T 1304/20 17-04-2023
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ROTORBLATT EINER WINDENERGIEANLAGE
Vestas Wind Systems A/S
LM Wind Power A/S
Änderungen - zulässig (nein)
Änderung des Vorbringens - Änderung räumt Einwände aus (nein)
Änderung des Vorbringens - Antrag
I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischen-entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 836 702 in geändertem Umfang nach Artikel 101 (3) (a) und 106 (2) EPÜ aufrechtzuerhalten.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 3 zulässige Änderungen enthalte.
III. Mit einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung nach erfolgter Ladung zur mündlichen Verhandlung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 17. April 2023 in Anwesenheit aller Parteien statt.
IV. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents. Die Einsprechende 2 beantragt darüber hinaus, den Hilfsantrag 4 nicht zum Verfahren zuzulassen.
V. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerden der Beschwerdeführerinnen und somit die Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis des Hilfsantrags 3, welcher der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt, hilfsweise auf Basis des Hilfsantrags 4, eingereicht mit Schreiben vom 11. Januar 2021. Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nahm sie ihre eigene Beschwerde sowie den Hauptantrag (erteilte Fassung) und die Hilfsanträge 1 und 2 (welche der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen) zurück.
VI. Der unabhängige Anspruch 1 der für diese Entscheidung relevanten Anträge hat den folgenden Wortlaut:
Hilfsantrag 3 (aufrecht erhaltene Fassung, Änderungen gegenüber erteilter Fassung unterstrichen)
"Rotorblatt (1) einer Windenergieanlage, mit:
einer Rotorblattwurzel (4) zur Anbindung des Rotorblattes (1) an eine Rotornabe und einer zur Rotorblattwurzel (4) abgewandten Seite angeordneten Rotorblattspitze dadurch gekennzeichnet, dass eine relative Profildicke (2), die als Verhältnis von Profildicke (2) zu Profiltiefe (3) definiert ist, in einem mittleren Bereich (6) von 30% bis 60% einer Gesamtlänge des Rotorblattes zwischen Rotorblattwurzel und Rotorblattspitze ein lokales Maximum aufweist, wobei die Profildicke in dem gesamten mittleren Bereich (6) in Richtung der Rotorblattspitze streng monoton abfällt und wobei die Profildicke im Bereich des lokalen Maximums weniger stark als die Profiltiefe abnimmt."
Hilfsantrag 4
Wie im Hilfsantrag 3, wobei der Anspruch die folgenden Änderungen aufweist (von der Kammer mit Durch- und Unterstreichung hervorgehoben)
"... wobei die Profildicke in dem gesamten mittleren Bereich (6) in Richtung der Rotorblattspitze [deleted: streng monoton] wie in Fig. 4 im Verlauf gezeigt abfällt und wobei die Profildicke im Bereich des lokalen Maximums weniger stark als die Profiltiefe abnimmt."
VII. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechenden 1 und 2 haben zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 enthalte unzulässige Änderungen. Der Hilfsantrag 4 sei nicht zum Verfahren zuzulassen.
VIII. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 enthalte zulässige Änderungen. Der Hilfsantrag 4 sei zum Verfahren zuzulassen.
1. Die Beschwerden sind zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft ein Rotorblatt einer Windenergieanlage. Eine relative Profildicke - als Verhältnis von Profildicke 2 zu Profiltiefe 3 - weist in einem mittleren Bereich zwischen Rotorblattwurzel und Rotorblattspitze ein lokales Maximum auf. Dadurch entsteht ein gleichzeitig leichtes und stabiles Rotorblatt, so dass das Rotorblatt im mittleren Bereich ggf. zweigeteilt werden kann, um seinen Transport zu erleichtern, siehe die Absätze 0004, 0007 und 0008 der Patentschrift.
3. Hilfsantrag 3 - Änderungen
Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 bestreiten den von der Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin geteilten Befund der Entscheidung, wonach die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgingen.
3.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 beruht auf einer Kombination des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1, wobei zusätzlich noch die Position des lokalen Maximums ("[in einem mittleren Bereich] von 30% bis 60% einer Gesamtlänge des Rotorblattes") und der Verlauf der Profildicke ("[die Profildicke] in dem gesamten mittleren Bereich in Richtung der Rotorblattspitze streng monoton abfällt", "[die Profildicke] im Bereich des lokalen Maximums weniger stark als die Profiltiefe abnimmt") anhand der Angaben auf den Seiten 2, Zeilen 10-12 und 17-21 der ursprünglich eingereichten Beschreibung sowie anhand von Figur 4 spezifiziert wurden.
