T 2069/18 (Berührungsempfindlicher Bildschirm, der zwei gleichzeitige Berührungspunkte erkennt / Volkswagen, Audi) 21-01-2020
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Berührungsempfindlicher Bildschirm, der zwei gleichzeitige Berührungspunkte erkennt
Volkswagen AG
AUDI AG
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Alternative
Änderungen - Zwischenverallgemeinerung
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Rückzahlung von Jahresgebühren (nein)
Vorlage an die Große Beschwerdekammer - (nein)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung Nr. 05025836.7 sowie mehrerer prozessualer Anträge.
II. Im Rahmen der Sachprüfung hat die Prüfungsabteilung folgende Dokumente angeführt:
D1 EP 0 773 496;
D2 JP 2001 134382;
D3 WO 03/032141;
D4 US 4 914 624;
D5 WO 03/038800;
D6 US 2003/095112;
D7 Anonymous: "Windows 95: Getting Started", 7. Juli 2000 (2000-07-07), Gefunden im Internet: URL:https://www.ccsf.edu/Pub/Fac/win95.html [gefunden am 2016-07-25].
III. Die Prüfungsabteilung hat entschieden, dass der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche sowohl des dort zur Entscheidung gestellten Hauptantrags als auch der Hilfsanträge 1 bis 3 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht. Zudem hat sie den Antrag auf Erweiterung der Prüfungsabteilung um ein rechtskundiges Mitglied abgelehnt und den Antrag auf Rückzahlung von 7 Jahresgebühren als unzulässig verworfen.
IV. Mit der Beschwerdebegründung haben die Beschwerdeführerinnen zunächst den bisherigen Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 und 2 weiterverfolgt sowie einen neuen Hilfsantrag 3 eingereicht. Außerdem trugen sie ihre Gründe dazu vor, warum die angegriffene Entscheidung unzutreffend sei.
V. Die Kammer hatte sodann zur mündlichen Verhandlung geladen und ihre vorläufige Meinung im Ladungsbescheid dargelegt.
VI. Die Beschwerdeführerinnen haben daraufhin am 19. Dezember 2019 einen Hilfsantrag 4 eingereicht und außerdem beantragt, die Frage der Rückzahlung der Jahresgebühren der Großen Beschwerdekammer vorzulegen, sowie weitere Argumente vorgetragen.
VII. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung nahmen die Beschwerdeführerinnen den zunächst gestellten Antrag auf Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zurück. In der Sache nahmen sie auch den bisherigen Hauptantrag zurück, machten den bisherigen Hilfsantrag 1 zum neuen Hauptantrag und benannten die bisherigen Hilfsanträge 2 bis 4 in Hilfsanträge 1 bis 3 um.
VIII. Schlussanträge
Die Beschwerdeführerinnen beantragten, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage des Hauptantrags (ehemaliger Hilfsantrag 1) zu erteilen, oder hilfsweise, ein Patent auf der Grundlage des Hilfsantrags 1 (ehemaliger Hilfsantrag 2, eingereicht am 13. Dezember 2017), oder des Hilfsantrags 2, eingereicht mit der Beschwerdebegründung als Hilfsantrag 3, oder des Hilfsantrags 3, eingereicht mit dem Schreiben vom 19. Dezember 2019 als Hilfsantrag 4, zu erteilen,
weiter,
die letzten 7 Jahresgebühren zu erstatten,
weiter,
die Beschwerdegebühr zu erstatten,
und weiter,
die Frage der Rückzahlung der Jahresgebühren an die Große Beschwerdekammer vorzulegen.
IX. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Eingabevorrichtung (4,8,10) mit einem Display (17) zur optischen Darstellung von Informationen und einem über dem Display (17) angeordneten Touchscreen (16) zur Eingabe von Befehlen durch Berühren einer Bedienfläche des Touchscreens (16), dadurch gekennzeichnet, dass
eine Steuerung zur optischen Darstellung von weiteren oder anderen Informationen auf dem Display (17) bei einer Berührung der Bedienfläche (16A) außerhalb eines dargestellten Bedienelementes (50) und zumindest einer zweiten gleichzeitig erfolgenden Berührung der Bedienfläche (16A) vorgesehen ist, sofern die erste Berührung der Bedienfläche (16A) vor der zweiten Berührung der Bedienfläche (16A) beginnt."
X. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 enthält alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und umfasst die folgende zusätzliche Bedingung
"und wenn die zweite Berührung der Bedienfläche (16A) vor der ersten Berührung der Bedienfläche (16A) endet".
XI. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 hat folgenden Wortlaut:
"Kraftfahrzeug mit einem Armaturenbrett (3) und einem unterhalb des Armaturenbretts (3) angeordnetem Lenkrad (2), wobei das Armaturenbrett (3) eine neben dem Lenkrad (2) angeordnete Eingabevorrichtung (4) zur Bedienung eines Navigationssystems, einer Klimaanlage sowie eines Telefons aufweist, und wobei die Eingabevorrichtung (4) einn (sic) Display (17) zur optischen Darstellung von Informationen und einen über dem Display (17) angeordneten Touchscreen (16) zur Eingabe von Befehlen durch Berühren einer Bedienfläche des Touchscreens (16) umfasst, dadurch gekennzeichnet, dass
eine Steuerung zur optischen Darstellung von weiteren oder anderen Informationen auf dem Display (17) bei einer Berührung der Bedienfläche (16A) außerhalb eines dargestellten Bedienelementes (50) und zumindest einer zweiten gleichzeitig erfolgenden Berührung der Bedienfläche (16A) vorgesehen ist, sofern die erste Berührung der Bedienfläche (16A) vor der zweiten Berührung der Bedienfläche (16A) beginnt und die zweite Berührung der Bedienfläche (16A) vor der ersten Berührung der Bedienfläche (16A) endet."
XII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 enthält alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 und umfasst umfasst zusätzlich, dass
"die Eingabevorrichtung (4,8,10) weiterhin einen Aktor (18) zum Bewegen des Touch-screens aufweist, wobei der Aktor (18) mittels der Steuerung derart ansteuerbar ist, dass der Touchscreen zur Bestätigung einer Anzeige besagter weiterer oder anderer Informationen bewegt wird".
Hauptantrag
1. Änderungen der Ansprüche, Artikel 123(2) EPÜ
1.1 Das zum ursprünglichen Anspruch 1 hinzugefügte Merkmal
"einer Berührung der Bedienfläche außerhalb eines dargestellten Bedienelementes und"
stammt aus der Beschreibung der Anmeldung, siehe zum Beispiel Seite 9, letzte Zeile, Seite 10, letzter Absatz, Seite 11, letzter Absatz, Seite 12, zweiter Absatz und Seite 13, letzter Absatz.
1.2 In all diesen Abschnitten offenbart die Beschreibung der Erfindung dieses Merkmal in enger funktionaler Verbindung mit dem unter Bezugnahme auf Figur 5 beschriebenen Ablaufplan, insbesondere mit den Merkmalen im letzten Absatz auf Seite 8. Beispielsweise wird im letzten Absatz auf Seite 11 bestimmt, dass das Zusatzmenu dargestellt wird, wenn die zweite Berührung der Bedienfläche "die entsprechenden Bedingungen des unter Bezugnahme auf Fig. 5 beschriebenen Ablaufplans" erfüllt.
1.3 Der oben erwähnte Ablaufplan wird auf der zweiten Hälfte der Seite 7 und auf Seite 8 beschrieben. Dabei scheinen die zwei Bedingungen im letzten Absatz auf Seite 8 von besonderer Bedeutung zu sein:
"weitere oder andere Informationen (sind) nur dann auf dem Display 17 anzeigbar, wenn die erste Berührung der Bedienfläche 16A vor der zweiten Berührung der Bedienfläche 16A beginnt und die zweite Berührung der Bedienfläche 16A vor der ersten Berührung der Bedienfläche 16A endet".
