T 0950/20 11-01-2023
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Coriolis-Massedurchflussmessgerät
I. Die Einsprechende hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das Patent Nr. 2485020 zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in gesamtem Umfang im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 (1) und 56 EPÜ sowie auf Artikel 100 b) EPÜ angegriffen worden.
III. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstünden.
IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige und unverbindliche Meinung zu bestimmten, wesentlichen Aspekten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens mit.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 11. Januar 2023 statt.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 2485020.
VII. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, d.h. die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt. Hilfsweise beantragte sie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf Grundlage der Ansprüche gemäß Hilfsantrag, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 27. November 2020.
VIII. Die vorliegende Entscheidung nimmt Bezug auf folgende Druckschriften:
E3: WO 96/08697,
E5: WO 2006/010687 A1.
IX. Der Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag lautet (die aus der angefochtenen Entscheidung, Punkt 14, bekannte Nummerierung M1 bis M10 der Merkmale des Anspruchs 1 wird übernommen und dem eigentlichen Wortlaut der jeweiligen Merkmale des Anspruchs 1 vorangestellt):
"M1 Coriolis-Massedurchflussmessgerät (1)
M2 mit mindestens vier gebogenen Messrohren (2a, 2b, 2c, 2d),
M3 mindestens einer Aktuatoranordnung,
M4 und mindestens einer Sensoranordnung,
M5 wobei ein erstes Messrohr (2a) und ein zweites Messrohr (2b) in einer gemeinsamen ersten Ebene (E1) und ein drittes Messrohr (2c) und ein viertes Messrohr (2d) in einer gemeinsamen zweiten Ebene (E2) liegen,
M6 wobei die erste Ebene (E1) und die zweite Ebene (E2) parallel zueinander verlaufen,
M7 wobei die Messrohre, die in einer gemeinsamen Ebene liegen, übereinander angeordnet sind,
M8 wobei alle vier Messrohre (2a, 2b, 2c, 2d) einlaufseitig und auslaufseitig mit einem Sammler (3) strömungstechnisch zusammengefasst sind,
M9 und wobei die Geometrie und/oder die Oberflächeneigenschaften der Messrohre (2a, 2b, 2c, 2d) so gewählt sind, dass der Rohrwiderstand aller vier Messrohre (2a, 2b, 2c, 2d) für eine Strömung identisch ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
M10 die Biegeradien (R1, R2) der in einer gemeinsamen Ebene (E1, E2) liegenden Messrohre (2a, 2b; 2c, 2d) so gewählt sind, dass sich die Biegeradien (R1, R2) wechselweise ergänzen, so dass die Länge der Messrohre (2a, 2b, 2c, 2d) identisch ist, dass das erste Messrohr (2a) und das vierte Messrohr (2d) mit einem bogenförmigen Abschnitt mit dem Radius (R2) beginnen, nachfolgend folgen zwei bogenförmige Abschnitte mit dem Radius (R1) und abschließend ein bogenförmiger Verlauf mit dem Radius (R2), und dass das zweite Messrohr (2b) und das dritte Messrohr (2c) mit einem bogenförmigen Abschnitt mit dem Radius (R1) beginnen, nachfolgend folgen zwei bogenförmigen Abschnitte mit dem Radius (R2) und abschließend ein bogenförmiger Abschnitt mit dem Radius (R1)".
Anspruch 1 des Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags lediglich dadurch, dass die Bezeichnungen R1 und R2 der Biegeradien nicht mehr in Klammern gesetzt sind.
1. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 weist keine erfinderische Tätigkeit gegenüber E3 in Verbindung mit E5 und dem allgemeinen Fachwissen auf (Artikel 56 EPÜ).
1.1 Auslegung des Merkmals M10
In dem Merkmal M10 werden die Wendungen "dem Radius (R1)" und "dem Radius (R2)" verwendet, um zwei unterschiedliche Radien zu bezeichnen. Würden für die Auslegung des Merkmals M10 die in Klammern stehenden Zeichen "(R1)" und "(R2)" im Sinne von Bezugszeichen weggelassen werden, entstünde eine Unklarheit hinsichtlich der Frage, auf welchen Radius sich die jeweilige Wendung "dem Radius" bezieht.
1.1.1 Gemäß der Beschwerdebegründung, Seite 6, zweiter Absatz, ist die Einsprechende der Meinung, dass "es sich bei in Patentansprüchen in Klammern gesetzten Zeichen - hier '(R1)' und '(R2)' - gemäß Rg. 43(7) EPÜ lediglich um aus den beigefügten Zeichnungen entnommene Bezugszeichen [handelt], die das Verständnis des Patentanspruchs erleichtern, gleichwohl nicht zu einer einschränkenden Auslegung des Patentanspruchs herangezogen werden dürfen".