3.2 Während die Position des lokalen Maximums in einem mittleren Bereich von 30% bis 60% der Gesamtlänge des Rotorblattes unbestritten im allgemeinen Teil der Beschreibung unabhängig von weiteren Merkmalen offenbart wird, bestreiten die Beschwerdeführerinnen die Zulässigkeit der auf den Verlauf der Profildicke gerichteten Änderungen. Darum muss die Kammer nun insbesondere untersuchen, ob der Fachmann unmittelbar und eindeutig in der Figur 4 der ursprünglich eingereichten Anmeldung erkennt, dass der dort gezeigte streng monotone Abfall in dem gesamten mittleren Bereich in Richtung der Rotorblattspitze für ein beliebiges Rotorblatt mit einem lokalen Maximum seiner relativen Profildicke in einem mittleren Bereich von 30% bis 60% seiner Gesamtlänge anwendbar ist.
3.3 Die Figur 4 zeigt ein Diagramm, in dem anhand zweier Graphen die Dicke eines Rotorblatts über dem Radius dargestellt ist. Dabei betrifft ein erster Graph 300 den Profildickenverlauf eines erfindungsgemäßen Ausführungsbeispiels, ein Rotorblatt einer Windenergieanlage der Enercon GmbH vom Typ E-115, während ein zweiter Graph 302 zum Vergleich den Dickenverlauf eines anderen Rotorblatts zeigt, siehe Seite 9, Zeilen 11-16 der ursprünglich eingereichten Anmeldung. Die Einschränkung des Profildickenverlaufs erfolgt daher unbestritten anhand eines Merkmals, das nicht im allgemeinen Teil der Beschreibung, sondern nur im Zusammenhang mit einem Ausführungsbeispiel der Erfindung offenbart wird. Daher ist zu klären, ob durch diese Änderung, die das Ausführungsbeispiel zwischenverallgemeinert, ein Gegenstand entsteht, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Form hinausgeht. (Siehe hierzu die RdBK, 10. Auflage, 2022, II.E.1.9 zu Zwischenverallgemeinerungen, sowie II.E.1.13 zu Offenbarungen in den Zeichnungen.)
3.4 Die Patentinhaberin verneint das in ihrer Beschwerde-begründung, siehe die Seiten 17 und 18, mit dem Argument, dass die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 auf der sich durch die gesamten Anmeldungsunterlagen ziehenden Lehre basieren, wonach eine Profildicke eines beschriebenen Rotorblattes über die Rotorblattlänge abnimmt und zwar so abnimmt, dass es keine Zwischenaufdickungen gibt. In Figur 4 sei ein Beispiel derartiger Dickenverläufe gezeigt. Mithin sei in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen unmittelbar und eindeutig offenbart, dass die Profildicke über die Länge des Rotorblattes nicht ansteigt. Dies schließe auch - durch Fertigungstoleranzen oder Ähnliches bedingte - Abschnitte mit einer sehr geringen Abnahme der Profildicke (oder abgeflachte Abschnitte, was aus Sicht der Kammer nur für den monotonen Verlauf gemäß dem nach Rücknahme der Beschwerde der Patentinhaberin nicht aufrechterhaltenen Hilfsantrag 2 gilt) ein. Der Fachmann entnehme den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen, dass es erfindungsgemäß als vorteilhaft herausgestellt wird, eben gerade keine Profildickenerhöhung in dem relevanten mittleren Bereich vorzusehen.
3.5 In ihrer Erwiderung vom 11. Januar 2021 hat die Patentinhaberin weitere Argumente zur Zulässigkeit der Änderungen vorgebracht. Zuerst setzt sie sich mit dem Graphen 106 der Figur 2 auseinander, siehe die Seiten 2 bis 4, dritter Absatz des Schreibens. Wegen des unbestritten nicht in Figur 4 gezeigten Graphen 106 hat diese Argumentation aus Sicht der Kammer keine Relevanz für die zu untersuchende Frage einer Zwischen-verallgemeinerung dieser Figur.
3.6 Anschließend geht die Patentinhaberin auf die Frage ein, ob Figur 4 einen streng monoton abfallenden Verlauf nicht nur für den Bereich von 30 % bis 60 % der Rotorblattlänge offenbare, siehe die Seiten 4, vierter Absatz bis 6 des Schreibens, und ob ein streng monotoner Verlauf mit den auf Seite 2, Zeilen 20 und 21 der Anmeldung genannten Alternativen kombiniert werden könne. Aus Sicht der Kammer gehen diese Argumente, ob ein beanspruchtes Merkmal in der Figur eindeutig erkennbar bzw. mit Merkmalen aus anderen Teilen der Offenbarung kombinierbar ist, nicht auf die Kernfrage ein, ob das Merkmal des für das Rotorblatt E-115 gezeigten streng monotonen Abfalls der Profildicke von anderen Eigenschaften dieses konkreten Rotorblatts aus ihrem Zusammenhang in der Figur losgelöst werden kann, und somit die Offenbarung der Figur 4 zwischenverallgemeinert werden darf.
