T 0961/21 05-05-2023
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BODENBEARBEITUNGSGERÄT; VERFAHREN ZUR HÖHENFÜHRUNG MINDESTENS EINES FINGERHACKENWERKZEUGES ÜBER EINER REIHE IN EINER REIHENKULTUR
Amazonen-Werke
H. Dreyer GmbH & Co. KG
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - Hilfsantrag (ja)
Änderung nach Ladung - Ermessensausübung
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent zu widerrufen.
In dieser hatte die Einspruchsabteilung unter anderem festgestellt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (erteilte Fassung) und Hilfsantrag 1 nicht neu sei.
II. Mit Schreiben vom 8. November 2021 nahm die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) ihren Einspruch zurück.
III. In einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK hat die Kammer die obige Feststellung der Einspruchsabteilung vorläufig bestätigt.
IV. Am 5. Mai 2023 fand in Anwesenheit der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
Während der Verhandlung ersetzte die Beschwerdeführerin ihren ursprünglichen Hilfsantrag 1 durch einen neuen (genannt "VM I").
V. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt (Hauptantrag) oder hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß Hilfsantrag VM I (eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer) oder einem der Hilfsanträge 2 bis 15 (eingereicht mit der Beschwerdebegründung).
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Bodenbearbeitungsgerät (1) für Reihenkulturen,
- mit einem Rahmen (2) und
- mit mindestens einem Träger (3), an dem mindestens ein Fingerhackenwerkzeug (9) angeordnet ist, wobei das Fingerhackenwerkzeug (9) mittels eines Querträgers (6) an dem Träger (3) angeordnet und in einer Arbeitsposition zur Bodenbearbeitung in einem Anstellwinkel zum Boden ausgerichtet ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass mindestens ein Träger (3) über einer Reihe der Reihenkultur oder über nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur angeordnet ist und zur Bearbeitung dieser Reihe der Reihenkultur oder zur Bearbeitung nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur mindestens ein an diesem Träger (3) mittels eines Querträgers (6) angeordnetes Fingerhackenwerkzeug (9) angeordnet ist und das Bodenbearbeitungsgerät (1) zur Konstanthaltung des Anstellwinkels zum Boden mindestens eine Höhenführungseinrichtung aufweist."
Anspruch 11 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Höhenführung mindestens eines Fingerhackenwerkzeuges über einer Reihe in einer Reihenkultur oder über nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur mittels eines Bodenbearbeitungsgerätes (1), das mindestens einen Träger (3) aufweist, an dem mindestens ein Fingerhackenwerkzeug (9) angeordnet ist, wobei das Fingerhackenwerkzeug (9) mittels eines Querträgers(6) an dem Träger (3) angeordnet ist und das Fingerhackenwerkzeug (9) in einer Arbeitsposition einen Anstellwinkel zum Boden aufweist,
dadurch gekennzeichnet,
dass mindestens ein Träger (3) über einer Reihe der Reihenkultur oder über nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur geführt wird und zur Bearbeitung einer Reihe der Reihenkultur oder zur Bearbeitung nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur mindestens ein an diesem Träger (3) mittels eines Querträgers (6) angeordnetes Fingerhackenwerkzeug (9) angeordnet ist und der Anstellwinkel des Fingerhackenwerkzeuges (9) in Arbeitsposition mittels mindestens einer Höhenführungseinrichtung des Bodenbearbeitungsgerätes (1) während der Bearbeitung des Bodens konstant gehalten wird."
In den unabhängigen Ansprüchen 1 und 8 des Hilfsantrags 1 / VM I ist die Alternative "oder über nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur" bzw. "oder zur Bearbeitung nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur" jeweils gestrichen.
VII. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:
D1: JP 2006 211942 A
D1': Maschinenübersetzung der D1,
wobei sich im folgenden eine Referenz auf eine Abbildung auf D1, eine Referenz auf einen Text auf die Übersetzung D1' bezieht.
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Einspruchsabteilung habe die Begriffe "über" und "nah beieinander liegende Reihen" in Anspruch 1 des Hauptantrags zu eng ausgelegt und aus diesem Grund fälschlicherweise auf mangelnde Neuheit gegenüber D1 erkannt. Der Fachmann verstehe sie im Zusammenhang mit Reihenkulturen als "direkt" oder "unmittelbar über" einer Reihe oder Mehrfachreihe, wie sie in Absatz [004] des Patents definiert ist.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Das Patent und sein technischer Hintergrund
Das Patent befasst sich mit Bodenbearbeitungsgeräten für Reihenkulturen, die mittels rotierender, in den Boden eingreifender Werkzeuge, den sog. Fingerhacken, Beikraut und Unkraut mechanisch beseitigen sollen. Gewöhnlich werden auf einen bestimmten Anstellwinkel eingestellte Fingerhacken entlang einer Pflanzreihe gezogen, wodurch klauenartige Bodenantriebselemente der Fingerhacke diese und damit ihre Jätmesser in Drehung um eine gemeinsame Drehachse versetzen.