1.4 Aus diesen Gründen offenbart die Anmeldung das Merkmal "eine(r) Berührung der Bedienfläche außerhalb eines dargestellten Bedienelementes" und die im Abschnitt 1.3 oben erwähnten zwei zeitlichen Bedingungen in einem derart engen, wechselbezüglichen Zusammenhang, dass diese nicht getrennt voneinander zu Anspruch 1 hinzugefügt werden können, ohne damit gegen die Erfordernisse des Artikel 123(2) EPÜ zu verstoßen.
1.5 Da Anspruch 1 nur die erste zeitliche Bedingung "sofern die erste Berührung der Bedienfläche (16A) vor der zweiten Berührung der Bedienfläche (16A) beginnt" umfasst, stellt diese Änderung eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung dar.
1.6 Die Beschwerdeführerinnen haben insoweit geltend gemacht, dass die zwei zeitlichen Bedingungen in den ursprünglichen Ansprüchen 2 und 3 getrennt voneinander aufgeführt seien und deswegen auch getrennt voneinander beansprucht werden dürften.
Die Kammer kann dieser Auffassung nicht folgen, da das im Abschnitt 1.1 beanstandete Merkmal ausschließlich aus der Beschreibung stammt. Somit muss auch der Kontext der Beschreibung berücksichtigt werden.
1.7 Die Beschwerdeführerinnen räumten zudem zwar weiter ein, dass es einen engen Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen gebe, waren aber der Meinung, dass die Kammer bei der Prüfung der Änderungen zu "photographisch" vorgehe.
Die Kammer stimmt dem ebenfalls nicht zu. Wie sich oben aus den Abschnitten 1.1 bis 1.5 ergibt, beruhen die Feststellungen zu den funktionalen Abhängigkeiten und Wechselbezüglichkeiten der insoweit in der Beschreibung offenbarten Merkmale auf der Analyse der Beschreibung und dem sich daraus ergebenden Verständnis der Anmeldung und nicht lediglich auf einer rein formalen Betrachtung der Merkmale.
1.8 Aus diesen Gründen sind die Anforderungen des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfüllt.
2. Erfinderische Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ
2.1 Die Entgegenhaltung D1 offenbart, dass ein Finger (middle finger 40) die Bedienfläche 32 außerhalb des Icons 36 berührt, während ein anderer Finger (index finger 34) gleichzeitig das Icon 36 berührt (Abbildung 1(b), Spalte 4, Zeile 35 bis zur Spalte 5, Zeile 1). Dieses Icon gehört zur gesamten Bedienfläche.
2.2 Dokument D1 offenbart zusätzlich, dass die Berührung des Icons 36 vor der Berührung außerhalb des Icons beginnt. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu.
2.3 Das Unterscheidungsmerkmal zu Anspruch 1 des Hauptantrags lautet:
"die erste Berührung der Bedienfläche beginnt vor der zweiten Berührung der Bedienfläche".
2.4 Die durch diese Umkehrung der Reihenfolge der Berührungen ausgelösten technischen Wirkungen wurden sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung erörtert.
2.5 Die Beschwerdeführerinnen haben dazu vorgetragen, dass damit die Anzahl der aktivierbaren Funktionen erhöht sei.
Die Kammer ist davon nicht überzeugt. Die Beschreibung der Anmeldung lehrt, dass die funktional spezifizierte Position der ersten Berührung "außerhalb eines dargestellten Bedienelementes" die darzustellende Information bestimmt.
Die Entgegenhaltung D1 offenbart (Spalte 3, Zeilen 28 bis 41), dass die Position der ersten Berührung ("desired location / position") die auszulösende Funktion bestimmt.
Somit wird in beiden Fällen eine darzustellende Information beziehungsweise eine Funktion bestimmt.
2.6 Die Beschwerdeführerinnen haben weiter vorgetragen, dass das Unterscheidungsmerkmal zur besseren Bedienung in einem Fahrzeug führe, bei dem das Display nur eine begrenzte Größe habe und während des Betriebs des Fahrzeugs oft ruckle.