3.7 Die Kammer hat bereits in ihrer Mitteilung, siehe den Abschnitt 3.1.2, zur dieser Frage die Auffassung vertreten, dass dies nicht der Fall sei. Die Kammer hat dazu die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"3.1.2 Im Hinblick auf die Hilfsanträge 2-4 (ungeachtet der bestrittenen Zulassung von Hilfsantrag 4) betreffen die Figuren 3 und 4 der Anmeldung das E115-Rotorblatt. Dessen Maximum der relativen Profildicke liegt nicht in einem beliebigen Bereich von 30% bis 60% seiner Gesamtlänge, sondern bei 45% (Anmeldung, Seite 7, Zeile 5). Zudem weist das E115-Rotorblatt neben dem bereits genannten konkreten Profilverlauf auch noch einen linearen Dickenverlauf von der Rotorblattwurzel zum mittleren Bereich auf (Anmeldung, Seite 7, Zeilen 30 und 31). Mithin scheint Figur 4 nur einen ganz bestimmten streng monotonen Verlauf der Profildicke für ein konkretes Rotorblatt zu zeigen."
3.8 Die Patentinhaberin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen. Im vorliegenden Fall betreffen die von der Kammer in Absatz 3.1.2 ihrer Mitteilung genannten Aspekte die anderen Merkmale oder Eigenschaften des E-115 Rotorblatts, die für den Fachmann eindeutig erkennbar auch als integrale, unlösbare Teile des spezifischen Profildickenverlaufs aus der Figur 4 hervorgehen, aber nicht in den geänderten Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 aufgenommen wurden. Mangels einer weiteren Stellungnahme der Patentinhaberin sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Daher geht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 wegen der Änderung "[die Profildicke] in dem gesamten mittleren Bereich in Richtung der Rotorblattspitze streng monoton abfällt" über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus und verstößt damit gegen Artikel 123(2) EPÜ.
3.9 Mithin kann es dahingestellt bleiben, ob die weitere Änderung "[die Profildicke] im Bereich des lokalen Maximums weniger stark als die Profiltiefe abnimmt" in den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen offenbart wird.
4. Hilfsantrag 4 - Zulassung zum Verfahren
4.1 Der Hilfsantrag 4 wurde im Beschwerdeverfahren erst mit der Erwiderung der Patentinhaberin auf die Beschwerde-begründungen der Einsprechenden 1 und 2 eingereicht. Daher stellt dieser Hilfsantrag eine Änderung im Sinne von Artikel 12(4) VOBK 2020 dar, deren Zulassung zum Beschwerdeverfahren im Ermessen der Kammer steht.
4.2 Im vorliegenden Fall ist es für die Kammer anhand des schriftlichen Vorbringens der Patentinhaberin (Erwiderung vom 11. Januar 2021, Seite 12: "Die Einwände der Einsprechenden hinsichtlich Artikel 123(2) EPÜ sind demnach durch die Änderungen ausgeräumt.") nicht direkt ersichtlich, wie der Hilfsantrag 4 die Einwände gegen die Zulässigkeit der Änderungen ausräumen kann. Diesbezüglich hat die Kammer bereits in ihrer Mitteilung, siehe den in Absatz 3.7 der vorliegenden Entscheidung wiedergegebenen Abschnitt 3.1.2 der vorläufigen Meinung, die Auffassung vertreten, dass Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 unzulässige Änderungen enthält.
4.3 Die Beschwerdegegnerin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen, und während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer auf einen diesbezüglichen Vortrag verzichtet. Mithin sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen, dass die Änderungen im Hilfsantrag 4 unzulässig sind. Somit entschied die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114(2) EPÜ und Artikel 12(4) VOBK 2020, den Hilfsantrag 4 nicht zuzulassen.
5. Der Hilfsantrag 3 ist nicht gewährbar, da Anspruch 1 dieses Antrags über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, Artikel 123(2) EPÜ. Der Hilfsantrag 4 wurde nicht zugelassen.
Im Gegensatz zum Befund der angegriffenen Entscheidung stellt die Kammer somit fest, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens nicht genügen, Artikel 101 (3) b) EPÜ.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.