T 0347/20 13-02-2023
Download und weitere Informationen:
Nutzung eines drehzahlgeregelten Antriebs zur Netzstabilisierung
Zulässigkeit des Einspruchs - Ausreichende Substantiierung (ja)
Zulässigkeit der Beschwerde - Namensänderung des Beschwerdeführers vor Beschwerdeeinlegung (ja)
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Änderungen zulässig
Änderungen - Hilfsantrag 1 (nein)
Änderung Beschwerdevorbringen nach Ladung - Hilfsanträge 1a, 1b und 1c - außergewöhnliche Umstände (nein)
Ermessen Vorbringen nicht zuzulassen - Voraussetzungen des Art. 12 (3) VOBK 2020 erfüllt (nein)
I. Die Patentinhaberin und die Einsprechende haben jeweils Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, mit der festgestellt wurde, dass das europäische Patent Nr. 2 911 259 in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 den Erfordernissen des EPÜ genüge.
II. Die folgenden Dokumente sind für diese Entscheidung relevant:
D1: H. Schlunegger et al.: "100 MW Full-Size Converter in the Grimsel 2 Pumped Storage Plant", Tagungsbericht "Hydro 2013 International Conference and Exhibition".
D6: Lieferschein Technische Informationsbibliothek (TIB), Hannover - Dokumentenlieferung, 3. August 2020.
D7: Bestätigungsschreiben Technische Informationsbibliothek (TIB), Hannover, 11. August 2020.
III. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass der Einspruch zulässig sei. Ferner hat sie festgestellt, dass das Dokument Dl Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bilde und der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents nicht neu sei gegenüber diesem Dokument.
Des Weiteren hat die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass der Hilfsantrag 1 die Voraussetzungen der Artikel 123 (2) sowie 52 (1) in Verbindung mit 54 und 56 EPÜ erfülle.
IV. In einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach der Einspruch zulässig sei, die neuen Beweismittel D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren zuzulassen seien und das Dokument D1 im Lichte der neuen Beweismittel Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bilde, welcher für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags neuheitsschädlich sein dürfte. Ferner stellte die Kammer vorläufig fest, dass der Hilfsantrag 1 gegen das Erfordernis von Artikel 123 (2) EPÜ verstoße und der Hilfsantrag 2 nicht ausreichend substantiiert sein dürfte.
V. Mit Schreiben vom 9. Februar 2023 hat die Patentinhaberin erstmals im Beschwerdeverfahren die Zulässigkeit der Beschwerde der Einsprechenden bestritten.
VI. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 13. Februar 2023 als Zoom Videokonferenz statt.
Die Patentinhaberin beantragte abschließend den Einspruch sowie die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, weiter die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrecht zu erhalten, hilfsweise die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen und das Patent in der Fassung des Hilfsantrags 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, aufrecht zu erhalten, weiter hilfsweise das Patent in geänderter Fassung gemäß eines der Hilfsanträge 1a, 1b oder 1c eingereicht mit Schreiben vom 8. Februar 2023 oder gemäß Hilfsantrag 2 eingereicht mit Schreiben vom 15. Oktober 2018 aufrecht zu erhalten. Weiter hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur Prüfung des Hilfsantrags 2.
Die Einsprechende beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
VII. Anspruch 1 des Hauptantrags (Patent in der erteilten Fassung) hat den folgenden Wortlaut (Merkmalsbezeichnungen in Klammern nachträglich hinzugefügt):
"(a) Betriebsverfahren für eine technische Einrichtung (5),
(b) - wobei die technische Einrichtung (5) mindestens einen aus einem elektrischen Versorgungsnetz (1) gespeisten elektrischen Antrieb (6) aufweist,
(c) - wobei der elektrische Antrieb (6) auf eine Solldrehzahl (n*) geregelt wird,
(d) - wobei der elektrische Antrieb (6) auf eine Last (10) wirkt,
(d1) so dass dem elektrischen Antrieb (6) aufgrund der Last (10) mechanische Energie entzogen oder zugeführt wird,
(e) - wobei die Last (10) mittels der dem elektrischen Antrieb (6) entzogenen oder zugeführten mechanischen Energie eine Nutzfunktion bewirkt,
dadurch gekennzeichnet,
(f) - dass während des Entziehens oder Zuführens der mechanischen Energie aus dem elektrischen Antrieb (6) und dem damit verbundenen Bewirken der Nutzfunktion der Last (10) ein Parameter (f) des elektrischen Versorgungsnetzes (1) überwacht wird,
(g) - dass der Parameter (f) als solcher oder eine zeitliche Ableitung des Parameters (f) für eine Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) charakteristisch ist,
(h) - dass die Solldrehzahl (n*) des elektrischen Antriebs (6) in Abhängigkeit von einer Abweichung der Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) gemäß einer Ermittlungsvorschrift nachgeführt wird, so dass die Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) stabilisiert wird, und
(i) - die Solldrehzahl (n*) nur zwischen einer unteren Drehzahlgrenze (nmin) und einer oberen Drehzahlgrenze (nmax) nachgeführt wird und dass die untere Drehzahlgrenze (nmin) größer als Null ist [sic]"
VIII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 weist gegenüber dem Hauptantrag folgende Änderungen auf (Hervorhebungen seitens der Kammer):
"Betriebsverfahren für eine technische Einrichtung (5), - wobei die technische Einrichtung (5) mindestens einen aus einem elektrischen Versorgungsnetz (1) gespeisten elektrischen Antrieb (6) aufweist,
- wobei der elektrische Antrieb (6) auf eine Solldrehzahl (n*) geregelt wird,
- wobei der elektrische Antrieb (6) auf eine Last (10) wirkt, so dass dem elektrischen Antrieb (6) aufgrund der Last (10) mechanische Energie [deleted: entzogen oder ]zugeführt wird,
- wobei die Last (10) mittels der dem elektrischen Antrieb (6) [deleted: entzogenen oder ]zugeführten mechanischen Energie eine Nutzfunktion bewirkt,
[deleted: dadurch gekennzeichnet,] wobei
- [deleted: dass] während des [deleted: Entziehens oder ]Zuführens der mechanischen Energie aus dem elektrischen Antrieb (6) und dem damit verbundenen Bewirken der Nutzfunktion der Last (10) ein Parameter (f) des elektrischen Versorgungsnetzes (1) überwacht wird,
- [deleted: dass] der Parameter (f) als solcher oder eine zeitliche Ableitung des Parameters (f) für eine Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) charakteristisch ist,
- [deleted: dass] die Solldrehzahl (n*) des elektrischen Antriebs (6) in Abhängigkeit von einer Abweichung der Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) gemäß einer Ermittlungsvorschrift nachgeführt wird, so dass die Auslastung des elektrischen Versorgungsnetzes (1) stabilisiert wird, und
- die Solldrehzahl (n*) nur zwischen einer unteren Drehzahlgrenze (nmin) und einer oberen Drehzahlgrenze (nmax) nachgeführt wird und dass die untere Drehzahlgrenze (nmin) größer als Null ist."
