T 0162/20 03-05-2023
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VERFAHREN ZUR HERSTELLUNG VON CHLORARMEN POLYBIPHENYLSULFON-POLYMEREN
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (nein)
Spät eingereichter Einwand - zugelassen (nein)
Neuheit - (Hauptantrag: ja)
Erfinderische Tätigkeit - (Hauptantrag: ja)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der Aufrechterhaltung des Europäischen Patents Nr. 2 414 430 in geänderter Fassung auf Grundlage der Ansprüche 1 bis 13 des Hauptantrags, welche mit Schriftsatz vom 21. November 2018 eingereichten wurden, und einer angepassten Beschreibung.
II. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem folgende Dokumente herangezogen:
D1: EP-A-0 336 159
D3: EP-A-0 332 012
D4: JP 3 095 220
D4MT: automatisierte englische Übersetzung von D4
D4HT: menschliche englische Übersetzung von den
Beispielen 1 bis 5 von D4
D6: JP 4-202431
D6T: englische Übersetzung von D6
D7: EP-A-0 106 023
D10: Beispiel 10, eingereicht während des
Prüfungsverfahrens mit Eingabe vom
22. November 2010
D11: Versuchsbericht (Beispiele V7 bis V12, 13 und
V14), erstmals eingereicht während des
Prüfungsverfahrens mit Eingabe vom
21. März 2017
D12: Versuchsbericht (Beispiele 15 und V16),
eingereicht mit der Erwiderung zur
Einspruchsschrift mit Eingabe vom
21. November 2018
D13: Tabellen 1 und 2: Zusammenfassung der
Beispiele des Streitpatents und D10 bis D12
III. In der angefochtenen Entscheidung wurden unter anderem folgende Schlussfolgerungen in Bezug auf dem Hauptantrag gezogen:
- Die Erfindung sei ausreichend offenbart (Artikel 100 b) EPÜ).
- Der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 13 sei neu gegenüber unter anderem D4 (in Anbetracht der Offenbarung von D4MT und D4HT). Die anderen Neuheitseinwände, unter anderem gegenüber D6, seien ferner ebenfalls zurückgewiesen.
- Die erfinderische Tätigkeit betreffend sei der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags ausgehend von entweder D4, D6 oder D7 als nächstliegendem Stand der Technik erfinderisch, wobei D7 kein geeigneter nächstliegender Stand der Technik sei.
Somit wurde entschieden, dass das Patent in geänderter Fassung auf Grundlage des Hauptantrags den Erfordernissen des EPÜ genüge.
IV. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) erhob Beschwerde gegen diese Entscheidung und reichte mit ihrer Beschwerdebegründung folgende Dokumente ein:
D4T: menschliche englische Übersetzung von D4
D14: Versuchsbericht: Nachbearbeitung des
Beispiels 5 von D4
V. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) reichte mit ihrer Beschwerdeerwiderung folgendes Dokument ein:
D15: Figur: Heizkurve eines 500-Liter-Reaktors
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung mit. Diesbezüglich wurde unter anderem angegeben, dass die Argumente der Beschwerdeführerin keinen Grund dafür zu geben scheinen, die Entscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der ausreichenden Offenbarung aufzuheben (Bescheid der Kammer: Abschnitt 6).
VII. Mit Schriftsatz vom 3. April 2023 reichte die Beschwerdegegnerin fünf weitere Anspruchssätze als Hauptantrag a) und Hilfsanträge 1a) bis 4a) ein.
VIII. Während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, die am 3. Mai 2023 in Anwesenheit beider Parteien und als Videokonferenz stattfand, nahm die Beschwerdeführerin ihre Einwände bezüglich der mangelnden ausreichenden Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) zurück (Protokoll: Seite 2, dritter Absatz).
IX. Die Schlussanträge der Parteien lauteten wie folgt:
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage eines des mit Schreiben vom 21. November 2018 eingereichten 1. bis 4. Hilfsantrags oder auf der Grundlage eines mit Schreiben vom 3. April 2023 eingereichten Hauptantrags a) oder eines der mit selbem Schreiben eingereichten Hilfsanträge 1a) bis 4a).
X. Die Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags lauteten wie folgt:
"1. Verfahren zur Herstellung von Polybiphenylsulfon-Polymeren umfassend gemäß Schritt (a) die Umsetzung der Komponente (a1) bestehend aus mindestens einer aromatischen Dihydroxyverbindung und (a2) 4,4'-Dichlordiphenylsulfon, wobei die Komponente (a1) 4,4'-Dihydroxybiphenyl umfasst und die Umsetzung mit einem molaren Überschuss der Komponente (a1) in einem Lösungsmittel umfassend N-Methylpyrrolidon durchgeführt wird, und wobei das molare Verhältnis der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05 beträgt und der Umsatz (U) mindestens 95% beträgt, wobei Komponente (a1) mindestens 80 Gew.-% 4,4'-Dihydroxybiphenyl enthält und
wobei in Anschluss an Schritt (a) gemäß Schritt (b) eine Umsetzung mit mindestens einem Alkylchlorid erfolgt."
"8. Polybiphenylsulfon-Polymere erhältlich gemäß den Ansprüchen 1 bis 7."
Die Ansprüche 2 bis 7 des Hauptantrags waren abhängig vom Anspruch 1. Die anderen Ansprüche des Hauptantrags und die weiteren geltenden Anträge sind für die vorliegende Entscheidung nicht relevant.
XI. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Zusammenfassend trug die Beschwerdeführerin folgendes vor:
a) D14 sei ins Verfahren zuzulassen.
b) Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags sei gegenüber D4 nicht neu.
c) Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags sei ausgehend von D1, D3, D4, D6 und D7 nicht erfinderisch.
XII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Zusammenfassend brachte die Beschwerdegegnerin folgendes vor:
a) D14 sein ins Verfahren nicht zuzulassen.
b) Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags sei gegenüber D4 neu.
c) Weder D6 noch D7 würden einen geeigneten nächstliegenden Stand der Technik darstellen.
d) Die Einwände der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D1 oder D3 seien ins Verfahren nicht zuzulassen.
e) Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags sei ausgehend sowohl von D4 als auch von D6 erfinderisch.