Wichtig für einen Jäterfolg auch bei Bodenunebenheiten ist eine präzise Winkeleinstellung und Höhennachführung der Fingerhackenwerkzeuge.
3. Hauptantrag - Neuheit
3.1 Unstreitig offenbart D1 ein Bodenbearbeitungsgerät 1 für Reihenkulturen mit Reihen P nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1, das einen Rahmen 2 und ein Fingerhackenwerkzeug 34, 35 aufweist (Absätze [0001], [0028],[0051], [0052], Fig. 1).
Als Träger kann die Trägerplatte 14 mit ihren Fortsätzen 42, 43 angesehen werden, an der die Fingerhackenwerkzeuge 34, 35 mittels eines Querträgers 28 angeordnet sind, Absatz [0036], Fig. 1, 4.
3.2 Ein solcher Träger ist im Betrieb oberhalb und zwischen zwei Reihen P einer Reihenkultur angeordnet, Fig. 1.
Der in Anspruch 1 verwendete relative Ausdruck "nah beieinander liegend" kann ohne Bezugs- oder Vergleichsgröße nur sehr geringe einschränkende Wirkung entfalten. Insbesondere ist er allgemeiner als der in Absatz [004] des Patents verwendete Fachbegriff einer "Mehrfachreihe", z.B. Doppel- oder Tripelreihe. Auf eine solche Mehrfachreihe wird in diesem Absatz lediglich im Rahmen eines bevorzugten Ausführungsbeispiels mit zwei Fingerhackenwerkzeugen an jedem Träger Bezug genommen.
Daher sieht die Kammer die in Fig. 1 der D1 gezeigten Reihen P als nah beieinander liegend im Sinne des Anspruchs 1 an.
3.3 Es besteht Einigkeit, dass der Träger 14 über zwei Reihen P einer Reihenkultur angeordnet ist.
Laut Duden kennzeichnet "über" die Lage in der Höhe und in bestimmten Abstand von der oberen Seite von etwas, z.B. "die Lampe hängt über dem Tisch", "sie wohnt über uns", "500m über dem Meer". Aus dieser Definition und diesen Beispielen leitet die Kammer ab, dass die Anordnung eines Objekts über einem anderen eine zumindest bereichsweise Überlappung ihrer Umrisse voraussetzt. Eine Lampe, die unmittelbar anschließend an eine Tischplatte von der Decke hängt, hängt nicht "über dem Tisch".
Der Träger 14 liegt vollends in dem von den Umrissen der beiden Reihen P oberhalb von ihnen begrenzten Raum und somit über diesen Reihen.
3.4 D1 offenbart zum einen eine Höheneinstellungseinrichtung über ein Stützrad (Absätze [0032] - [0034], Fig. 3 - 6) und eine Einstellungseinrichtung für einen Anstellwinkel des Fingerhackenwerkzeugs zum Boden (Absätze [0042], [0043], Fig. 10). Darüber hinaus verfügt das Bearbeitungsgerät 1 nach D1 über eine als Parallelogrammführungen ausgebildete Höhen(nach)führungseinrichtungen, nämlich mit den Parallelogrammlenkern 56, 57, über die die Halter 58, 59 des Fingerhackenwerkzeugs 35 mit dem Vertikalverbindungsglied 31 gelenkig verbunden sind, in der Gesamtheit als "parallelogram links" 32, 33 bezeichnet (Absätze [0037] - [0041], Fig. 9, 10). Diese Parallelogrammlenker gewährleisten eine Höhennachführung und tragen damit dazu bei, dass der einmal eingestellte Anstellwinkel des Fingerhackenwerkzeugs zum Boden konstant gehalten wird.
3.5 Da D1 somit ein Bodenbearbeitungsgerät mit sämtlichen Merkmalen des Anspruchs 1 offenbart, ist dessen Gegenstand nicht neu im Sinne von Artikel 54(1), (2) EPÜ.