IX. Aufgrund der im Hinblick auf die Hilfsanträge 1a, 1b, 1c und 2 getroffene Entscheidung der Kammer diese Anträge nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen, war eine Wiedergabe ihres Wortlauts an dieser Stelle nicht erforderlich.
X. Die Argumente der Patentinhaberin, soweit sie für diese Entscheidung relevant sind, können wie folgt zusammengefasst werden:
Zulässigkeit des Einspruchs
Der Einspruch sei nicht substantiiert und daher als unzulässig zu verwerfen. Vor dem Anmeldedatum des Streitpatents sei der Öffentlichkeit kein Stand der Technik beweisbar zugänglich gewesen, welcher den einzigen Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ ausreichend hätte substanziieren können. Das Dokument D1 könne erst dann als Patenthindernis nach den Bestimmungen des EPÜ wahrgenommen werden, wenn festgestellt werde, dass es Stand der Technik bilde. Es werde des Weiteren auf die Entscheidungen der Beschwerdekammern in T 0222/85 und T 0397/99 verwiesen, welche diese Auffassung bestätigen würden.
Weiterhin wurde der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche des Streitpatents unter Verwendung einer ungenauen englischen Übersetzung der Ansprüche von der Einsprechenden unverständlich angegriffen, sodass der einzige Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ unzureichend substantiiert sei.
Einsprechendenstellung und Zulässigkeit der Beschwerde der Einsprechenden
Es bestehe Unklarheit darüber, wer die Einsprechende im vorliegenden Verfahren sei. Es habe eine Aufspaltung der ursprünglichen Einsprechenden ABB AB in ABB Power Grids Sweden AB und weiterhin in eine neue juristische Person ABB AB stattgefunden. Die ABB Power Grids Sweden AB sei im weiteren Verlauf des Verfahrens in Hitachi Energy Sweden AB umbenannt worden. Es handele sich somit weder um eine Gesamtrechtsnachfolge noch um eine reine Namensänderung. Ferner sei nicht dargelegt worden, auf welchen der beiden Unternehmensteile der Einspruch übertragen worden sei. Die Einsprechendenstellung sei daher unklar.
Ferner sei die Beschwerde unzulässig, denn diese sei im Namen der ABB AB eingelegt worden. Die ursprüngliche ABB AB habe jedoch zum Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde nicht mehr existiert, sondern eine andere juristische Person namens ABB AB sei vor Einlegung der Beschwerde gegründet worden. Diese sei jedoch nicht beschwerdeberechtigt gewesen. Die Beschwerde sei daher unzulässig.
Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik / Zulassung der Dokumente D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren
Die Dokumente D6 und D7 seien verspätet und daher nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Ferner sei das Dokument D6 nicht identisch mit dem Dokument D1 und könne somit dessen Vorveröffentlichung nicht zweifelsfrei belegen. Des Weiteren bestünden Ungereimtheiten im Hinblick auf die Datierung der Dokumentenanfrage gemäß D6. Schließlich stimme auch die Bezeichnung des in dem Dokument D6 genannten Artikels nicht mit dem tatsächlichen Titel des Dokuments D1 überein. Auch in dem Tagungsbericht gemäß Dokument D7 stimme die Überschrift nicht identisch mit dem Titel des Dokuments D1 überein. Weiterhin betrage die Zeitspanne zwischen der Zugänglichmachung in der Bibliothek und dem Anmeldetag des Streitpatents lediglich ca. 1 Monat und sei somit sehr kurz. Daher seien die Dokumente D6 und D7 insgesamt nicht geeignet die öffentliche Zugänglichmachung des Dokuments D1 zweifelsfrei zu belegen.
Hauptantrag - Neuheit gegenüber D1
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei neu gegenüber dem Dokument D1. Es offenbare insbesondere nicht das Merkmal, wonach die untere Drehzahlgrenze der Solldrehzahl (immer) größer als Null sei. Die Abbildungen in den Abschnitten 4.1 und 4.3 des Dokuments D1 beträfen unterschiedliche Ausführungsbeispiele, die nicht miteinander kombiniert werden könnten. Insbesondere beträfe die Abbildung in Abschnitt 4.3 ausschließlich einen Startvorgang ("Starting procedure"). Diese Abbildung offenbare jedoch keine Drehzahlgrenzen. Ferner sei der Abbildung in Abschnitt 4.1 nichts weiter zu entnehmen, als dass der Wandler in einem Frequenzbereich zwischen 46 und 51 Hz betrieben werde. Auch eine Rückwirkung der Regelung auf das Netz im Sinne einer Netzstabilisierung sei nicht erkennbar.