Hauptantrag
1. Der geltende Hauptantrag entspricht dem in der angefochtenen Entscheidung behandelten Hauptantrag. Im Beschwerdeverfahren bestritt die Beschwerdeführerin die von der Einspruchsabteilung erreichten Schlussfolgerungen bezüglich der Neuheit dieses Hauptantrags gegenüber D4 und der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von entweder D1, D3, D4, D6 oder D7 als nächstliegendem Stand der Technik.
2. Zulassung von D14 und D15
2.1 Die Beschwerdegegnerin beantragte, das Dokument D14 nicht in das Verfahren zuzulassen.
2.1.1 Da das Dokument D14 erstmals zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurde, ist dessen Zulassung ins Verfahren nach Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020 zu prüfen und unterliegt somit dem Ermessen der Kammer (Artikel 114 (2) EPÜ). Diesbezüglich lässt insbesondere die Kammer nach Artikel 12 (6) VOBK 2020 Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären, nicht zu, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
2.1.2 Die Beschwerdeführerin hat nicht begründet, warum D14 nicht bereits im Einspruchsverfahren eingereicht wurde.
2.1.3 Die Kammer kann auch keinen triftigen Grund erkennen, warum dies nicht geschehen ist. D14 enthält neue experimentelle Daten bezüglich der Nacharbeitung des Beispiels 5 der D4. Da D4 von der Beschwerdeführerin selbst bereits in der Einspruchsschrift, insbesondere in Bezug auf die Neuheit (Seite 14 der Einspruchsschrift, wobei Beispiel 5 der D4 angesprochen wird) herangezogen wurde, hätte D14 früher eingereicht werden können, wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht (Beschwerdeerwiderung: Seite 4, Abschnitt II.2, letzte zwei Absätze; während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer trug ferner die Beschwerdegegnerin, dass D14 im Einspruchsverfahren eingereicht hätten werden müssen). Ferner wurden von der Beschwerdegegnerin bereits mit der Erwiderung zur Einspruchsschrift experimentelle Daten bezüglich unter Anderem der Nacharbeitung des Beispiels 5 der D4 eingereicht (siehe D11 bis D13 und Abschnitt 1.2 auf Seite 4 des Schriftsatzes der Patentinhaberin vom 21. November 2018, wobei die Daten von D11 sogar bereits im Prüfungsverfahren von der Beschwerdegegnerin eingereicht wurden). Es ist ferner anzumerken, dass die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Meinung - welche eine geraume Zeit (ca. sieben Monate) vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zugesendet wurde - angegeben hatte, dass die Neuheit des jetzt geltenden Hauptantrags insbesondere gegenüber D4 anzuerkennen sei (vorläufige Meinung vom 22. Februar 2019: Seite 7, Punkt 5.3). D14 wäre damit bereits im Einspruchsverfahren, spätestens vor dem von der Einspruchsabteilung festgesetzten Zeitpunkt (24. Juli 2019) vorzubringen gewesen. Spätere Entwicklungen im Verfahren sind auch nicht ersichtlich, die eine Berücksichtigung von D14 rechtfertigen könnten.
2.1.4 In Anbetracht der obigen Ausführungen erachtete es die Kammer für angebracht, in Ausübung ihrer Befugnis nach Artikel 12 (6) VOBK 2020, das Dokument D14 nicht in das Verfahren zuzulassen.
2.2 Das Dokument D15 wurde von der Beschwerdegegnerin zusammen mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht. Es ist aus der Argumentationslinie der Beschwerdegegnerin ersichtlich, dass D15 in Reaktion auf das Einreichen von D14 und auf diesbezüglich vorgebrachte Argumente der Beschwerdeführerin eingereicht wurde (Beschwerdeerwiderung: Seite 6, zweiter Absatz bis Seite 8, erster Absatz). Da D14 nicht zugelassen wurde, hielt die Kammer es für angemessen, in Ausübung ihres Ermessen nach Artikel 12 (4) VOBK 2020, auch D15 nicht ins Verfahren zuzulassen.
3. Artikel 54 EPÜ
3.1.1 Die Neuheitseinwände der Beschwerdeführerin betreffen insbesondere die Neuheit der unabhängigen Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags gegenüber D4, insbesondere dessen Beispiel 5 (Beschwerdebegründung: Abschnitte 5.1 bis 5.3). Diese Ansprüche sind auf folgende Gegenstände gerichtet:
- Anspruch 1: Verfahren zur Herstellung von Polybiphenylsulfon-Polymeren;
- Anspruch 8: product-by-process Anspruch, gerichtet auf Polybiphenylsulfon-Polymere "erhältlich gemäß den Ansprüchen 1 bis 7".
Bevor diese Einwände behandelt werden, ist es zunächst erforderlich, die zwischen den Parteien strittige Frage der Auslegung des geltenden Anspruchs 1 des Hauptantrags zu klären.
3.2 Auslegung des Anspruchs 1
3.2.1 Wie bereits während des Einspruchsverfahrens waren die Parteien sich auch im Beschwerdeverfahren nicht einig, wie das Merkmal des Anspruchs 1 des Hauptantrags "und der Umsatz (U) mindestens 95% beträgt" auszulegen ist (angefochtene Entscheidung: Abschnitt 3.2).
3.2.2 In diesem Zusammenhang sind gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen auszuschließen. Eine fachgerechte Auslegung hat also so zu erfolgen, dass der Fachmann durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs gelangt, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage, 2022, II.A.6.1). Es kommt demnach immer auf die Sicht des fachkundigen Lesers bzw. der Fachperson an. Es ist also nicht die Absicht des Verfassers eines Anspruchs maßgeblich, sondern vielmehr die in einschlägigen Fachkreisen allgemein anerkannte Bedeutung der in diesem Anspruch definierten technischen Merkmale (Rechtsprechung, supra, II.E.2.3.3 bei der Frage des Schutzbereichs,
was nach Ansicht der Kammer aber genauso bei der
Auslegung des Schutzgegenstands gilt).