Jedoch ist der Gegenstand von Anspruch 1 nicht auf eine Eingabevorrichtung in einem Kraftfahrzeug begrenzt. Aus diesem Grund kann eine solche Wirkung zumindest nicht über im Wesentlichen die ganze beanspruchte Breite auftreten. Außerdem ist auch keine behauptete Platzersparnis festzustellen, denn auch für die beanspruchte erste Berührung muss genügend Raum "außerhalb eines dargestellten Bedienelementes" vorgesehen werden.
2.7 Weiter haben die Beschwerdeführerinnen geltend gemacht, dass die Erfindung einer an sich bedienneutralen Darstellfunktion eine Funktion zuweist, wenn gleichzeitig eine zweite Berührung erfolgt.
Dieses Argument ist nicht überzeugend, da die Funktion nicht einer "bedienneutralen Darstellfunktion" zugeordnet wird, sondern der beanspruchten Sequenz aus zwei Berührungen, wobei die Position der zweiten Berührung im Anspruch 1 nicht spezifiziert ist.
Dabei spielt sowohl in der beanspruchten als auch in der vorbekannten Eingabevorrichtung die Position der ersten Berührung eine wichtige Rolle, wie oben im Absatz 2.5 ausgeführt.
2.8 Die Kammer kommt insoweit zu dem Ergebnis, dass der beanspruchte Gegenstand und die im Dokument D1 beschriebene Eingabevorrichtung die gleiche Wirkung erzielen: Aufgrund einer bestimmten Reihenfolge von Berührungen der Bedienfläche wird eine Funktion ausgelöst.
2.9 Die zu lösende objektive technische Aufgabe lautet dementsprechend, eine Alternative zu der in der Entgegenhaltung D1 offenbarten Reihenfolge von Berührungen zu entwickeln. Dies entspricht auch der Auffassung der Beschwerdeführerinnen.
2.10 Die Kammer ist der Auffassung, dass der Fachmann unter Anwendung seines Fachwissens auf die beanspruchte Lösung schließen wird, ohne dass er dabei erfinderisch tätig sein müsste. Ausgehend von der Lehre von Dokument D1, dass einer ersten Berührung auf einem Icon, gefolgt von einer zweiten Berührung auf irgendeiner weiteren Position, eine Funktion zugeordnet wird, würde der Fachmann erkennen, dass die erste Berührung nicht unbedingt auf einem Icon stattfinden muss. So offenbart Dokument D1, dass ein Teil des Rahmens (14) vom Fenster (24) die Position für die erste Berührung sein kann, siehe Abbildung 6 und Spalte 2, Zeilen 23 bis 25. Auf der Suche nach alternativen Lösungen würde der Fachmann feststellen, dass eine erste Berührung außerhalb eines Icons zur gleichen Wirkung wie im Abschnitt 2.8 angegeben führen würde. Somit würde er eine solche modifizierte Sequenz von Berührungen vorsehen, die unter den Schutzbereich des Anspruchs 1 fällt.
2.11 Die Beschwerdeführerinnen sind der Auffassung gewesen, dass Dokument D1 auf eine gesonderte Funktion eines Icons bei Doppel-Klick-Bedienung abstelle und es somit von der beanspruchten Lösung wegführe, einer an sich bedienneutralen Darstellfunktion eine Funktion zuzuweisen, wenn gleichzeitig eine zweite Berührung erfolgt.
Dieses Argument ist nicht überzeugend, da Anspruch 1 nicht angibt, welches die spezifische Reaktion auf die Berührungen ist. Dadurch fällt die "gesonderte Funktion eines Icons bei Doppel-Klick-Bedienung" unter den breiten beanspruchten Begriff "optischen Darstellung von weiteren oder anderen Informationen auf dem Display".
2.12 Die Tabellen auf Seite 15 der Beschwerdebegründung und die dazugehörigen Ausführungen vermögen ebenfalls nicht, die Kammer anderweitig zu überzeugen. Sie verdeutlichen zwar, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu ist, was von der Kammer nicht bezweifelt wird. Jedoch haben die Beschwerdeführerinnen insoweit nicht weiter ausgeführt, aus welchen spezifischen Gründen sich hieraus die erfinderische Tätigkeit ergeben sollte.
Die Kammer möchte an dieser Stelle noch anmerken, dass der in den Tabellen angegebene Typ B unter den breiter definierten Typ D fällt.
2.13 Aus den oben genannten Gründen folgt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischer Tätigkeit beruht, Artikel 56 EPÜ.
Hilfsantrag 1
3. Änderungen der Ansprüche, Artikel 123 (2) EPÜ
Die Ansprüche dieses Antrags genügen ohne Weiteres den Anforderungen des Artikels 123(2) EPÜ.
4. Erfinderische Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht aus den gleichen Gründen wie der Hauptantrag nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Die Beschwerdeführerinnen haben dazu noch behauptet, dass die Erfindung es vereinfache, die korrekte Position für die zweite Berührung der Bedienfläche zu treffen, da diese Berührung überall auf der Bedienfläche erfolgen könne. In D1 dagegen müsse die zweite Berührung jedenfalls außerhalb von Bedienelementen erfolgen, wie aus den Abbildungen 1(a) bis 1(c) und Zeile 40 auf der vierten Spalte ersichtlich sei.
Die Kammer ist davon nicht überzeugt. Anspruchsgemäß erfolgt die zweite Berührung auf einer anderen Position als die erste, da der Anwender den Touchscreen nicht zweimal und zur selben Zeit dieselbe Position berühren kann. Dasselbe lehrt Dokument D1: "a different location on the touch panel is tapped" (Spalte 4, Zeilen 39 bis 41).
Hilfsanträge 2 und 3
5. Änderungen der Ansprüche, Artikel 123(2) EPÜ
5.1 Anspruch 1 dieser Anträge bezieht sich auf ein
"Kraftfahrzeug mit einem Armaturenbrett (3) und einem unterhalb des Armaturenbretts (3) angeordnetem Lenkrad (2), wobei das Armaturenbrett (3) eine neben dem Lenkrad (2) angeordnete Eingabevorrichtung (4) zur Bedienung eines Navigationssystems, einer Klimaanlage sowie eines Telefons aufweist".
5.2 Die Beschwerdeführerinnen haben folgende Teile der Anmeldung als Basis für diese Änderung angegeben: Abbildungen 1, 2 und 6 bis 15, Seite 1, Zeile 2, Seite 4, Text zu den Abbildungen 1 und 2 und letzter Absatz, erster Absatz auf Seite 5, Seite 7, Satz in der Mitte. Sie waren insoweit der Auffassung, der Fachmann erkenne aus der Anmeldung, dass ein Kraftfahrzeug wie beansprucht in den ursprünglichen Unterlagen offenbart sei.
Die Kammer folgt dieser Auffassung nicht. Die Anmeldung bezieht sich in den genannten Abschnitten explizit auf "eine Eingabevorrichtung für ein Kraftfahrzeug" und auf ein "Cockpit eines Kraftfahrzeuges". Es ist ohne weiteres erkennbar, dass sich der Gegenstand, für den Schutz begehrt werden könnte, und auch die technische Lehre, die der Fachmann aus der Beschreibung entnimmt, der ursprünglich offenbarten "Eingabevorrichtung für ein Kraftfahrzeug" von dem aktuell beanspruchten "Kraftfahrzeug mit ... Eingabevorrichtung" unterscheidet. Der zunächst beanspruchte und beschriebene Gegenstand verlangt lediglich, dass die Eingabevorrichtung für ein Kraftfahrzeug geeignet sein muss.
Der in Bezug genommene Satz auf Seite 7 Mitte bezieht zudem sich auf eine Ausführungsform (Drücken anstelle von Berühren des Touchscreens), die nicht beansprucht ist.
5.3 Aus diesen Gründen sind die Anforderungen des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfüllt. Die Frage der Zulassung des erst am 19. Dezember 2019 eingereichten Hilfsantrags 4 (jetziger Hilfsantrag 3) in das Verfahren konnte daher letztlich dahinstehen.
6. Da keiner der vorliegenden Anträge gewährbare Ansprüche beinhaltet, bleibt die Beschwerde in dieser Hinsicht ohne Erfolg.
7. Antrag auf Rückzahlung von Jahresgebühren
7.1 Die Prüfungsabteilung hat mit der angefochtenen Entscheidung auch den Antrag der Anmelderin auf Rückzahlung von 7 Jahresgebühren wegen wenigstens 7jähriger Untätigkeit der Abteilung im Prüfungsverfahren als unzulässig verworfen. Dazu hat sie als Begründung ausgeführt, dass die von der Anmelderin zitierten Vorschriften keinerlei Rechtsgrundlage für die Rückzahlung der mit Rechtsgrund gezahlten Jahresgebühren ergäben.
7.2 Der Antrag auf Rückzahlung von 7 Jahresgebühren ist entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung zulässig. Wie die Prüfungsabteilung als solches im Ergebnis zwar zutreffend gesehen hat, ist eine Rechtsgrundlage für einen solchen Antrag nicht gegeben. Dies hindert jedoch nicht die verfahrensrechtliche Zulässigkeit eines solchen Antrags, sondern gegebenenfalls seine Begründetheit.
7.3 Die Beschwerdeführerinnen haben sich zur Begründung dieses Antrags auf die Verletzung von Artikel 1 ,,Schutz des Eigentums" des Zusatzprotokolls der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in Folgenden: EMRK) in Verbindung mit den Travaux préparatoires, Art. 86 D, Ergebnisse der vierten Sitzung der Arbeitsgruppe ,,Patente" vom 8. bis 19. Januar 1962 in Brüssel, VI/215/62-D, gestützt.
7.4 Sie haben ausgeführt, die Erhebung einer Jahresgebühr beruhe nach dem legislatorischen Willen, der sich aus den zitierten Travaux préparatoires ergebe, nicht darauf, die Kosten des Europäischen Patentamts bis zu der Patenterteilung zu decken. Sie diene vielmehr einzig und allein dazu, den Anmelder zu zwingen, zu seiner Anmeldung Stellung zu nehmen. Dies hätten sie, die Beschwerdeführerinnen, jedoch im Prüfungsverfahren stets getan, so dass die Zahlung während der jahrelangen Untätigkeit der Prüfungsabteilung (von Mai 2007 bis Februar 2016) ohne Rechtsgrund erfolgt sei. Damit sei in das Eigentum der Beschwerdeführerinnen eingegriffen worden, ohne dass hierfür ein ggf. rechtfertigendes öffentliches Interesse bestanden hätte. Die EMRK sei im Rahmen des EPÜ unmittelbar anwendbares Recht und letzterem gegenüber vorrangig. Ebenso sei der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelte "Grundsatz der praktischen Anwendbarkeit der gewährten Rechte" anwendbar. Der enteignete Betrag sei daher zu erstatten.
7.5 Dem vermag die Kammer nicht zu folgen. Der mit der Überschrift "Schutz des Eigentums" versehene Artikel 1 Abs.1 des Zusatzprotokolls zur EMRK bestimmt, dass jede natürliche oder juristische Person das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat. Niemandem darf danach sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Rechte aus derartigen übergeordneten Rechtsvorschriften können generell nur insoweit hergeleitet werden, als die einschlägigen gesetzlichen Regelungen ihnen in sinnwidriger Weise entgegenstehen. Absatz 2 dieser Regelung hebt jedoch das Recht des Staates hervor, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums unter bestimmten Interessengesichtspunkten für erforderlich hält.
7.6 Hieraus ergibt sich unter keinem der von den Beschwerdeführerinnen erwähnten Gesichtspunkte eine Rechtsgrundlage für die Rückzahlung der Jahresgebühren.
7.7 Rechte aus derartigen übergeordneten Rechtsvorschriften können generell nur insoweit hergeleitet werden, als die einschlägigen gesetzlichen Regelungen ihnen in sinnwidriger Weise entgegenstehen. Davon kann hier keine Rede sein.
7.8 Die Zahlung der Jahresgebühren beim EPA richtet sich nach Artikel 86 EPÜ. Dass dies die Rechtsgrundlage für die Anforderung von Jahresgebühren ist, haben die Beschwerdeführerinnen auch nicht bestritten. Danach sind für die europäische Patentanmeldung nach Maßgabe der Ausführungsordnung Jahresgebühren an das Europäische Patentamt zu entrichten. Sie werden für das dritte und jedes weitere Jahr, gerechnet vom Anmeldetag an, geschuldet. An eine bestimmte Tätigkeit oder Untätigkeit der beteiligten Personen ist diese Bestimmung nicht gekoppelt, und zwar weder seitens des Anmelders, noch der Prüfungsabteilung. Daher kommt es allgemein für die Fälligkeit von Jahresgebühren auf die Frage, welchen Zeitraum die Prüfungsabteilung bis zur endgültigen Bearbeitung der Anmeldung gebraucht hat, ebenso wenig an wie auf den Zeitraum, die der Anmelder zur Beantwortung von Bescheiden benötigt hat. Das läuft vorliegend darauf hinaus, dass die hier betroffenen Jahresgebühren rechtmäßig entstanden und zu Recht angefordert worden sind. Dies hat die Prüfungsabteilung zutreffend festgestellt.
7.9 Es sind in der Gebührenordnung zwar Rückerstattungsregelungen wie z.B. Artikel 9 bis 11 GebO vorgesehen. Diese sind hier nicht einschlägig, auf sie haben sich die Beschwerdeführerinnen auch nicht berufen. Diese Regelungen zeigen aber, dass der Gesetzgeber des EPÜ 1973 die Möglichkeiten der Rückzahlung von Gebühren gesehen und auch für bestimmte Fälle geregelt hat. Auch im Übrigen erstattet das EPA regelmäßig rechtsgrundlos geleistete Zahlungen aus Billigkeitsgründen von sich aus, wie auch die Beschwerdeführerinnen zutreffend vorgetragen haben.
7.10 Die ursprünglich mit Rechtsgrund angeforderten und gezahlten Jahresgebühren wandeln sich durch eine zögerliche Tätigkeit des Amts im Prüfungsverfahren nicht nachträglich in rechtsgrundlos geleistete um. Derartiges ergibt sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen auch nicht aus den von ihnen in Bezug genommenen Dokumenten der Travaux préparatoires. Den zitierten Protokollstellen lässt sich zwar im Sinne des Vortrags der Beschwerdeführerinnen entnehmen, dass der Präsident der Arbeitsgruppe Patentrecht im Jahr 1962 der Auffassung war, dass die Jahresgebühren nicht der Finanzierung des EPA während der Prüfungsphase dienten, sondern den Anmelder zur Reaktion auf Beanstandungen des EPA zwingen sollten.
Auf diesem Hintergrund lässt sich jedoch kein Rückzahlungsanspruch aus einem Eingriff in das Eigentum konstruieren. Die zitierten Hintergrundgespräche aus dem Jahr 1962 - 11 Jahre vor dem Inkrafttreten des EPÜ 1973 - mögen zwar so stattgefunden haben, zeigen aber keineswegs, dass der dort genannte Grund der einzige für das Vorsehen von Jahresgebühren war, und ebenso auch nicht, dass bei Verzögerungen im Verfahren vor dem EPA trotz stets rechtzeitiger Reaktionen des Anmelders Gebühren zu erstatten wären.
7.11 Tatsächlich soll zum einen durch die Entrichtung von Jahresgebühren sichergestellt werden, dass nur die wirtschaftlich wertvollen Anmeldungen (und Patente) am Leben gehalten werden. Durch die regelmäßige Zahlung zeigt der Anmelder dem EPA und der Öffentlichkeit, dass er noch immer an der Anmeldung interessiert ist. Weiterhin dient die Jahresgebühr zusammen mit weiteren nach dem EPÜ vorgesehenen Gebühren der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs, der bei der Unterhaltung einer Behörde wie des EPA, das Monopolrechte erteilt und aufrechterhält, zwangsläufig entsteht. Dass dies dem gesetzgeberischen Willen entsprach, zeigt sich auch darin, dass die Jahresgebühr - anders als z. B. die Prüfungsgebühr - abgesehen von der reinen Aktenverwaltung als solcher gerade unabhängig von einer bestimmten Tätigkeit des Amts fällig wird
(Singer / Stauder - Preller, EPÜ, 8. Aufl. 2019, Art.2 GebO, Rn. 134, 163).
7.12 Eine Enteignung kann darin nicht gesehen werden. Eine solche setzt einen rechtswidrigen Eingriff voraus. Die Gebührenanforderung war jedoch, wie bereits ausgeführt, nach den bestehenden Normen rechtmäßig.
7.13 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen ergibt sich auch aus den beiden Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts G 1/05 vom 7. Dezember 2006 und G 2/08 vom 15. Juni 2009 nichts Gegenteiliges. In beiden Entscheidungen wird zwar Artikel 6 EMRK zitiert. Diese Vorschrift befasst sich aber mit der Gewährleistung von zwingenden Verfahrensgrundrechten wie etwa dem Grundsatz der Gleichbehandlung und des Rechts der Beteiligten auf ein faires Verfahren. Daraus lässt sich für die vorliegende Fragestellung nichts Weiterführendes entnehmen.
7.14 Daher ist die Beschwerde auch in diesem Punkt unbegründet.
8. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Gemäß Regel 103(1)a) EPÜ kommt eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr nur in Betracht, wenn sie wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers der Billigkeit entspricht und der Beschwerde stattgegeben wird. Da letzteres nicht der Fall ist, ist die Rückzahlung der Beschwerdegebühr schon aus diesem Grund nicht anzuordnen.
9. Vorlage an die Grosse Beschwerdekammer
9.1 Eine Beschwerdekammer kann die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112(1)a) EPÜ befassen, wenn eine Rechtsfrage fallentscheidend ist, deren Beantwortung nach Auffassung der Kammer für eine einheitliche Rechtsanwendung oder wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung erforderlich ist.
9.2 Abgesehen davon, dass die Beschwerdeführerinnen keine konkrete Rechtsfrage formuliert haben, die nach ihrer Auffassung vorzulegen wäre, sieht die Kammer für eine Vorlage auch von Amts wegen keine Veranlassung. Die Kammer vermag nicht zu erkennen, dass sich vorliegend eine Rechtsfrage von "übergeordneter Bedeutung" stellt, die - nach Auffassung der Beschwerdeführerinnen - zudem eine Vielzahl von Fällen betreffen sollte. In diesem Sinne ist eine uneinheitliche Rechtsprechung der Beschwerdekammern betreffend die Rückzahlung von Jahresgebühren nicht feststellbar. Derartiges haben auch die Beschwerdeführerinnen selbst nicht behauptet.
9.3 Soweit die Beschwerdeführerinnen weiter eine "komplizierte Rechtslage" gesehen haben, ergibt sich daraus ebenfalls keine Vorlagepflicht der Kammer. Diese hat die Rechtslage selbständig zu klären und hat dies auch getan. Die Feststellung der Tatsache, dass es für das vorliegende Rückzahlungsbegehren betreffend die Jahresgebühren keine Rechtsgrundlage gibt, hat für die Kammer keine vorzulegende Rechtsfrage aufgeworfen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Rückzahlung von Jahresgebühren wird zurückgewiesen.
3. Der Antrag, die Frage der Rückzahlung der Jahresgebühren der Grossen Beschwerdekammer vorzulegen, wird zurückgewiesen.
4. Die Beschwerdegebühr wird nicht erstattet.