Hilfsantrag 1 - Zulässigkeit der Änderungen
Die in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vorgenommenen Änderungen verstießen nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Das Merkmal des Anspruchs 1, wonach der elektrische Antrieb aus dem elektrischen Versorgungsnetz gespeist werde sei so zu verstehen, dass der Antrieb mit dem Versorgungsnetz verbunden sei. Im Übrigen sei die nunmehr von Anspruch 1 beanspruchte Kombination in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen offenbart. Es werde insbesondere auf die Absätze [0024], [0026], [0027] und [0029] verwiesen. Gemäß der ursprünglichen Beschreibung sei die Erfindung anhand eines Verbrauchers offenbart, die entsprechenden Modifikationen im Falle einer Ausgestaltung als Energieerzeuger seien in Klammern gesetzt. Die nunmehr beanspruchte Kombination ergebe sich somit unmittelbar aus den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen.
Hilfsanträge 1a bis 1c - Zulassung
Mit den Hilfsanträgen 1a, 1b und 1c habe die Patentinhaberin auf die vorläufige Meinung der Kammer reagiert, wonach die Änderungen des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 nicht zulässig seien. Weitere rechtfertigende Gründe für die späte Einreichung dieser Hilfsanträge wurden nicht vorgetragen.
Hilfsantrag 2 - Zulassung
Der Hilfsantrag 2 sei bereits im Einspruchsverfahren begründet worden. Eine nochmalige Erörterung dieses Antrags in dem Beschwerdevorbringen der Patentinhaberin sei daher nicht erforderlich gewesen. Alle Einwände würden ferner durch den Hilfsantrag 2 adressiert werden.
XI. Die Argumente der Einsprechenden, soweit sie für diese Entscheidung relevant sind, können wie folgt zusammengefasst werden:
Zulässigkeit des Einspruchs
Der Einspruch sei ausreichend substantiiert. Insbesondere bilde das Dokument D1 Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ. Weiterhin sei die Begründetheit des Vortrags bezüglich des Dokuments D1 unerheblich für die Zulässigkeit des Einspruchs. Ferner beruhe die in der Einspruchsbegründung verwendete englische Merkmalsanalyse auf der in dem Streitpatent wiedergegebenen englischen Übersetzung der Ansprüche. Die Einsprechende musste daher davon ausgehen, dass die englische Übersetzung der Ansprüche in dem Patent so erfolgt sei, dass sie nach Ansicht der Patentinhaberin mit den erteilten deutschen Ansprüchen übereinstimme.
Einsprechendenstellung und Zulässigkeit der Beschwerde der Einsprechenden
Hinsichtlich der Einsprechendenstellung bestünden keine Zweifel. Es habe keine Aufspaltung der ursprünglichen Einsprechenden ABB AB stattgefunden, sondern es seien lediglich Geschäftsbereiche ausgegliedert worden. Diese seien einer neu gegründeten juristischen Person namens ABB AB zugeordnet worden. Die ursprüngliche juristische Person ABB AB habe jedoch weiterhin existiert und sei lediglich umbenannt worden in ABB Power Grids Sweden AB und später in Hitachi Energy Sweden AB. Dies sei bereits daran erkennbar, dass die ursprüngliche Einsprechende ABB AB sowie die ABB Power Grids Sweden AB und die Hitachi Energy Sweden AB die gleiche Unternehmensregisternummer (556029-7029) aufwiesen.
Sofern lediglich eine Umbenennung der ursprünglichen Einsprechenden stattfinde, müsse kein Nachweis über ein Übertragung des Einspruchs erfolgen. Der Einspruch sei nicht übertragen worden, sondern sei bei der ursprünglichen Einsprechenden verblieben, bei der es sich um die identische juristische Person handele wie die jetzige Hitachi Energy Sweden AB. Es gebe auch keinen Grund anzunehmen, dass der Einspruch auf eine andere juristische Person übertragen worden sei. Ferner sei der Bereich "Power Grids", dem der vorliegende Einspruch in technischer Hinsicht zuzuordnen sei, bei der ursprünglichen juristischen Person verblieben. Auch vor diesem Hintergrund könne kein Zweifel daran bestehen, dass der Einspruch bei derjenigen juristischen Person verblieben sei, die den Einspruch ursprünglich eingelegt habe (ABB AB, später umbenannt in ABB Power Grids Sweden AB und noch später umbenannt in Hitachi Energy Sweden AB).
Die Beschwerde sei im Übrigen zulässig. Allein die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung eine andere juristische Person mit dem Namen der ursprünglichen Einsprechenden existiert habe, könne nicht zur Unzulässigkeit der Beschwerde führen. Vielmehr sei die Absicht der ursprünglichen Einsprechende klar erkennbar, selbst wenn sie in ihrem ursprünglichen Namen, und nicht in dem zum entsprechenden Zeitpunkt im Register eingetragenen neuen Namen, ABB Power Grids Sweden AB, Beschwerde eingelegt habe. Es bestehe kein Grund zu der Annahme, dass eine andere juristische Person als die ursprüngliche Einsprechende, ABB AB, Beschwerde eingelegt habe, die mit dem vorliegenden Verfahren nichts zu tun habe.
Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik / Zulassung der Dokumente D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren
Die Einreichung der Dokumente D6 und D7 mit der Beschwerdeerwiderung sei veranlasst durch den Vortrag der Patentinhaberin in ihrer Begründung, wonach das Dokument D1 keinen Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ bilde, obwohl die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung zu dem gegenteiligen Schluss gelangt sei. Die Berücksichtigung der Dokumente D6 und D7 im Beschwerdeverfahren als weitere Belege für die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments D1 sei daher gerechtfertigt. Im Hinblick auf den Inhalt der Dokumente D6 und D7 bestünden zwar geringfügige Unterschiede zwischen dem Titel des Dokuments D1 und dem in D6 und D7 genannten Titeln. Es sei jedoch offensichtlich, dass es sich um den selben Vortrag handele, denn es habe nur einen Vortrag im Rahmen der fraglichen Konferenz gegeben. In dem Dokument D7 sei ferner angegeben, dass "grundsätzlich die Möglichkeit gegeben" sei, dass die Öffentlichkeit Zugang zur Literaturstelle habe. Der Begriff "grundsätzlich" bedeute jedoch lediglich, dass der Zugang zu den normalen Öffnungszeiten, nicht jedoch permanent, möglich sei. Die Dokumente D6 und D7 seien somit zweifelsfrei geeignet, die Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik zu belegen.
