genommene Modell eines "zweiten" Hohlkammerprofils im Sinne des Anspruchs 1 wies einen solchen Materialüberstand im Gehrungsbereich auf. Genau wie in der obigen Figur 10 bildete auch im vorgelegten Modell der Überstand eine Stufe im Gehrungsbereich aus. Es resultierte also ebenfalls aus einer Schnittführung, bei der die beiden Schnitte nicht zu einer gemeinsamen Linie "B" verliefen.
Die Beteiligten erklärten übereinstimmend, dass ein solcher Materialüberstand im Gehrungsbereich, der auch "Schweißabbrand" genannt wird, eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die beiden Hohlkammerprofile mittels Schweißen miteinander verbunden werden können. Die Beschwerdegegnerin verwies diesbezüglich auf Absatz [0027] des Streitpatents, der feststellt (siehe auch Absatz [0016]):
"Beim Zuschneiden der beiden Profile 1, 7 muss - wie dem Fachmann geläufig - ein entsprechender Schweißabbrand ca. 3 mm berücksichtigt werden."
Die Beschwerdegegnerin machte geltend, der Fachmann wisse von der Notwendigkeit eines Materialüberstands für ein Verschweißen der beiden Hohlkammerprofile, weshalb er die Schnitte so führen würde, dass im Gehrungsbereich ein entsprechender Materialüberstand gebildet wird.
1.8 Für die Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung bedeutet das, dass der Schritt e) des beanspruchten Verfahrens, d. h. das Verschweißen gemäß Merkmal [1.15], nur dann erfolgreich durchgeführt werden kann, wenn bei der Führung der Schnitte ein Materialüberstand im Gehrungsbereich erzeugt wurde, wie dies beispielsweise im zweiten Hohlkammerprofil 7 in der Figur 10 des Streitpatents zu sehen ist. Eine solche Schnittführung entspricht jedoch, wie oben festgestellt (siehe Punkte 1.4 bis 1.6), nicht der in den Merkmalen [1.10], [1.11] und [1.13] beanspruchten Schnittführung.
Umgekehrt erzeugt die in den Merkmalen [1.10], [1.11] und [1.13] beanspruchte Schnittführung keinen solchen Materialüberstand, sondern stattdessen eine Gehrung im zweiten Hohlkammerprofil 7, die exakt bündig mit der in Merkmal [1.6] erzeugten Gehrung im ersten Hohlkammerprofil 1 zusammenpasst. Sie weist genau zwei Flächen auf, die sich in einer einzigen Linie B treffen.
1.9 Der Fachmann befindet sich folglich in einem Dilemma: Wenn er die Schnitte so führt, wie es das beanspruchte Verfahren in den Merkmalen [1.6], [1.10], [1.11] und [1.13] vorsieht, erhält er keinen Materialüberstand. Er kann daher den im Merkmal [1.15] vorgesehenen Schritt des Verschweißens nicht durchführen. Wenn der Fachmann hingegen die Schnitte so führt, dass ein Materialüberstand gebildet wird und er somit auch den Schritt des Verschweißens gemäß Merkmal [1.15] durchführen kann, so arbeitet er nicht nach dem beanspruchten Verfahren hinsichtlich der Führung der Schnitte, sondern nach einer nicht unter den Anspruch fallenden Alternative. Die im Anspruch definierte Erfindung ist aufgrund dieses Dilemmas nicht ausführbar.
1.10 Daher steht der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben. Das Patent wird widerrufen.