3.2.3 Diesbezüglich stimmt die Kammer mit der Einspruchsabteilung überein, dass der Umsatz einer chemischen Reaktion ein dem Fachmann auf dem Gebiet der Polymerreaktionen vertrautes Verfahrensmerkmal darstellt (Begründung: Abschnitt 3.2, erster Satz). Der Fachmann versteht den Begriff des Umsatzes in dem Kontext des Patents also in fachgerechter Weise so, dass damit die Bezeichnung für den Quotienten aus der im Laufe einer chemischen Umsetzung/Reaktion tatsächlich reagierten Substanzmenge eines Stoffes zu der eingesetzten Substanzmenge derselben Komponente gemeint ist.
Die Kammer berücksichtigt in dem Zusammenhang auch den folgenden Wortlaut des Anspruchs 1 des Hauptantrags:
- das beanspruchte Verfahren "umfasst gemäß Schritt (a) die Umsetzung der Komponente (a1) ... und (a2) ... ";
- wobei "die Umsetzung mit einem molaren Überschuss der Komponente (a1) ..." und wobei "das molare Verhältnis der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05 beträgt";
- "und der Umsatz (U) mindestens 95% beträgt";
- "wobei in Anschluss an Schritt (a) gemäß Schritt (b) eine Umsetzung mit mindestens einem Alkylchlorid erfolgt".
Aufgrund des oben dargestellten Verständnisses des Fachmanns zum Begriff "Umsatz" und des oben angegebenen Wortlauts des Anspruchs teilt die Kammer die Meinung der Einspruchsabteilung, dass der Schritt (a) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags "in einem Fortgang bis zu einem Umsatz von mindestens 95 % durchgeführt werden muss (eben in einem "Schritt"), d. h. ohne Unterbrechung und spätere Fortsetzung der Reaktion". Insbesondere stimmt die Kammer der Einspruchsabteilung darin zu, dass der so definierte Schritt (a) des Anspruchs 1 mit einem Abbruch der Reaktion nach einer gewissen Vorpolymerisation, gefolgt von einer Filtration vorhandener Salze und anschließender Wiederaufnahme der Polymerisation - wie beispielsweise in der D4 beschrieben (siehe Abschnitt 3.3.1 unten) - nicht kompatibel ist.
3.2.4 Nach Meinung der Kammer kann die oben angegebene Schlussfolgerung bereits allein aufgrund des Wortlauts des Anspruchs 1 gezogen werden. Somit bedarf es im vorliegenden Fall keiner Heranziehung der Beschreibung, um den Anspruch auszulegen (Rechtsprechung, supra, II.A.6.3.1; siehe auch den Verweis auf die Beschreibung auf Seite 6, unten und Seite 7, unten, der angefochtenen Entscheidung). Selbst wenn die Fachperson die Beschreibung des Patents heranziehen würde, wurde nicht gezeigt, dass die Beschreibung im vorliegenden Fall einen Grund geben würde, die aufgrund des Wortlauts des Anspruchs 1 vorgenommene Auslegung des Anspruchs zu ändern.
3.2.5 Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass allein die Wahl des Lösemittels, nämlich N-Methylpyrrolidon, der Monomeren, sowie das molare Verhältnis (a1)/(a2) für den Umsatz von mindestens 95 % verantwortlich sei. Somit sei der "Umsatz von mindestens 95 %" kein einschränkendes Merkmals des Anspruchs 1 (Beschwerdebegründung: Seite 7, vierter Absatz).
Diesbezüglich ist zunächst anzumerken, dass die Schlussfolgerung der Beschwerdeführerin nicht durch Nachweise belegt ist. Darüber hinaus ist im Lichte des Absatzes 13 des Streitpatents (und aus dem allgemeinen Fachwissen) davon auszugehen, dass die Umsetzung der Komponenten (a1) und (a2) zu einem Polybiphenylsulfon-Polymer von der verwendeten Temperatur und Zeitdauer abhängt. Daher wird das Argument, der Umsatz von mindestens 95 % im Rahmen des Anspruchs 1 sei nicht einschränkend, zurückgewiesen.
3.3 Neuheit gegenüber D4
3.3.1 Der Einwand der angeblichen fehlenden Neuheit betrifft das Beispiel 5 der D4 (D4T: Seite 5, Zeile 29 bis Seite 6, Zeile 13; Tabelle 1). Dieses Beispiel 5 offenbart ein Verfahren zur Herstellung von Polyethersulfonen, wobei in einem ersten Schritt 4,4'-Dichlordiphenylsulfon (gemäß Komponente (a2) des Anspruchs 1 des Hauptantrags) und 4,4'-Dihydroxybiphenyl (welches der Verbindung, die in einer Menge von mindestens 80 Gew.% der Komponente (a1) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags eingesetzt werden muss, entspricht) in N-Methylpyrrolidon in Gegenwart von Kaliumcarbonat für eine Stunde bei 180 °C polymerisiert wird. Dann wird in einem zweiten Schritt die Polymerisationslösung filtriert, um anorganische Salze abzutrennen. Nachfolgend wird in einem dritten Schritt eine geringe Menge Kaliumcarbonat zugesetzt und anschließend für drei Stunden bei 180 °C polymerisiert. In einem vierten Schritt erfolgt eine Umsetzung mit Chlormethan (gemäß Schritt (b) von Anspruch 1 des Hauptantrags).
Anspruch 1 des Hauptantrags (Verfahren)
3.3.2 a) In Anbetracht der in Abschnitt 3.2 gemachten Feststellungen schließt Anspruch 1 des Hauptantrags eine zweistufige Polykondensation, die durch einen Filtrationsschritt zur Abtrennung von Kaliumchlorid unterbrochen wird - d. h. ein Verfahren gemäß D4, insbesondere dessen Beispiel 5, wie in Abschnitt 3.3.1 oben beschrieben - aus.
b) Die Beschwerdeführerin brachte schriftlich vor, aus D4 sei zu entnehmen, dass der Umsatz nach dem ersten Schritt des Verfahrens gemäß D4 implizit mindestens 95% betrage (Beschwerdebegründung: Abschnitt 5.1.1; siehe insbesondere den Verweis auf D4T, Seite 5, Zeilen 1-2 "the conversion of 4,4'-dichlorodiphenylsulfone at this point is almost 100%").
Diesbezüglich ist dem Dokument D4T zu entnehmen, dass der erste Schritt des dort offenbarten Verfahrens bis zum Erreichen einer relativen niedrigen Viskosität durchgeführt wird (D4T: Anspruch 1). Es ist ferner aus D4T ersichtlich, dass dieser Schritt dazu dient, das Entfernen von inorganischen Chloridkomponenten zu vereinfachen, bevor die Viskosität der Polyethersulfone steigt (D4T: Seite 2, Zeilen 22-23, Seite 3, Zeilen 5-8, Seite 4, Zeilen 24-30, Seite 5, Zeilen 2-6 und 8-10). Erst in der zweiten Verfahrensstufe wird die Polykondensation weitergeführt und eine wesentlich höhere Viskosität erreicht (D4T: Seite 5, Zeilen 11-13). Diesbezüglich trug die Beschwerdeführerin selbst vor, es sei bei der Herstellung der Polyethersulfone gemäß Anspruch 1 davon auszugehen, dass die Viskosität erst in den allerletzten Phasen der Polymerisation steige (mit Verweis auf D4T: Seite 4, Zeilen 24-28). Daher ist die Kammer der Auffassung, dass D4T - insbesondere die Passage: "the conversion of 4,4'-dichlorodiphenyl-sulfone at this point is almost 100%" - keine direkte und unmittelbare Offenbarung des Merkmals des Anspruchs 1 "der Umsatz (U) mindestens 95% beträgt" enthält. Diese Schlussfolgerung wurde den Parteien in dem Bescheid der Kammer (Abschnitt 7.3.2) mitgeteilt und blieb während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer unbestritten.
c) Somit enthält der Anspruch 1 mindestens ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Offenbarung des Dokuments D4, nämlich den Schritt (a), welcher in einem Fortgang bis zu einem Umsatz von mindestens 95 % durchgeführt wird. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags ist daher neu gegenüber D4, insbesondere dessen Beispiel 5.
Anspruch 8 des Hauptantrags ("product-by-process")
3.3.3 Anspruch 8 des Hauptantrags ist als product-by-process definiert ("Polybiphenylsulfon-Polymere erhältlich gemäß..." u.a. dem (Verfahrens-)Anspruch 1). Somit ist zu klären, ob das product-by-process-Merkmal dieses Anspruchs die Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber D4, insbesondere dessen Beispiel 5, begründen kann. Insbesondere ist zu prüfen, ob die gemäß dem product-by-process-Merkmal des Anspruchs 1 hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere tatsächlich durch ihr Herstellungsverfahren von den gemäß Beispiel 5 von D4 hergestellten Produkten unterschieden werden können.
a) In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin vorgetragen, dass der Gegenstand des Anspruchs 8 nicht neu sei, weil das Verfahren gemäß Anspruch 1 in D4 offenbart werde (Beschwerdebegründung: Abschnitt 5.3).
Da die Kammer der Meinung ist, dass das Verfahren gemäß D4 dem Verfahren gemäß Anspruch 1 nicht entspricht (Abschnitt 3.3.2 oben), kann dieser gegen Anspruch 8 vorgebrachte Einwand der Beschwerdeführerin nicht erfolgreich sein.
b) Ferner wurde in der angefochtenen Entscheidung dargelegt (Seite 9, zwei letzte Absätze), die in D13 zusammengefassten Beispiele würden zeigen, dass das product-by-process-Merkmal des Anspruchs 8 die Zusammensetzung (Gehalt an organisch gebundenem Chlor: siehe Absatz 33 des Streitpatents) und die Viskosität (Viskositätszahl oder spezifische Viskosität) der so hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymeren wesentlich beeinflussten. Daraus hat die Einspruchsabteilung geschlossen, es sei gezeigt worden, dass sich die erfindungsgemäß hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere von den in der D4 offenbarten Polymeren unterschieden.
Diesbezüglich enthält D13 zwei Tabellen, welche die Ergebnisse in Bezug auf die Polybiphenylsulfon-Polymere, die in den Beispielen des Streitpatents, in D10, D11 und D12 hergestellt wurden, zusammenfassen. Es ist der Einspruchsabteilung zuzustimmen, dass die in den Beispielen 7 bis 10, 13 und 15 hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere, die gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags hergestellt wurden, verbesserte Eigenschaften (reduzierter Gehalt an organisch gebundenem Chlor: siehe Absatz 33 des Streitpatents; höhere Viskosität - Viskositätszahl oder spezifische Viskosität) als die in den Vergleichsbeispiele V7 und V8 hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere, die der Lehre des Beispiels 5 der D4 illustrieren (siehe D11: Seiten 2 und 3), aufweisen. Jedoch wird in D11 (Seite 2: erster Absatz, vorletzter Satz) angegeben, dass in V7 und V8 kein hochmolekulares Produkt hergestellt wurde, was der Lehre von D4T nicht zu entsprechen scheint (Anspruch 1: "high molecular weight polyethersulfone"; Seite 3, Zeilen 6-8; Seite 5, Zeilen 7-13; Tabelle 1). Somit stellte sich im Beschwerdeverfahren die Frage, ob die Vergleichsbeispiele V7/V8 der D11/D13 eine faire Nacharbeitung von Beispiel 5 von D4 darstellen.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erklärte die Beschwerdegegnerin, dass die Vergleichsbeispiele V7 und V8 gemäß der Lehre des Beispiels 5 von D4 und so getreu wie möglich nachgearbeitet wurden. Es sei jedoch unerklärlich, warum eine niedrigere Viskosität, d. h. ein deutlich niedrigerer Molekulargewicht erreicht worden sei (siehe z. B. D13: Tabelle 2, "etaspec/c [g/dl]"; D4T: Tabelle 1, "etasp/c"). Diesbezüglich stimmt die Kammer der Beschwerdegegnerin zu, dass in D11 angegeben wird, dass die Versuche so genau wie möglich durchgeführt und zweimal wiederholt wurden (D11: Seite 2, erster Absatz, zweiter Satz). Darüber hinaus hat die Beschwerdegegnerin weiterhin und mit Erfolg versucht, das Verfahren gemäß Beispiel 5 der D4 anhand der Lehre der D4 abzuändern, um Polybiphenylsulfon-Polymere mit einer höheren Viskosität, d. h. eine Viskosität gemäß Beispiel 5 der D4, herzustellen (D11: Seite 2, zweiter bis vierter Absatz). Es is jedoch aus D13 ersichtlich, dass alle die von der Beschwerdegegnerin vorbereiteten Polybiphenylsulfon-Polymere zumindest einen höheren Gehalt an organisch gebundenem Chlor (und gegebenenfalls eine niedrigere Viskosität) als die Polybiphenylsulfon-Polymere, welche mit einem Verfahren gemäß Anspruch 1 hergestellt wurden, aufweisen. Diesbezüglich wurde von der Beschwerdeführerin nicht gezeigt und auch nicht bestritten, dass die von der Beschwerdegegnerin durchgeführten Vergleichsbeispiele, insbesondere V7 und V8, der Lehre der D4, insbesondere dessen Beispiel 5, nicht entsprechen würden. Unter diesen Umständen und in Ermangelung jeglicher Gegenversuche betreffend eine erfolgreiche Nacharbeitung des Beispiels 5 von D4 seitens der Beschwerdeführerin und selbst wenn die Zweifel bezüglich der Genauigkeit/Richtigkeit der in V7/V8 durchgeführte Nachbearbeitung vom Beispiel 5 der D4 nicht vollständig ausgeräumt wurden, kann die Kammer anhand der vorhandenen Beweismittel nur zum Schluss kommen, dass das Beispiel 5 der D4 keine direkte und unmittelbare Offenbarung eines Polybiphenylsulfon-Polymers erhältlich gemäß einem in Anspruch 1 des Hauptantrags definierten Verfahren darstellt. Letztlich ist es an der Beschwerdeführerin zu zeigen, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung fehlerhaft war, und die von ihr vorgetragenen Argumente geben keinen Anlass dafür, von der Entscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der Neuheit von Anspruch 8 des Hauptantrags gegenüber dem Beispiel 5 der D4 abzuweichen.
c) Somit ist die Kammer zum Schluss gekommen, dass die gemäß dem product-by-process-Merkmal des Anspruchs 1 hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere tatsächlich durch ihr Herstellungsverfahren von den gemäß Beispiel 5 von D4 hergestellten Produkten unterschieden werden können.
d) Daher wird der gegen den Anspruch 8 des Hauptantrags vorgebrachte Neuheitseinwand der Beschwerdeführerin gegenüber D4, insbesondere dessen Beispiel 5, zurückgewiesen.
3.3.4 In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin zusätzliche Einwände der fehlenden Neuheit gegenüber D4 gegen die Ansprüche 2 und 7 des Hauptantrags, welche von Anspruch 1 abhängig sind, geltend gemacht.
Angesichts der für Anspruch 1 getroffenen Schlussfolgerung bezüglich der Neuheit gegenüber D4 können jedoch diese Einwände nicht erfolgreich sein.
4. Artikel 56 EPÜ
4.1 In der Beschwerdebegründung vorgebrachte Einwände
4.1.1 In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung dargelegt, dass der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents ausgehend von D4, D6 oder D7 als nächstliegendem Stand der Technik erfinderisch sei (Begründung: Abschnitte 5.2 und 5.3). Es wurde ferner angegeben, dass der Fachmann nur durch rückschauende Betrachtungsweise das Dokument D7 als nächstliegenden Stand der Technik auswählen würde, was nicht zulässig sei (Begründung: Seite 12, vierter Absatz).
4.1.2 In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin Einwände der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von entweder D1, D3, D4, D6 oder D7 als nächstliegendem Stand der Technik geltend gemacht (Beschwerdebegründung: Abschnitte 6.1 und 7.1 bis 7.4).
Einwände ausgehend von D1 und D3 - Zulassung
4.1.3 Die erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1 oder D3 wurde in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt. Somit stellen diese Einwände eine Änderung des Vorbringens der Beschwerdeführerin gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2020 und ihre Zulassung unterliegt dem Ermessen der Kammer.
Die Beschwerdeführerin hat diesbezüglich keine Begründung angegeben, warum diese Einwände nicht bereits im Einspruchsverfahren geltend gemacht wurden. Auch die Kammer kann im vorliegenden Fall keine Umstände erkennen, welche ein verspätetes Vorbringen dieser Einwände rechtfertigen können. Außerdem würde die Zulassung dieser Einwände, insoweit damit neue Argumente der Beschwerdeführerin erstmalig im Beschwerdeverfahren erörtert werden müssten, gegen die gebotene Verfahrensökonomie sprechen. Unter diesen Umständen ist die Kammer der Auffassung, dass die Einwände der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von entweder D1 oder D3 als nächstliegendem Stand der Technik nicht in das Verfahren zuzulassen sind (Artikel 12 (4) VOBK 2020).
Einwände ausgehend von D6 und D7 - Wahl eines geeigneten nächstliegenden Stands der Technik
4.2 Während die Wahl von D4 als nächstliegendem Stand der Technik unstreitig ist, ist dies für D6 und D7 nicht der Fall (siehe insbesondere die Beschwerdeerwiderung: Seite 17, erster Absatz). Somit ist zunächst zu klären, ob D6 und/oder D7 geeignete Dokumente sind, die als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden können.
4.2.1 Bezüglich D7 hat die Einspruchsabteilung entschieden, dass D7 auf die Herstellung einer anderen Stoffklasse gerichtet und somit nicht als nächstliegender Stand der Technik geeignet sei (Begründung der angefochtenen Entscheidung: Seite 12, vierter Absatz; siehe auch Beschwerdeerwiderung: Seite 15, vorletzter Absatz). Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Beschwerdebegründung nicht vorgebracht, dass diese Feststellung der Einspruchsabteilung unrichtig ist. Auch in Reaktion auf den Bescheid der Kammer, in welcher diese Ansicht bereits vertreten wurde (Abschnitt 8.2.2), hat die Beschwerdeführerin - insbesondere während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer - nichts erwidert. Somit gibt es für die Kammer keinen Grund, eine andere Meinung als die der Einspruchsabteilung zu vertreten. Der Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D7 wird schon deswegen zurückgewiesen.
4.2.2 Bezüglich D6 ist aus der Argumentation der Beschwerdegegnerin selbst ersichtlich (siehe Beschwerdeerwiderung: Seite 16, zweiter und vierter Absatz), dass die Beispiele 3 und 4 der Entgegenhaltung D6 ein Verfahren zur Herstellung von Polybiphenylsulfon-Polymeren durch Umsetzung einer Dihydroxyverbindung, welche einer Komponente (a1) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags entspricht und 4,4'-Dichlordiphenylsulfon gemäß der Komponente (a2) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags, wobei die so hergestellten Polymere gute Wärmebeständigkeit und gute mechanische Eigenschaften aufweisen. Somit kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Entgegenhaltung D6 für den beanspruchten Gegenstand in dem Sinne irrelevant ist, dass sie nicht auf demselben technischen Gebiet liegt und/oder dass sie nicht ein Problem behandelt, das zumindest mit den aus dem Patent ableitbaren Problemen zusammenhängt. Somit stellt D6 für die Fachperson ein möglicher, und technisch sinnvoller Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dar. Insbesondere sind die von der Beschwerdeführerin herangezogenen Beispiele 3 und 4 der D6 besonders relevant (Beschwerdebegründung: Abschnitt 7.3.1, erster bis dritter Absatz).
4.2.3 In diesem Zusammenhang ist nach der Rechtsprechung nicht erforderlich, dass der nächstliegende Stand der Technik zwingend alle Probleme offenbaren muss, die durch die beanspruchte Erfindung (angeblich) gelöst werden, insbesondere weil im Stadium der Bestimmung des geeigneten nächstliegenden Standes der Technik die objektive Aufgabe - d. h. die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik tatsächlich gelöste Aufgabe - noch bestimmt werden muss (Rechtsprechung, supra, I.D.3.3: Absatz beginnend mit "In T 698/10 ..."). Mit anderen Worten ist es nicht erforderlich, dass der nächstliegende Stand der Technik dieselbe technische Aufgabe wie die beanspruchte Erfindung löst (Rechtsprechung, supra, I.D.3.3, mit Verweis auf T 1408/09).
4.2.4 Die Tatsache, dass D4 ein weiteres geeignetes Dokument darstellen kann, das als nächstliegender Stand der Technik in Betracht kommt, steht nicht im Widerspruch zu der obigen Schlussfolgerung. Es ist nämlich ständige Rechtsprechung, dass, wenn dem Fachmann mehrere gangbare Wege offenstehen, d. h. von mehreren unterschiedlichen Dokumenten ausgehende Wege, die zu der Erfindung führen könnten, es die Ratio des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes erfordert, die Erfindung in Bezug auf alle diese Wege zu prüfen, bevor ihr eine erfinderische Tätigkeit zugesprochen werden kann (Rechtsprechung, supra, I.D.3.1, Absatz beginnend mit "In T 1742/12...").
4.2.5 Die Beschwerdegegnerin brachte vor, dass D6 keinen geeigneten nächstliegenden Stand der Technik darstelle, da D4 "näher" an den beanspruchten Gegenstand liege (Schriftsatz vom 3. April 2023: Seite 3, letzter Absatz bis Seite 4, letzter Absatz, wobei die Argumentationslinie auch während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen wurde).
Jedoch vertritt die Kammer die Auffassung, dass bei der Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes die Bestimmung des nächstliegenden Standes der Technik nicht bedeutet, dass ein einziges Dokument ausgewählt werden muss und kein anderes Dokument weiter in Betracht gezogen werden darf. Daher kann die Frage, ob D4 dem beanspruchten Gegenstand "näher" ist als D6 oder, ob die in D6 behandelten Probleme "weiter entfernt" von denen sind, auf die das Streitpatent abzielt, als die von D4, nicht rechtfertigen, dass D6 nicht als geeigneter nächstliegender Stand der Technik in Betracht gezogen werden kann (Rechtsprechung, supra, I.D.3.2, Absatz beginnend mit "In T 1076/16..."; siehe auch I.D.3.4.1). Es ist nämlich durchaus möglich, dass ausgehend von einem "näher" gelegenen Stand der Technik eine erfinderische Tätigkeit gegeben ist, aber von einem "weiter entfernten" Stand der Technik, bei Vorliegen eines entsprechendem Anlasses, die erfinderische Tätigkeit verneint werden muss.
4.2.6 Aus diesen Gründen wird das Argument der Beschwerdegegnerin, wonach D6 kein geeignetes Dokument sei, das als nächstliegender Stand der Technik anzusehen sei, zurückgewiesen.
4.2.7 Daher sind sowohl D4 als auch D6 als nächstliegender Stand der Technik in der vorliegenden Entscheidung anzusehen.
4.3 D4 als nächstliegender Stand der Technik
Anspruch 1 des Hauptantrags (Verfahren)
4.3.1 Wie bei der Beurteilung der Neuheit angegeben, unterscheidet sich das Verfahren gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags von dem Verfahren gemäß Beispiel 5 der D4 mindestens durch den Schritt (a), welcher in einem Fortgang bis zu einem Umsatz von mindestens 95 % durchgeführt wird.
a) Jedoch besteht die Erfindung der D4 darin, dass ein mehrstufiges Verfahren durchgeführt wird: in einem ersten Schritt werden Ausgangsstoffe wie 4,4'-Dichlordiphenylsulfon und 4,4'-Biphenol zu einem Polymer mit niedrigem Molekulargewicht polymerisiert und danach folgen eine Filtration, eine erneute Aufnahme der Polykondensation (wobei der gewünschte Molekulargewicht erreicht wird) und eine Umsetzung mit z. B. Chlormethan (siehe insbesondere der Absatz überbrückend Seiten 4 und 5 der D4T). Aus diesem Grund, und unabhängig davon, wie die gegenüber den nächstliegenden Stand der Technik gelöste technische Aufgabe formuliert wird (als Alternative oder Verbesserung), führt die Lehre der D4 selbst von einem Schritt (a) gemäß dem vorliegenden Anspruch 1 weg.
b) Ferner wurde bei der Beurteilung der Neuheit des Anspruchs 8 des Hauptantrags festgestellt, dass aus den vorliegenden Beweismitteln (welche in D13 zusammengefasst sind) ersichtlich ist, dass die Polybiphenylsulfon-Polymere, die nach einem Verfahren gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags hergestellt wurden, im Vergleich zu denen im Beispiel 5 der D4 hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymeren verbesserte Eigenschaften aufweisen. Es wurde diesbezüglich nicht gezeigt, dass aufgrund der Lehre der D4, gegebenenfalls in Kombination mit irgendeinem Dokument aus dem Stand der Technik naheliegend war, solche verbesserten Polybiphenylsulfon-Polymere in naheliegender Weise erreicht werden könnten.
c) Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer trug die Beschwerdeführerin vor, aus D4T (Seite 3, Zeilen 5-8) sei ersichtlich, dass das Verfahren von D4 entwickelt worden sei, um ein bei einem einstufigen Verfahren bekanntes Problem zu lösen (schwierige Filtration des hoch-viskosen Endprodukts). Somit sei die Beschwerdeführerin der Meinung, dass es naheliegend sei, das Verfahren gemäß D4 auch einstufig durchzuführen.
Jedoch geht dieses Argument gegen die Lehre der D4 als Ganzes, welche wie oben bereits angegeben, auf ein mehrstufiges Verfahren abzielt. Darüber hinaus ist der D4 nicht zu entnehmen, dass ein so geändertes Verfahren
zu Polybiphenylsulfon-Polymeren mit verbesserten Eigenschaften führen würde. Somit wurde nicht gezeigt, dass die D4 einen Hinweis auf ein einstufiges Verfahren gibt, mit dem Ziel Polybiphenylsulfon-Polymere mit verbesserten Eigenschaften herzustellen. Daher überzeugt das Argument der Beschwerdeführerin nicht.
d) Aus den oben genannten Gründen ist die Kombination von technischen Merkmalen gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags im Lichte der D4 allein, aber auch in Kombination mit irgendeinem der anderen zitierten Dokumenten, nicht naheliegend.
Anspruch 8 des Hauptantrags ("product-by-process")
4.3.2 Angesichts der erzielten, verbesserten Eigenschaften der mit dem Verfahren gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags hergestellten Produkte ist, aus den gleichen Gründen wie oben für Anspruch 1 angegeben, auch eine erfinderische Tätigkeit gegenüber D4 für die "Polybiphenylsulfon-Polymere erhältlich" nach einem solchen Verfahren, d.h. Produkte gemäß Anspruch 8 des Hauptantrags, anzuerkennen.
4.3.3 Die gleichen Schlussfolgerungen bezüglich der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D4 als nächstliegendem Stand der Technik sind ebenfalls gültig für die von Anspruch 1 oder Anspruch 8 abhängigen Ansprüche (Beschwerdebegründung: Abschnitte 6.2, 6.3, 6.5 und 6.6).
4.4 D6 als nächstliegender Stand der Technik
Anspruch 1 des Hauptantrags (Verfahren)
4.4.1 Wenn D6 als ein nächstliegender Stand der Technik zu betrachten ist, waren sich die Parteien einig, dass die Beispiele 3 und 4 der D6 einen geeigneten Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit darstellen. Die Kammer stimmt dem zu.
a) Unterscheidungsmerkmal
D6 offenbart ein Verfahren zur Herstellung von Polybiphenylsulfon-Polymeren anhand von Dihydroxykomponente und Dihalogendiphenylkomponenten (D6T: Abschnitt 2 "Claims"; Seite 3, beginnend mit dem dritten Absatz). In den Beispielen 3 und 4 werden als aromatische Dihydroxykomponente (Komponente (a1) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags) eine Mischung von Hydrochinon und 4,4'-Dihydroxybiphenyl und als Dihalogendiphenylkomponente 4,4'-Dichlordiphenylsulfon (Komponente (a2) gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags) eingesetzt (D6T: Seite 6, Beispiele 3 und 4, in Verbindung mit der Offenbarung des Beispiels 1, Seite 6, erster Absatz). Ferner war zwischen den Parteien unstreitig, dass das Verhältnis von Dihydroxyverbindung (Komponente (a1)) zu 4,4'-Dichlordiphenylsulfon (Komponente (a2)) in diesen Beispielen jeweils 1 ist, das heißt, die Monomere werden in äquimolaren Mengen eingesetzt. Somit waren sich die Parteien einig, dass - wie in der angefochtenen Entscheidung bereits berücksichtigt (Begründung: Seite 8, Abschnitt 4.2, dritter Absatz) - der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags von dem Verfahren gemäß den Beispielen 3 und 4 der D6 sich zumindest dadurch unterscheidet, dass das molare Verhältnis der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05 beträgt.
b) Gelöste technische Aufgabe
b1) In der angefochtenen Entscheidung wird angegeben, aus der Tabelle 1 der D13 lasse sich entnehmen, dass die Vergleichsversuche V1-V4, welche gemäß der D6 durchgeführt worden seien, Polybiphenylsulfon-Polymere mit schlechteren Eigenschaften im Vergleich zu Polybiphenylsulfon-Polymere, die durch ein Verfahren gemäß dem geltenden Anspruch 1 hergestellt worden seien, liefern (Begründung: Seite 12, zweiter Absatz).
b2) In dem Bescheid der Kammer wurde diesbezüglich angegeben, dass, während aus D13 eine Verbesserung in Bezug auf den Gehalt an organisch gebundenem Chlor und die Fließfähigkeit (ausgewertet gemäß Absatz 63 des Streitpatents; siehe auch Absatz 75 des Streitpatents) für die nach einem Verfahren gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags hergestellten Polybiphenylsulfon-Polymere tatsächlich ersichtlich sei, dies jedoch nicht der Fall sei in Bezug auf den Lösungsmittelgehalt, die Reißdehnung oder die Kerbschlagzähigkeit, welche in der angefochtenen Entscheidung ebenfalls berücksichtigt worden seien (Bescheid: Absatz: 8.4.4).
b3) Diese vorläufige Meinung der Kammer wurde von den Parteien nicht in Frage gestellt. Insbesondere während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer waren sich die Parteien ferner einig, dass die in D13 zusammengefassten Ergebnisse die von der Einspruchsabteilung berücksichtigten Verbesserungen bezüglich sowohl des niedrigeren gebundenen Chlorgehalts als auch der verbesserten Fließfähigkeit zeigen.
b4) Somit liegt die gegenüber den Beispielen 3 und 4 der D4 gelöste Aufgabe in der Bereitstellung eines Verfahrens, welches ermöglicht, Polybiphenylsulfon-Polymere mit einem niedrigerem gebundenen Chlorgehalt und einer verbesserten Fließfähigkeit herzustellen.
c) Naheliegen der Lösung
c1) In der angefochtenen Entscheidung wurde angegeben, dass D6 grundsätzlich lehre, ein äquimolares Gemisch von 4,4'-Dihydroxybiphenyl und 4,4'-Dichlordiphenylsulfon zu nehmen (D6T: Seite 3, letzter Abschnitt: "It is preferable to use the diphenol compound substantially in amounts equimolar with the dihalogenodiphenyl compound"). Eine erfinderische Tätigkeit wurde dann anerkannt, da sich aus D6 nicht ableiten lasse, dass ein molares Verhältnis der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05 zu verbesserten Polybiphenylsulfon-Polymeren führe (Entscheidung: Seite 12, erster und dritter Absatz).
c2) In der Beschwerdebegründung legte die Beschwerdeführerin dar, warum es ihrer Ansicht nach aufgrund der Lehre von D6 alleine und in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens naheliegend sei, den Gehalt an organisch gebundenem Chlor durch Verwendung eines leichten Überschusses der Komponente (a1) - was gemäß der Lehre der D6 (D6T: Seite 3, letzter Absatz, erster Satz) explizit erlaubt sei - zu reduzieren (Beschwerdebegründung: Seite 23, zweiter und letzter Absatz; Seite 24, zwei erste Absätze).
c3) Jedoch betrifft diese Argumentationslinie der Beschwerdeführerin (insbesondere die angegebene Passage der D6T: Absatz zwischen der Seiten 3 und 4) nur eine der zwei Eigenschaften, welche bei der Formulierung der gegenüber D6 tatsächlich gelösten Aufgabe zu berücksichtigen sind, nämlich die Reduzierung des gebundenen Chlorgehalts (während die Verbesserung der Fließfähigkeit nicht in Betracht gezogen wird). Diesbezüglich wurde von der Beschwerdeführerin weder argumentiert noch gezeigt, dass es bekannt war, durch die Wahl eines molaren Verhältnisses der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05, wie im Anspruch 1 definiert, die beide Eigenschaften zu verbessern. In der Tat weisen weder D6 noch die anderen im Verfahren betrachteten Dokumente auf die Kombination dieser beiden Eigenschaften hin. Darüber hinaus wurde weder argumentiert noch gezeigt, dass die Wahl des spezifischen Molarverhältnisses die einzige Möglichkeit war, um den gebundenen Chlorgehalt zu reduzieren, sodass die Fachperson diese Maßnahme notwendigerweise ergriffen hätte, um dem Chlorgehalt zu reduzieren, und damit automatisch auch eine Verbesserung der Fließfähigkeit beobachtet hätte. Im Gegenteil argumentierte die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, dass aus D6T (Seite 4, Zeilen 1-3) ersichtlich sei, dass dieses Ergebnis auch durch andere Maßnahmen zu erreichen war. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass es nicht naheliegend war, ein molares Verhältnis der Komponente (a1) zu (a2) von 1,01 bis 1,05 auszuwählen, um die technische Aufgabe zu lösen. Das Verfahren von Anspruch 1 beruht deshalb auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D6 als nächstliegendem Stand der Technik.
Anspruch 8 des Hauptantrags ("product-by-process")
4.4.2 Der gegen Anspruch 8 des Hauptantrags erhobene Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D6
als nächstliegendem Stand der Technik basierte auf der gleichen Argumentation wie für Anspruch 1 des Hauptantrags (Beschwerdebegründung: Abschnitt 7.3.5; auch während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wurden keine zusätzliche Argumente vorgebracht). Daher gelten die gleichen Überlegungen wie oben zu Anspruch 1 angegeben auch für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der nach dem Verfahren gemäß Anspruch 1 erhaltenen Polybiphenylsulfon-Polymere per se, d. h. für die Polybiphenylsulfon-Polymere gemäß Anspruch 8 des Hauptantrags. Somit beruht - aus den gleichen Gründen - auch der Gegenstand des Anspruchs 8 des Hauptantrags auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D6 als nächstliegendem Stand der Technik.
4.4.3 Es wurde von der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht bestritten, dass die gleiche Schlussfolgerung für die Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D6 als nächstliegendem Stand der Technik für die von Anspruch 1 oder Anspruch 8 abhängigen Ansprüche des Hauptantrags ebenfalls gültig ist. Somit werden die gegen die abhängige Ansprüche erhobenen Einwände der Beschwerdeführerin (Beschwerdebegründung: Abschnitte 7.3.2 bis 7.3.4 und 7.3.6) zurückgewiesen.
5. Da keiner der von der Beschwerdeführerin vorgebrachten (und zugelassenen) Einwände gegen die Ansprüche des Hauptantrags erfolgreich ist, ist die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.