1.1.2 Die Kammer teilt die Auffassung der Einsprechenden aus den folgenden Gründen nicht:
a) Die Kammer stimmt der Einspruchsabteilung darin zu, dass in Klammern stehende Ausdrücke eines Anspruchs nicht zwangsläufig als Bezugszeichen im Sinne von Regel 43 (7) EPÜ zu interpretieren sind und als solche nach der genannten Vorschrift keine einschränkende Wirkung haben dürften (angefochtene Entscheidung, Punkt 16.1).
b) Ist aber unklar, ob es sich bei solchen Klammerausdrücken tatsächlich um Bezugszeichen handelt oder nicht, muss dies im Wege der Auslegung des Anspruchs geklärt werden. Hierbei ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern grundsätzlich eine technisch sinnvolle Auslegung zu wählen.
c) Zu Recht haben die Einspruchsabteilung und die Patentinhaberin in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass das Merkmal M10 technisch keinen Sinn ergeben würde, verstünde man die in Klammern stehenden Zeichen "(R1, R2)" bzw. "(R1)" und "(R2)" als reine Bezugszeichen, so dass man sie auch gänzlich weglassen könnte. Insofern hat die Einspruchsabteilung richtigerweise festgestellt, dass bei Weglassen der in Klammern stehenden Radienangaben "[d]ie Verweise auf 'dem Radius' (...) unklar [sind], da kein einzelner bestimmter Radius vordefiniert wurde. Diese Unklarheit ist insbesondere ganz offensichtlich, da ja mehrere (also mindestens zwei) Biegeradien vorliegen müssen, und offen bleibt, auf welchen dieser Biegeradien sich das 'dem Radius' jeweils bezieht" (siehe angefochtene Entscheidung, Seite 6, zweiter Absatz).
d) Diese Unklarheit entsteht aber schon von vornherein nicht - und das Merkmal M10 würde dann auch unproblematisch einen technischen Sinn ergeben -, wenn man, wie von der Einspruchsabteilung und der Patentinhaberin vertreten, die Radienangaben R1 und R2 (unabhängig davon, ob sie in Klammern stehen oder nicht) stets mitliest und gerade nicht als Bezugszeichen versteht. Entsprechend liegt aus Sicht der Kammer auch kein Verstoß gegen Regel 43 (7) EPÜ vor, wenn den Radienangaben "(R1") und "(R2") eine einschränkende Wirkung zukommt.
e) Zusammenfassend ist die Kammer der Ansicht, dass die in Klammern stehenden Zeichen "(R1, R2)" bzw. "(R1)" und "(R2)" eine einschränkende Wirkung entfalten, die darin besteht, zwei unterschiedliche Radien R1 und R2 zu bezeichnen.
1.2 Unterscheidungsmerkmale
Es ist unstrittig, dass E3 den nächstliegenden Stand der Technik bildet und alle Merkmale des Anspruchs 1 offenbart, ausgenommen Merkmale M2 und M10.
1.3 Objektive technische Aufgabe
Wie in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erörtert, besteht die durch die Unterscheidungsmerkmale M2 und M10 zu lösende Aufgabe darin, die Messempfindlichkeit des Massendurchflussmessgeräts zu verbessern und dabei auf die Minimierung der Herstellungskosten zu achten.
1.4 Lösung
Aufgrund seines Fachwissens sind dem Fachmann bei Coriolis-Massedurchflussmessgeräten die Vorteile gebogener Messrohre gegenüber geraden Messrohren allgemein bekannt, insbesondere die mit gebogenen Messrohren grundsätzlich einhergehende erhöhte Messempfindlichkeit. Daher ist es für den Fachmann, ausgehend von E3 und vor die Aufgabe gestellt, die Messempfindlichkeit zu erhöhen, naheliegend die vier geraden Messrohre von E3 durch vier gebogene Messrohre zu ersetzen. Dabei würde er auf die Konstruktion der vier gebogenen Messrohre in E5 stoßen.
Der Fachmann würde den jeweiligen Rohrwiderstand und die jeweilige Länge der vier gebogenen Messrohre, wie bei den vier geraden Messrohren von E3 ursprünglich vorhanden, so auswählen, dass sie für eine Strömung identisch bleiben. Dies ist dadurch bedingt, dass in E3 alle vier geraden Messrohre parallel zueinander und einlaufseitig und auslaufseitig mit einem senkrecht zu den Messrohren stehenden Sammler strömungstechnisch zusammengefasst sind. Darüber hinaus ist für die Kammer kein offensichtlicher Grund für den Fachmann ersichtlich den Rohrwiderstand oder die Länge der vier gebogenen Messrohre unterschiedlich zu gestalten. Dies wurde auch nicht von der Patentinhaberin bestritten.
Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung der gebogenen Messrohre gibt es grundsätzlich mehrere Möglichkeiten den Einlass und den Auslass der Messrohre anhand gebogener Messrohre miteinander zu verbinden. E5 zeigt lediglich einen allgemeinen Verlauf der gebogenen Rohrabschnitte zwischen Einlass und Auslass, ohne konkrete Hinweise zu geben, wie die Biegeradien der Messrohre auszuwählen wären. Wie jedoch von der Einsprechenden vorgetragen, liegt die "Auswahl und Positionierung von lediglich zwei Biegeradien, beispielsweise zur Minimierung der Herstellungskosten, [...] in 'Griffweite' des Fachmanns" (Beschwerdebegründung, Seite 7, zweiter Absatz). In der Tat ist die Herstellung von Messrohren, die lediglich zwei anstatt vier oder mehr unterschiedliche Biegeradien aufweisen, kostengünstiger zu bewerkstelligen und stellt daher eine offensichtliche Ausgestaltung der gebogenen Messrohre dar.
Somit gelangt der Fachmann auf offensichtliche Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1.
1.5 Gegenargumente der Patentinhaberin
1.6 Die Patentinhaberin argumentiert, dass E5 die Merkmale M8 bis M10 nicht offenbare und dass der Fachmann die Druckschrift E5 ohnehin nicht heranziehen würde, weil E5 "zentral darauf gerichtet ist, die Messung von zwei verschiedenen Medien zu ermöglichen, wozu zwei getrennte Mediumsleitungen erforderlich sind" (Beschwerdeerwiderung, Seite 8, vorletzter Absatz). Daher sei "das Coriolis-Massedurchflussmessgerät gemäß Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag (...) gegenüber einer Kombination der Offenbarungsinhalte der Druckschriften E3 mit E5 oder E4 mit E5 nicht nahegelegt".
Die Kammer ist nicht überzeugt von diesem Argument. Der Fachmann braucht, dank seines Fachwissens hinsichtlich der Existenz von gebogenen Messrohren, nicht auf die konkrete Ausführung des Messgeräts von E5 zurückzugreifen. Im Übrigen würde der Fachmann nicht alle baulichen Details von E5 übernehmen wollen, sondern lediglich die Grundidee von E5, den Einlass und den Auslass eines Durchflussmessgeräts anhand von vier gebogenen Messrohren miteinander zu verbinden, sowie die allgemeine Form der beispielhaften Ausführung dieser vier gebogenen Messrohre. Hinsichtlich der Merkmale M8 und M9 bemerkt die Kammer, dass sie aus dem nächstliegenden Stand der Technik E3 bereits bekannt sind und der Fachmann keinen Grund hat, diese Eigenschaften der Messrohre von E3 zu verändern (siehe auch Punkt 1.4 oben).
1.6.1 Die Patentinhaberin führt aus, dass das in Figur 3 von E5 dargestellte Ausführungsbeispiel "vier gekrümmte und ineinander geschmiegte Messrohre [aufweist], bei denen jedoch die Biegeradien sich nicht wechselseitig ergänzen" (Schreiben vom 9. Dezember 2022, Seite 3, zweiter Absatz). Gemäß der Patentinhaberin weisen die gebogenen Messrohrabschnitte von E5 vier Radien R1 bis R4 auf, die "erheblich voneinander abweichen". Daher sei das Merkmal M10 weder in E5 noch in einem anderen Dokument des Stands der Technik offenbart.
Die Kammer ist der Ansicht, dass die Figur 3 von E5 lediglich eine schematische Zeichnung darstellt, aus der alleine keine tatsächlichen Biegeradien mit Sicherheit abgeleitet werden können. Daher bleibt offen, ob das in Figur 3 von E5 gezeigte Ausführungsbeispiel gebogene Messrohrabschnitte mit lediglich zwei unterschiedlichen Biegeradien verwendet, wie im Merkmal M10 definiert, oder ob tatsächlich Messrohrabschnitte mit vier unterschiedlichen Biegeradien verwendet werden, wie von der Patentinhaberin vorgetragen. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, da für den Fachmann, wie im Punkt 1.4 oben erläutert, eine Ausgestaltung der Messrohre auf Basis von lediglich zwei unterschiedlichen Biegeradien eine offensichtliche Möglichkeit darstellt.
2. Hilfsantrag
In Anspruch 1 des Hilfsantrags wurden gegenüber dem Anspruch 1 des Hauptantrags nur die Klammern in den Zeichen "(R1)", "(R2)" und "(R1, R2)" gestrichen. Aufgrund der im Punkt 1.1 beschriebenen Auslegung dieser Zeichen hat diese Änderung des Anspruchs 1 keine Auswirkung auf den technischen Inhalt des Anspruchs 1.
Daher weist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags aus den gleichen Gründen wie der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags keine erfinderische Tätigkeit gegenüber E3 in Verbindung mit E5 und dem allgemeinen Fachwissen auf (Artikel 56 EPÜ).
3. Aus den oben dargelegten Gründen kommt die Kammer zum Schluss, dass keiner der Anträge der Patentinhaberin gewährbar ist und deshalb das Patent widerrufen werden muss.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.