4. Hilfsantrag 1 / VM I - Zulassung
4.1 In den unabhängigen Ansprüchen 1 und 11 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 / VM I, der den bisherigen Hilfsantrag 1 ersetzt, ist gegenüber der erteilten Fassung (Hauptantrag) die Alternative "über nah beieinander liegender Reihen einer Reihenkultur" gestrichen.
Die Zulassung dieser Änderung des Vorbringens liegt im Ermessen der Kammer nach Artikel 13(2) VOBK und erfordert das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände.
4.2 Im Lauf der mündlichen Verhandlung hat die Kammer ihre ursprünglich in der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK vertretene Auslegung des Begriffs "über" revidiert und durch die oben dargelegte engere Interpretation ersetzt. Daraus folgte unmittelbar, dass die erste Alternative des erteilten Anspruchs 1 "über einer Reihe der Reihenkultur" neu gegenüber der Offenbarung der D1 war, wie nachfolgend unter Punkt 5 erläutert.
Dies stellt außergewöhnliche Umstände dar, die die Beschwerdeführerin nicht vorhersehen konnte.
4.3 Die bloße Streichung der nicht neuen Alternative "über eng beieinander liegenden Reihen" in den beiden unabhängigen Ansprüchen 1 und 11 des Hauptantrags stellt eine wenig komplexe und angemessene Reaktion der Beschwerdeführerin dar, die offensichtlich das Problem mangelnder Neuheit sofort behebt, ohne neue Fragen aufzuwerfen. Damit ist die Zulassung des Hilfsantrags 1 auch sinnvoll unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie.
4.4 Daher hat die Kammer den in der mündliche Verhandlung eingereichten Hilfsantrag 1 / VM I als Ersatz für den bisherigen Hilfsantrag 1 zum Verfahren zugelassen, Artikel 13(2) VOBK.
5. Hilfsantrag 1 / VM I: Neuheit
5.1 Gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 / VM I muss ein Träger des Fingerhackenwerkzeugs über einer Reihe einer Reihenkultur angeordnet sein.
5.2 In den von den Umrissen einer Reihe P oberhalb der Reihe begrenzten Raum ragt kein Element des Bodenbearbeitungsgeräts nach D1, das als "Träger" im Sinne des Anspruchs bezeichnet werden könnte, siehe Fig. 1. Der Träger 14 ist vielmehr über dem Stützrad 20 angeordnet, das wiederum gerade nicht über eine Reihe fahren und diese so zerstören soll. Daher ist im Gegenteil eine Überlappung von Träger 14 bzw.Stützrad 20 und Reihe P im Betrieb unbedingt zu vermeiden. Mit anderen Worten ist der Träger 14 nach D1 explizit nicht über einer Reihe P angeordnet, sondern zusammen mit dem Stützrad zwischen einzelnen Reihen mit ausreichendem "Sicherheitsabstand".
5.3 Da sich der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 / VM I durch dieses Merkmal vom Bodenbearbeitungsgerät nach D1 unterscheidet, ist er neu im Sinne von Artikel 54(1), (2) EPÜ gegenüber der Offenbarung der D1.
Dies gilt ebenso für das Verfahren des unabhängigen Anspruchs 11, das das gleiche Unterschiedsmerkmal aufweist.
6. Zurückverweisung
Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens ist die Überprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen, Artikel 12(2) VOBK. Vorliegend hat die Einspruchsabteilung lediglich über Neuheit des Hauptantrags (erteilte Fassung), des ehemaligen Hilfsantrags 1 (zurückgenommen in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer) sowie der ehemaligen Hilfsanträge 4 und 7 (jetzt 12 und 15) entschieden. Dass die Einspruchsabteilung noch nicht zur Erfüllung der übrigen Erfordernisse des EPÜ Stellung genommen hat, insbesondere noch nicht zur Frage der erfinderischen Tätigkeit für den in der mündliche Verhandlung eingereichten Hilfsantrag 1 / VM I, erachtet die Kammer als besonderen Grund im Sinne von Artikel 11 VOBK, der eine Zurückverweisung rechtfertigt.
7. Ergebnis
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Patentinhaberin letztlich erfolgreich gegen den Widerruf des Patents durch die Einspruchsabteilung. Zwar bestätigt die Kammer die Befunde der Einspruchsabteilung hinsichtlich der mangelnden Neuheit des erteilten unabhängigen Anspruchs 1 (Hauptantrag), die unabhängigen Ansprüche 1 und 11 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 / VM I sind jedoch neu gegenüber D1.
Daher ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf Widerruf des Patents aufzuheben und ist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.