Hauptantrag - Neuheit gegenüber D1
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei nicht neu gegenüber dem Dokument D1. Das Dokument D1 offenbare in der Abbildung "converter control loops" in Abschnitt 4.3, dass die Netzfrequenz überwacht werde ("F act line") und zwar für eine Regelschleife, welche die Solldrehzahl vorgebe. Ferner sei die Netzfrequenz charakteristisch für die Auslastung des Versorgungsnetzes. Aus der Abbildung in Abschnitt 4.3 ergebe sich im Übrigen, dass das Versorgungsnetz stabilisiert werde, denn abhängig von der Änderung der Netzfrequenz werde eine Leistung "DeltaP prim" ermittelt. "DeltaP prim" und die Leistung "Pact" bestimmten weiterhin die Solldrehzahl "n set". Ferner werde gemäß der Abbildung "singleline diagram" in Abschnitt 4.1 die Solldrehzahl zwischen der unteren Drehzahl "680 rpm" und der oberen Drehzahl "765 rpm" im Betriebsmodus "Pumping mode with converter (at variable speed)" nachgeführt. Die untere Drehzahlgrenze sei ferner mit 680 rpm größer als Null.
Hilfsantrag 1 - Zulässigkeit der Änderungen
Die in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vorgenommenen Änderungen verstießen gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Anspruch 1 fordere explizit, dass der elektrische Antrieb aus dem elektrischen Versorgungsnetz gespeist werde und somit Energie aus dem Versorgungsnetz aufnehme. Gleichzeitig sei Anspruch 1 jedoch dahingehend geändert worden, dass dem elektrischen Antrieb nur noch mechanische Energie zugeführt werde. Der Antrieb werde gemäß Anspruch 1 somit ausschließlich im Generatorbetrieb gefahren. Für sich genommen seien die Merkmale möglicherweise ursprünglich offenbart. Die Kombination dieser Merkmale ließe sich den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen jedoch nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen und verstoße somit gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
Hilfsanträge 1a bis 1c - Zulassung
Die Hilfsanträge 1a bis 1c seien erstmals kurz vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden. Rechtfertigende Gründe für die späte Einreichung seien nicht vorgebracht worden. Die Hilfsanträge seien daher unter Artikel 13 (2) VOBK nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Hilfsantrag 2 - Zulassung
Der Hilfsantrag 2 sei nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Das Fehlen jeglicher Argumente der Patentinhaberin zum Hilfsantrag 2 müsste zur Nichtzulassung dieses Antrags in das Beschwerdeverfahren führen. Die Einsprechende habe sich in ihrer Beschwerdeerwiderung ausführlich zum Hilfsantrag 2 geäußert und insbesondere dargelegt, aus welchen Gründen dieser Antrag nicht alle Einwände ausräume. Nichtsdestotrotz habe sich die Patentinhaberin in der Sache nicht zum Hilfsantrag 2 geäußert.
1. Zulässigkeit des Einspruchs
1.1 Der Einspruch ist ausreichend substantiiert und insgesamt als zulässig anzusehen (Artikel 99 (1) und Regel 76 (2) c) EPÜ).
1.2 Die Patentinhaberin hat im Wesentlichen vorgetragen, dass die Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ nicht nachgewiesen worden sei, sodass keine beweisbaren Tatsachen vorlägen, die ein Patenthindernis darstellen könnten.
1.3 Die Argumente der Patentinhaberin überzeugen die Kammer nicht. Die Frage, ob es sich bei dem Dokument D1 um Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ handelt, betrifft die materiellrechtliche Prüfung und somit die Begründetheit des Einspruchs. Diese ist von der Zulässigkeit des Einspruchs zu trennen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, IV.C.2.2.8 d)). Die diesbezüglichen Ausführungen der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung sind somit nicht zu beanstanden (siehe Punkt II. A) 1.1.1 der Gründe für die angefochtene Entscheidung).
1.4 Die Entscheidungen der Beschwerdekammern in T 0222/85 und T 0397/99 stehen diesem etablierten Grundsatz nicht entgegen. Sie beruhen vielmehr auf spezifischen Umständen, die nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar sind.
Insbesondere ist das Dokument D1 weder irrelevant für die Frage der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des erteilten Patents noch ist der Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) EPÜ in seiner Begründung unverständlich.
1.5 Der Gegenstand des Anspruchs 1 wurde auch nicht deshalb unverständlich angegriffen, weil die Einsprechende in der Einspruchsbegründung die in dem Patent enthaltene englische Übersetzung herangezogen hat.
Die von der Einsprechenden zugrunde gelegte Merkmalsgliederung basiert auf der in dem Streitpatent enthaltenen englischen Übersetzung der Ansprüche (siehe Abschnitt II. der Einspruchsbegründung). Diese hat die Patentinhaberin ohne Weiteres in die Lage versetzt zu verstehen, welche Merkmale aufgrund welcher Offenbarung in dem Dokument D1 angegriffen sind (siehe insbesondere auch Abschnitt IV. der Einspruchsbegründung). Im Übrigen stammt die im Streitpatent enthaltene englische Übersetzung der Ansprüche von der Patentinhaberin selbst. Die Einsprechende konnte somit erwarten, dass die Patentinhaberin keine Einwände gegen die Verwendung dieser Fassung der Ansprüche haben würde.
1.6 Der Einspruch ist somit ausreichend substantiiert und damit zulässig im Sinne von Artikel 99 (1) und Regel 76 (2) c) EPÜ.
1.7 Angesichts der substantiierten Einspruchsbegründung im Hinblick auf den Anspruch 1 kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob der Vortrag zum Anspruch 9 in der Einspruchsbegründung ausreichend substantiiert ist.
2. Zulässigkeit der Beschwerde der Einsprechenden
2.1 Die Beschwerde ist zulässig.
2.2 Der juristischen Person nach besteht Identität zwischen der Hitachi Energy Sweden AB und der ursprünglichen Einsprechenden ABB AB. Diese war gemäß Unternehmensregisterauszug am 1. November 2019 in ABB Power Grids Sweden umbenannt worden. Am 1. November 2021 erfolgte schließlich die Umbenennung in Hitachi Energy Sweden AB. Die juristische Person ist jedoch stets die Gleiche geblieben. Dies ist bereits anhand der identischen Registernummer 556029-7029 erkennbar.
2.3 Es mag zutreffen, dass eine weitere juristische Person mit der Registernummer 559193-0903, ursprünglich gegründet am 30. Januar 2019 unter dem Namen Goldcup 18174 AB, am 1. November 2019 in ABB AB umbenannt wurde. Trotz der Namensgleichheit mit der ursprünglichen Einsprechenden ABB AB bestehen für die Kammer aber keine Zweifel, dass es sich um eine andere juristische Person handelt, die in keinerlei Verbindung zu dem vorliegenden Einspruch steht. Der neu gegründeten juristischen Person mögen zwar Unternehmensbereiche der ursprünglichen Einsprechenden zugeordnet worden sein. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise auf die Übertragung des Einspruchs auf diese neu gegründete juristische Person. Wie die Einsprechende zutreffend ausgeführt hat, bestand die ursprüngliche Einsprechende als juristische Person unter anderem Namen fort, wobei der Geschäftsbereich, auf den sich der Einspruch bezog (Power Grids), bei der ursprünglichen juristischen Person und jetzigen Hitachi Energy Sweden AB verblieben ist. Auch vor diesem Hintergrund besteht keinerlei Anlass zu der Vermutung, dass der Einspruch von der Einsprechenden auf eine andere juristische Person übertragen worden ist. Dies gilt trotz der Namensgleichheit (ABB AB) zwischen der neuen juristischen Person und der ursprünglichen Einsprechenden.
Ein Nachweis darüber, dass eine Übertragung des Einspruchs als prozedurales Recht nicht erfolgt ist, ist deshalb im vorliegenden Fall nicht erforderlich. Insbesondere hat weder eine Unternehmensspaltung stattgefunden noch liegen sonstige Hinweise vor, welche die Vermutung zulassen, dass eine Übertragung des Einspruchs erfolgt ist.
2.4 Am 21. September 2021 hat die Einsprechende vor dem Europäischen Patentamt die Umbenennung in ABB Powergrids Sweden AB (sic) beantragt. Weiterhin wurde dem Europäischen Patentamt am 17. November 2021 die Umbenennung in Hitachi Energy Sweden AB angezeigt. Die Kammer ist somit zu dem Schluss gelangt, dass eine reine Namensänderung der ursprünglichen Einsprechenden ABB AB vorliegt, die keine Änderung der Rechtspersönlichkeit bewirkt. Die Einsprechende ist daher die Hitachi Energy Sweden AB.
2.5 Weiterhin ist nach der Überzeugung der Kammer die wahre Absicht der Einsprechenden klar erkennbar, wonach in ihrem Namen Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt werden sollte. Die bloße Tatsache, dass eine andere juristische Person mit dem gleichen ursprünglichen Namen der Einsprechenden (ABB AB) existierte, führt zu keinem anderen Schluss. Vielmehr liegen keinerlei konkrete Anhaltspunkte vor, die vermuten lassen könnten, dass eine andere juristische Person als die ursprüngliche Einsprechende, ohne nach Artikel 107, Satz 1 EPÜ berechtigt zu sein, Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt hat. Die Patentinhaberin hat diesbezüglich keine über Vermutungen hinausgehenden Argumente vorgebracht.
2.6 Schließlich hat die Einsprechende die fehlende Anzeige ihrer Namensänderung mit den entsprechenden Schreiben vom 21. September 2021 (ABB Powergrids Sweden AB (sic)) und 17. November 2021 (Hitachi Energy Sweden AB) nachgeholt und jeweils eine entsprechende Aktualisierung des Europäischen Patentregisters für den vorliegenden Fall beantragt. Der Mangel der fehlerhaften Bezeichnung wurde somit in der Zwischenzeit beseitigt. Die Übersendung einer Mitteilung nach Regel 101 (2) EPÜ oder eine sonstige Aufforderung durch die Kammer war aus diesem Grund nicht erforderlich. Die Tatsache, dass die Namensänderung erst nach Einlegung der Beschwerde angezeigt wurde, ist für die Zulässigkeit der Beschwerde unerheblich (T 0157/07, Orientierungssatz).
2.7 Die Beschwerde gilt daher insgesamt als durch die Einsprechende Hitachi Energy Sweden AB als zulässig eingelegt im Sinne von Artikel 108 EPÜ sowie Regel 99 (1) a) EPÜ.
3. Zulassung der neuen Beweismittel D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren
3.1 Mit den erstmals mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Dokumenten D6 und D7 bezweckt die Einsprechende die bereits im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemachte öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments D1 weiter zu untermauern. Sie begegnet damit dem in der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin dargelegten Einwand, das Dokument D1 bilde keinen Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ.
3.2 Die Patentinhaberin hat die Nichtzulassung der neuen Beweismittel D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren aufgrund von Verspätung beantragt. Ferner hat sie geltend gemacht, dass die Dokumente nicht geeignet seien, die öffentliche Zugänglichmachung des Dokuments D1 zu belegen.
3.3 Gemäß Artikel 12 (2) VOBK ist das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. Nach Artikel 12 (4) VOBK ist der Teil des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten, der nicht die Erfordernisse nach Absatz 2 erfüllt, als Änderung zu betrachten, sofern der Beteiligte nicht zeigt, dass dieser Teil in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde. Es steht im Ermessen der Kammer, solche Änderungen zuzulassen.
3.4 Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Vortrag der Einsprechenden zum Hauptantrag unverändert auf das Dokument D1 richtet, wobei die Dokumente D6 und D7 lediglich zum weiteren Nachweis der Vorveröffentlichung des Inhalts dieses Dokuments dienen. Da die Einspruchsabteilung die bis dahin vorliegenden Beweismittel für die öffentliche Zugänglichmachung des Dokuments D1 als ausreichend angesehen hat, bestand für die Einsprechende im Übrigen keine Veranlassung, die Beweismittel D6 und D7 bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorzulegen.
3.5 Des Weiteren bemerkt die Kammer, dass die Dokumente D6 und D7 innerhalb der Schriftsatzfrist für die Beschwerdeerwiderung nach Artikel 12 (1) c) VOBK eingereicht wurden. Die Patentinhaberin hat geltend gemacht, sie hätte angesichts der nur knapp vor Ende der Schriftsatzfrist eingereichten neuen Beweismittel keine Zeit mehr gehabt, sich bis Fristende mit den neuen Beweismitteln zu befassen. Die Frist nach Artikel 12 (1) c) VOBK gilt jedoch nur für die schriftliche Erwiderung auf die Beschwerdebegründung, nicht jedoch für eine Replik, die in Reaktion auf fristgerechtes neues Vorbringen in der Beschwerdeerwiderung vorgebracht wird. Das Argument der Patentinhaberin ist daher irrelevant für die Frage der Zulassung der neuen Beweismittel D6 und D7.
3.6 Der Teil des Beschwerdevorbringens der Einsprechenden, der die Dokumente D6 und D7 betrifft, stellt im Rahmen der Argumentation zur öffentlichen Zugänglichmachung des Dokuments D1 ein Änderung im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK dar.
Bei der Ausübung ihres Ermessens im Hinblick auf die Zulassung dieser Änderung hat die Kammer die oben dargelegten Umstände des vorliegenden Falles berücksichtigt. Insbesondere hat sie die Tatsache berücksichtigt, dass für die Einsprechende bislang keine Veranlassung bestand, die weiteren Nachweise D6 und D7 vorzulegen. Ferner hat die Kammer die Dokumente D6 und D7 als geeignet zur Behandlung der Frage der Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik angesehen. Des Weiteren hat die Einsprechende die Dokumente innerhalb der Frist nach Artikel 12 (1) c) VOBK eingereicht und somit zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Beschwerdeverfahren.
3.7 Die Kammer hat vor diesem Hintergrund das ihr nach Artikel 12 (4) VOBK zustehende Ermessen dahingehend ausgeübt, die Dokumente D6 und D7 in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
4. Zugehörigkeit des Dokuments D1 zum Stand der Technik
4.1 Die Kammer ist ferner überzeugt, dass die Dokumente D6 und D7 die öffentliche Zugänglichmachung des Inhalts des Dokuments D1 vor dem Anmeldetag belegen.
4.2 Insbesondere stimmt die Kammer mit der Einsprechenden darin überein, dass trotz der geringfügigen Abweichungen zwischen dem Titel der D1 ("100 MW full-size converter in the Grimsel 2 pumped-storage plant") und dem in der Datenbank der Bibliothek gespeicherten Titel ("Pumping efficiency: A 100 MW converter for the Grimsel 2 pumped storage plant") kein Zweifel daran bestehen kann, dass in den Dokumenten D6 und D7 inhaltlich auf das Dokument D1 Bezug genommen wird. Insbesondere stellt die Kammer fest, dass der von der Bibliothek gelieferte Artikel gemäß Dokument D6 dem Inhalt nach identisch mit dem Dokument D1 ist. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass im Anhang des Dokuments D6 die Figuren des betreffenden Artikels zusätzlich wiedergegeben sind.
4.3 Auch die weiteren von der Patentinhaberin aufgeworfenen Zweifel im Hinblick auf die Datierung der Dokumente D6 und D7 sowie die relativ kurze Zeitdauer von einem Monat zwischen dem Beginn der Möglichkeit, das Dokument einzusehen und dem Anmeldetag des Streitpatents, überzeugen die Kammer nicht. Für die Dauer von mindestens einem Monat vor dem Anmeldetag des Streitpatents bestand jedenfalls für die Öffentlichkeit die Möglichkeit, den in Rede stehenden Artikel einzusehen, der den Inhalt des Dokuments D1 zweifelsfrei wiedergibt.
4.4 Aus den vorstehenden Gründen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass der Inhalt des Dokuments D1 vor dem Anmeldetag öffentlich zugänglich war. Das Dokument D1 bildet damit Stand der Technik unter Artikel 54 (2) EPÜ.
5. Hauptantrag - Neuheit gegenüber D1 (Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ)
5.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist nicht neu gegenüber dem Dokument D1.
5.2 Das Dokument D1 offenbart in der Abbildung in Abschnitt 4.3 mit der Bezeichnung "converter control loops" unmittelbar und eindeutig eine Regelschleife, mit welcher die Netzfrequenz als Parameter des elektrischen Versorgungsnetzes gemäß Merkmal (f) überwacht wird ("F act line").
5.3 Es wurde von der Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren nicht bestritten, dass die Netzfrequenz charakteristisch für die Auslastung des Versorgungsnetzes ist (Merkmal (g)).
5.4 Ferner ist aus der Abbildung in Abschnitt 4.3 unmittelbar erkennbar, dass mit der betreffenden Regelschleife die Solldrehzahl "n set" der Pumpe vorgegeben wird.
5.5 Die Kammer stimmt weiterhin mit der Einsprechenden darin überein, dass der Zweck eines Pumpspeicherkraftwerks gerade in der Aufrechterhaltung der Netzstabilität liegt. Entgegen dem Argument der Patentinhaberin kann somit kein Zweifel daran bestehen, dass gemäß der Abbildung in Abschnitt 4.3 das Versorgungsnetz stabilisiert wird, indem abhängig von der Änderung der Netzfrequenz "F act line" die Leistung "DeltaP prim" ermittelt und ferner anhand von "DeltaP prim" und der Leistung "Pact" schließlich die geeignete Solldrehzahl "n set" der Pumpe bestimmt wird. Das Merkmal (h) des Anspruchs 1 ist somit unmittelbar und eindeutig in dem Dokument D1 offenbart.
5.6 Weiterhin wird gemäß der Abbildung "singleline diagram" in Abschnitt 4.1 die Solldrehzahl zwischen der unteren Drehzahl "680 rpm" und der oberen Drehzahl "765 rpm" im Betriebsmodus "Pumping mode with converter (at variable speed)" (siehe D1 in Abschnitt 5, "Operating modes") nachgeführt. Die untere Drehzahlgrenze ist dabei zweifellos größer als Null.
In diesem Zusammenhang bemerkt die Kammer, dass Anspruch 1 nicht fordert, dass die untere Drehzahlgrenze "immer" größer als Null ist. Die Einsprechende hat in diesem Zusammenhang zutreffend dargelegt, dass es ausreicht, wenn in einem Betriebsmodus die untere Drehzahlgrenze größer Null ist. Dies ist in dem Dokument D1 für den Betriebsmodus "Pumping mode with converter (at variable speed)" zweifellos der Fall.
5.7 Weiterhin mag es zwar zutreffen, dass in der Abbildung in Abschnitt 4.3 eine Drehzahlgrenze nicht explizit angegeben ist. Die Kammer stimmt jedoch mit der Einsprechenden darin überein, dass der Fachmann die Abbildungen in Abschnitt 4.1 und 4.3 der gleichen Ausführungsform und dem gleichen Betriebsmodus zuordnen würde. Ein von der Patentinhaberin behaupteter Widerspruch zwischen den Abbildungen existiert nicht.
Dem steht auch nicht entgegen, dass sich der Abschnitt 4.3 auf einen Startvorgang bezieht ("Starting procedure"). Die Einspruchsabteilung hat in der angefochtenen Entscheidung nämlich zutreffend dargelegt, dass sich die Abbildung in dem betreffenden Abschnitt eindeutig nicht ausschließlich auf einen Startvorgang bezieht (siehe Punkt C), 1 auf Seiten 11 und 12 der Gründe für die angefochtene Entscheidung). Dies ist bereits an der Regelschleife "speed control loop" erkennbar. Die Bezeichnung "converter control loops" deutet ebenfalls darauf hin, dass Regelschleifen des kontinuierlichen Betriebs umfasst sind. Der Fachmann würde die Abbildung somit nicht ausschließlich in Zusammenhang mit dem Text in Abschnitt 4.3 verstehen, sondern als allgemeine Offenbarung im Zusammenhang mit dem kontinuierlichen Betrieb der Einrichtung.
5.8 Der Fachmann versteht die Abbildung in Abschnitt 4.1, betreffend den "converter mode" mit variablen Geschwindigkeiten zwischen 680 rpm und 765 rpm, in Verbindung mit der Abbildung "converter control loops" in Abschnitt 4.3 daher zweifellos so, dass in Drehzahlgrenzen abhängig von der Netzfrequenz zum Zwecke der Netzstabilisierung geregelt wird. Damit ist insbesondere auch das Merkmal (i) unmittelbar und eindeutig in dem Dokument D1 offenbart.
5.9 Die Kammer ist somit insgesamt zu dem Schluss gelangt, dass das Dokument D1 alle Merkmale des Anspruchs 1 offenbart und der Gegenstand des Anspruchs 1 folglich nicht neu ist im Sinne von Artikel 54 EPÜ.
Der Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents damit entgegen.
6. Hilfsantrag 1 - Änderungen
6.1 Die in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vorgenommenen Änderungen (siehe Abschnitt VII oben) verstoßen gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
6.2 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 umfasst nunmehr die folgende Merkmalskombination:
i) wobei die technische Einrichtung mindestens einen aus einem elektrischen Versorgungsnetz gespeisten elektrischen Antrieb aufweist,
ii) wobei der elektrische Antrieb (6) auf eine Last (10) wirkt, so dass dem elektrischen Antrieb (6) aufgrund der Last (10) mechanische Energie zugeführt wird,
iii) während des Zuführens der mechanischen Energie aus dem elektrischen Antrieb (6) und dem damit verbundenen Bewirken der Nutzfunktion der Last (10) ein Parameter (f) des elektrischen Versorgungsnetzes (1) überwacht wird.
6.3 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 beansprucht im Rahmen des Betriebsverfahrens somit einen elektrischen Antrieb, der gemäß i) aus einem elektrischen Versorgungsnetz gespeist wird und dem gleichzeitig gemäß ii) und iii) aufgrund der Last mechanische Energie zugeführt wird und somit als Energieerzeuger wirkt.
6.4 Eine entsprechende Merkmalskombination lässt sich den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen. Die Kammer nimmt nachfolgend Bezug auf die Offenlegungsschrift EP 2 911 259 A1.
Den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen entnimmt der Fachmann die Speisung des elektrischen Antriebs aus dem elektrischen Versorgungsnetz ausschließlich in Zusammenhang mit der Entnahme von mechanischer Energie aus dem elektrischen Antrieb, wobei der elektrische Antrieb durch die Speisung durch das elektrische Versorgungsnetz auf eine Solldrehzahl geregelt wird (siehe Absatz [0027] der Offenlegungsschrift). Die technische Einrichtung wirkt in diesem Fall als Verbraucher.
6.5 Die von der Patentinhaberin in diesem Zusammenhang vorgetragenen Argumente überzeugen die Kammer nicht. Insbesondere ist nicht ersichtlich, was den Fachmann dazu veranlassen könnte Anspruch 1 entgegen seinen klaren Wortlaut so auszulegen, dass der elektrische Antrieb nicht aus dem elektrischen Versorgungsnetz gespeist wird, sondern lediglich mit dem elektrischen Energieversorgungsnetz verbunden ist oder, ganz im Gegenteil, Energie in das elektrische Versorgungsnetz einspeist.
6.6 Ferner wird die Erfindung in der ursprünglichen Beschreibung anhand der Ausgestaltung mit einem Verbraucher als technische Einrichtung beschrieben (siehe Absatz [0026] der Offenlegungsschrift). In diesem Zusammenhang wird auch dargelegt, dass der elektrische Antrieb aus dem Versorgungsnetz gespeist wird. Die Kombination einer Speisung des elektrischen Antriebs aus dem elektrischen Versorgungsnetz mit einer Ausgestaltung der technischen Einrichtung als Energieerzeuger lässt sich jedoch, entgegen dem Argument der Patentinhaberin, keiner der zitierten Textstellen der Offenlegungsschrift unmittelbar und eindeutig entnehmen (siehe insbesondere die Absätze [0024], [0026], [0027] und [0029] der Offenlegungsschrift). Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass gemäß Absatz [0026] der Beschreibung die entsprechenden Modifikationen für eine als Energieerzeuger wirkende technische Einrichtung "teilweise in Klammern gesetzt" sind.
Ferner offenbart Absatz [0027] zwar die Speisung des elektrischen Antriebs aus dem elektrischen Energieversorgungsnetz. Diese Offenbarung versteht der Fachmann jedoch nicht als allgemeine Lehre, sondern sie steht eindeutig nur in Zusammenhang mit der beschriebenen Ausführungsform, bei welcher die technische Einrichtung als Verbraucher wirkt, nicht jedoch als Energieerzeuger, wie von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 beansprucht.
6.7 Die in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vorgenommenen Änderungen resultieren daher in einem Betriebsverfahren, für welches die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen keine Grundlage bieten. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 verstößt somit gegen das Erfordernis von Artikel 123 (2) EPÜ.
7. Hilfsanträge 1a bis 1c - Zulassung (Artikel 13 (2) VOBK)
7.1 Mit Schreiben vom 8. Februar 2023 hat die Patentinhaberin erstmals die Hilfsanträge 1a, 1b und 1c eingereicht.
Die Einsprechende hat die Nichtzulassung der Hilfsanträge als verspätet beantragt.
7.2 Nach Artikel 13 (2) VOBK bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
7.3 Es ist unstreitig, dass die neuen Hilfsanträge 1a, 1b und 1c eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Patentinhaberin im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK darstellen.
7.4 Die Patentinhaberin hat argumentiert, die Hilfsanträge 1a bis 1c seien eine Reaktion auf die vorläufige Meinung der Kammer, wonach der Hilfsantrag 1 gegen das Erfordernis von Artikel 123 (2) EPÜ verstoße.
Die Kammer bemerkt, dass die vorläufige Meinung in einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK im Hinblick auf einen bereits im Verfahren befindlichen Einwand (im vorliegenden Fall, in der Beschwerdebegründung der Einsprechenden) regelmäßig keinen außergewöhnlichen Umstand darstellt, welcher die Änderung des Beschwerdevorbringens rechtfertigen kann (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, V.A.4.5.6c)). Besondere Umstände, die zu einer anderen Beurteilung der Sache führen könnten, sind weder erkennbar noch wurden sie durch die Patentinhaberin vorgetragen.
7.5 Die Kammer hat daher das ihr nach Artikel 13 (2) VOBK zustehende Ermessen dahingehend ausgeübt, die Hilfsanträge 1a, 1b und 1c im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen.
8. Hilfsantrag 2 - Zulassung
8.1 Nach Artikel 12 (3) VOBK müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
Es steht im Ermessen der Kammer, Vorbringen eines Beteiligten nicht zuzulassen, soweit es die Erfordernisse nach Absatz 3 nicht erfüllt, Artikel 12 (5) VOBK.
8.2 Weder die Beschwerdebegründung noch die Beschwerdeerwiderung der Patentinhaberin enthielt einen substantiierten Sachvortrag zum Hilfsantrag 2.
Die Patentinhaberin hat insbesondere nicht dargelegt, welche Änderungen im Rahmen des Hilfsantrags 2 vorgenommen wurden und wie diese die Einwände der Einsprechenden überwinden. Auch im Hinblick auf die ausführlichen Argumente der Einsprechenden zum Hilfsantrag 2 in der Beschwerdeerwiderung vom 20. August 2020 hat sie sich nicht geäußert.
8.3 Wie oben dargelegt, fordert Artikel 12 (3) VOBK, dass die Beschwerdebegründung oder die Erwiderung den
vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten müssen. Das Argument der Patentinhaberin, zum Hilfsantrag 2 sei bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung substantiiert vorgetragen worden, überzeugt die Kammer daher nicht (vgl. T 0308/17, Entscheidungsgründe Nr. 20). In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass die Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren weder implizit noch explizit auf ihr erstinstanzliches Vorbringen zum Hilfsantrag 2 verwiesen hat.
8.4 Die Kammer ist daher zu dem Schluss gelangt, dass das Vorbringen der Patentinhaberin zum Hilfsantrag 2 nicht die Erfordernisse von Artikel 12 (3) VOBK erfüllt. Aus diesem Grund hat sie ihr Ermessen unter Artikel 12 (5) VOBK dahingehend ausgeübt, den Hilfsantrag 2 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
9. Antrag auf Zurückverweisung
9.1 Die Patentinhaberin hat hilfsweise die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur Prüfung des Hilfsantrags 2 beantragt.
9.2 Da der Hilfsantrag 2 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen wurde (siehe Punkt 8. dieser Entscheidung), ist der Antrag auf Zurückverweisung gegenstandslos geworden.
9.3 Die Kammer hat aus diesem Grund entschieden den Antrag auf Zurückzuweisung zurückzuweisen.
10. Ergebnis
Da der Einspruch und die Beschwerde der Einsprechenden zulässig sind, der Hauptantrag und der Hilfsantrag 1 nicht gewährbar sind und die Hilfsanträge 1a, 1b, 1c und 2 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen wurden, war dem Antrag der Einsprechenden stattzugeben.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.