T 0283/90 03-12-1992
Download und weitere Informationen:
Bilobalid zur Anwendung als Therapeutischer Wirkstoff
Neuheit (ja)
Zurückverweisung an die Erstinstanz
Novelty - first medical use (yes)
Decision re appeals - remittal (yes)
I. Die europäische Patentanmeldung 84 112 902.6 (Veröffentlichungsnummer 0 143 977) wurde von der Prüfungsabteilung zurückgewiesen. Die Zurückweisung erfolgte auf der Grundlage der ursprünglichen Ansprüche 1 bis 6.
II. Die Prüfungsabteilung begründete ihre Entscheidung damit, daß die beanspruchten Gegenstände dem Erfordernis der Neuheit nicht genügten. Zur Stützung dieses Einwands wurde auf folgende Dokumente verwiesen:
(A) Israel Pharmaceutical Journal, volume 18 (1975), Seiten 337 - 330
(B) Plantes médicinales et phytothérapie, volume 11, (1977), Seiten 189 - 197
(C) Liebigs Annalen der Chemie, Band 759 (1972), Seiten 158 - 172
(D) Ärztezeitschrift für Naturheilverfahren, Band 22, (1981), Seiten 593 - 603
(E) Therapiewoche, Band 30, (1980), Seiten 5852 - 5854
Die Prüfungsabteilung vertrat insbesondere die Auffassung, daß Dokument (A) die Lehre vermittle, daß die therapeutisch ausnützbare venentonisierende Wirkung der Ginkgo Extrakte auf die Anwesenheit von Terpenen, insbesondere Sesquiterpenderivaten, zurückzuführen sei. