T 0005/20 16-11-2022
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SCHACHTKRAFTWERK
Änderungen - zulässig (ja)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 464 858 nach Artikel 101(2) EPÜ zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass keiner der erhobenen Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.
In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgenden Entgegenhaltungen zitiert:
V2 technische Zeichnung Umbau auf DIVE, Rupboden,
21. Februar 2008
V3 technische Zeichnung Lageplan Turbinenanlage
vor dem Umbau, Rupboden,
E3 FR 1 165 735 A
E4 DE 974 132 C
E5 CH 47 633 A
E6 CH 47 505 A
E7 CH 47 618 A
E8 CH 44 944 A
E9 CH 53 903 A
E11 FR 1 028 681 A
III. Die Beschwerdeführerin Einsprechende beantragte schriftlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
IV. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen (Aufrechterhaltung auf Basis des erteilten Patents), sowie hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis der Hilfsanträge 1 bis 6, vorgelegt mit der Beschwerde-erwiderung vom 18. Juni 2020.
V. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit. Die mündliche Verhandlung fand statt am 16. November 2022 in Abwesenheit der Beschwerdeführerin Einsprechenden, die am 15. November 2022 mitgeteilt hatte, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde. Dabei hatte sie zur Mitteilung der Kammer nicht Stellung genommen.
VI. Die unabhängigen Ansprüche des für diese Entscheidung relevanten Hauptantrags (erteilte Fassung) haben den folgenden Wortlaut:
"1. Schachtkraftwerk (1) zur Stromerzeugung durch Energieumwandlung eines Abflusses zwischen Oberwasser (2) und Unterwasser (6), umfassend
- einen vertikalen Schacht (7), dessen Sehachtkrone (10) eine sohlparallele Einlaufebene (11) bildet, welche unterhalb des Wasserstandes (3) des Oberwassers verläuft, wobei der Schacht (7) nach oben offen ist und an seinem unteren Ende mit einem Boden (9) verschlossen ist,
- eine Einheit (15) aus einer Turbine (16) und einer elektrischen Maschine (17), wobei die Einheit (15) komplett unter Wasser im Schacht (7) angeordnet ist, und wobei die Turbine (16) zum vertikalen Wasserdurchlauf angeordnet ist,
- einen an die Turbine (16) angeschlossenen Ablauf (24), welcher einen geschlossenen Strömungskanal darstellt und durch einen Durchlass (28) im Schacht (7) zum Unterwasser (6) führt, und
- ein Staubauwerk (30) zwischen Oberwasser (2) und Unterwasser (6),
- wobei in einer horizontalen Ebene eines Turbinenlaufrades (19) der Turbine (16) eine erste Querschnittsfläche des Schachts (7) wesentlich größer ist als eine durch das Turbinenlaufrad (19) beanspruchte, zweite Querschnittsfläche,
- dadurch gekennzeichnet, dass in dem Staubauwerk (30) öder auf einer Seitenwand (8) des vertikalen Schachtes (7) zumindest eine permanent überströmte Klappe (23) angeordnet ist."
"15. Schachtkraftwerksmodul zur Stromerzeugung durch Energieumwandlung eines Abflusses zwischen Oberwasser (2) und Unterwasser (6), umfassend
- ein vertikales Sehachtmodul (7), dessen Schachtkrone (10) eine sohlparallele Einlaufebene (11) bildet, welche dazu ausgebildet ist, um unterhalb des Wasserstands (3) des Oberwassers zu verlaufen, wobei das Schachtmodul (7) nach oben offen ist und an seinem unteren Ende mit einem Boden (9) verschlossen ist,
- ein Einheitenmodul (15) aus einer Turbine (16) und einer elektrischen Maschine (17), wobei das Einheitenmodul (15) zur Anordnung komplett unter Wasser im Sehachtmodul (7) ausgebildet ist, und wobei die Turbine (16) zur Anordnung mit vertikalem Wasserdurchlauf ausgebildet ist, und
- ein an die Turbine (16) anzuschließendes Ablaufmodul (24), welches einen geschlossenen Strömungskanal darstellt und dazu ausgebildet ist, um durch einen Durchlass (28) im Schachtmodul (7) zum Unterwasser (6) zu führen,
- wobei das Schachtkraftwerksmodul zum Anbau an ein Staubauwerk (30) zwischen Oberwasser (2) und Unterwasser (6) ausgebildet ist, und
- wobei in einer horizontalen Ebene eines Turbinenlaufrades (19) der Turbine (16) eine erste Querschnittsfläche des Schachtmoduls (7) wesentlich größer ist als eine durch das Turbinenlaufrad (19) beanspruchte, zweite Querschnittsfläche,
- dadurch gekennzeichnet, dass in dem Staubauwerk (30) oder auf einer Seitenwand (8) des vertikalen Schachtes (7) zumindest eine permanent überströmte Klappe (23) angeordnet ist."
VII. Die Beschwerdeführerin Einsprechende hat in ihrer Beschwerdebegründung zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Die Änderungen in den Ansprüchen 1 und 15 gingen über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 15 sei nicht neu gegenüber der in den technischen Zeichnungen V2 und V3 dargestellten Vorbenutzung "Rupboden". Zudem sei er nicht neu gegenüber jedem der Dokumente E3 und E11. Außerdem werde der Gegenstand der Ansprüche 1 und 15 ausgehend von der Vorbenutzung "Rupboden" oder von einem der Dokumente E3 oder E11 in Kombination mit einem der Dokumente E4-E9 nahegelegt.
VIII. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Die Änderungen in den Ansprüchen 1 und 15 gingen nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 15 sei neu und beruhe gegenüber dem angezogenen Stand der Technik auf erfinderischer Tätigkeit.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft ein Schachtkraftwerk 1 mit einem Staubauwerk 30 und einem vertikalen Schacht 7, siehe die Figur 1 der Patentschrift. Die Schachtkrone 10 des nach oben offenen Schachts bildet eine sohlparallele Einlaufebene. In einer horizontalen Ebene des Turbinen-laufrades 19 ist eine Querschnittsfläche des Schachtes wesentlich größer als die durch das Turbinenlaufrad beanspruchte Querschnittsfläche. Zudem ist in dem Staubauwerk 30 oder auf einer Seitenwand 8 des vertikalen Schachts eine permanent überströmte Klappe 23 angeordnet. Durch eine Oberflächenabströmung des Wassers über die Klappe entwickelt sich eine oberflächennahe Fliesslamelle, die Jungfische schadlos über das Kraftwerk hinwegführt, siehe Absatz 0038 der Patentschrift. Zudem erlaubt das beanspruchte Verhältnis der Querschnittsflächen des Schachts eine kostengünstige Schachtgeometrie, siehe Absatz 0055 der Patentschrift.
Ein Schachtkraftwerksmodul wird ebenfalls beansprucht.
3. Änderungen
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Befund der angegriffenen Entscheidung zur Zulässigkeit von Änderungen in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 15.
3.1 In ihrer Mitteilung, Abschnitte 2.1 bis 2.3, hat die Kammer zu den Änderungen die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"2.1. Im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ scheint Anspruch 1 des Hauptantrags auf einer Kombination der Ansprüche 1, 9 und 11 der veröffentlichten Anmeldung mit Merkmalen von Seite 22 zu beruhen.
2.2 Die Beschwerdeführerin Einsprechende erhebt den Einwand einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung gegen das aus der Beschreibung aufgenommene Merkmal "[permanent überströmte Klappe] auf einer Seitenwand des vertikalen Schachtes", da es im ersten Absatz auf Seite 22 nur im Zusammenhang mit einem Versatz nach unten und in Ausgestaltung als Drehklappe offenbart sei.
Die Kammer fragt sich, ob eine permanent überströmte Klappe nicht per se gegenüber dem Oberwasserstand nach unten versetzt ist. Zudem scheint im dritten Absatz auf Seite 22 auch eine um ihre Mitte schwenkbar gelagerte Klappe mit einem Versatz nach unten offenbart zu sein. Der Fachmann scheint den beiden Stellen auf Seite 22 zu entnehmen, dass es nicht auf die Ausgestaltung als Drehklappe oder Schwenkklappe ankommt, so dass Anspruch 1 die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfüllen würde.
2.3 Diese Argumentation gilt analog für die Änderungen im unabhängigen Anspruch 15."
3.2 Die Beschwerdeführerin hat dazu in ihrem Schreiben vom 15. November 2022 nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Somit bestätigt die Kammer den Befund der angefochtenen Entscheidung zu den Änderungen, wonach der Hauptantrag den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ genügt.
4. Neuheit
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Befund der angegriffenen Entscheidung, wonach der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 15 neu gegenüber der Vorbenutzung "Rupboden" sowie der Offenbarung jedes der Dokumente E3 und E11 sei.
4.1 In ihrer Mitteilung, Abschnitte 3.1 und 3.2, hat die Kammer zur Neuheit die folgende vorläufige Meinung geäußert:
3.1 Bei der Vorbenutzung "Rupboden" (Dokumente V2 und V3) besitzt der Schacht an seinem oberen Ende eine Betondecke mit einer Revisionsöffnung, siehe die linke mittlere Figur in V3. Im Hinblick auf Merkmal c) ("Schacht nach oben offen") wäre der Schacht bei offener Revisionsöffnung offen, da ein komplett offener Schacht erst von Anspruch 4 verlangt wird. Im Hinblick auf Merkmal h) fragt sich die Kammer, ob der Begriff "permanent überströmt" - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - überhaupt ein strukturelles Merkmal des Schachtkraftwerks darstellt, oder lediglich dessen mögliche Verwendung betrifft. In letzterem Fall müsste die beanspruchte Klappe nur zur Überströmung geeignet sein. Das scheint bei der Spülklappe gemäß V3 (Figuren oben und unten links) der Fall zu sein, da sie um ihre Unterkante verschwenkt wird, siehe die rechte mittlere Figur, so dass bei offener Klappe das Wasser über die Oberkante der Klappe strömen kann.
Dagegen fragt sich die Kammer bezüglich Merkmal b) ("Schachtkrone eine sohlparallele Einlaufebene bildet"), ob "Schachtkrone" bei einem normalem Sprach-verständnis des Begriffs "Krone" das obere Ende des Schachts betrifft. Dieses Ende befindet sich bei der Vorbenutzung "Rupboden" oberhalb des Oberwassers im Bereich der Betondecke, so dass die Schachtkrone keine Einlaufebene bilden würde.
3.2 Im Hinblick auf die Dokumente E3 und E11 ist die Kammer nicht von dem Argument der Beschwerdeführerin überzeugt, dass die jeweiligen Wehre nach oben geöffnet werden und folglich zur Überströmung geeignet seien. Die angegriffene Entscheidung gelangt nämlich zu dem Ergebnis, dass die Klappen 21 bzw. 2 an ihrer Unterkante unterströmt, und folglich nicht im Sinne des Merkmals h) überströmt werden. Außerdem scheint in diesen Dokumenten die Querschnittsfläche des Schachtes in der Ebene des Turbinenlaufrades im wesentlichen gleich der vom Turbinenrad beanspruchten Querschnittsfläche zu sein, siehe jeweils die Figur 1 der Dokumente, so dass Merkmal g) nicht offenbart wäre."
4.2 Die Beschwerdeführerin hat dazu in ihrem Schreiben vom 15. November 2022 nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Somit bestätigt die Kammer den Befund der angefochtenen Entscheidung zur Neuheit, wonach die unabhängigen Ansprüche 1 und 15 des Hauptantrags neu gegenüber der Vorbenutzung "Rupboden" und jedem der Dokumente E3 und E11 sind.
5. Erfinderische Tätigkeit
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Befund der angegriffenen Entscheidung, wonach der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 15 ausgehend von der Vorbenutzung "Rupboden" oder einem der Dokumente E3 oder E11 auf erfindersicher Tätigkeit beruhe.
5.1 In ihrer Mitteilung, Abschnitte 4.1 bis 4.3, hat die Kammer zur erfinderischen Tätigkeit die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"4.1 Die Kammer fragt sich, ob die Dokumente E3 oder E11 wegen deren unterschiedlichem Grundprinzip - also einer unterströmten statt einer überströmten Klappe - einen aussichtsreichen Ausgangspunkt darstellen. Dessen ungeachtet scheint auch das damit kombinierte Dokument E4 nicht das Merkmal g) zu offenbaren, so dass selbst eine Kombination nicht alle Merkmale von Anspruch 1 des Hauptantrags offenbaren würde.
4.2 Für die Vorbenutzung "Rupboden" als Ausgangspunkt scheint die Aufgabenformulierung der Beschwerdeführerin ("einen Teil des Wassers nicht durch die Turbine zu führen") auf unzulässige Weise Lösungsbestandteile zu enthalten. Die Kammer sieht stattdessen die objektive technische Aufgabe darin, eine alternative Ausgestaltung des Kraftwerks zu finden. Im Hinblick auf die Lösung scheint ein Fachmann die E4 nur bei einer unzulässigen rückschauenden Betrachtungsweise heranzuziehen. Das Kraftwerk "Rupboden" besitzt nämlich eine senkrechte Turbinenachse und ist bei Betrieb nicht überflutet, siehe den Menschen oberhalb des Oberwassers, zwischen dem Rechenreiniger und dem Schachtschütz in der mittleren linken Figur der V3. Dagegen offenbart E4 ein (überflutetes) Unterwasserkraftwerk mit waagerechter Turbinenachse, siehe Seite 2, Zeilen 25 und 26 sowie Seite 4, Zeilen 81 und 82. Zudem fragt sich die Kammer, wo der Fachmann bei der Vorbenutzung "Rupboden" die überflutbaren Stauklappen 3 der E4 überhaupt anordnen sollte.
4.3 Im Hinblick auf die Kombinationsdokumente E5-E9 merkt die Kammer an, dass sie die Prüfung der Beschwerde nur im Rahmen des vollständigen Vortrags der Parteien durchführt, siehe hierzu die Rechtsprechung der Beschwerdekammer, 9 Auflage 2019, V.A.2.6.4 a)."
5.2 Die Beschwerdeführerin hat dazu in ihrem Schreiben vom 15. November 2022 nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Folglich beruht der Gegenstand von Anspruch 1 und 15 des Hauptantrags auf erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem angezogenen Stand der Technik.
6. Die Kammer bestätigt aus den obengenannten Gründen die Befunde der angegriffenen Entscheidung zur Zulässigkeit der Änderungen, zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit für das Patent in der erteilten Fassung. Sonst wurden die Befunde der Entscheidung nicht in Frage gestellt. Die Beschwerde bleibt somit ohne Erfolg.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.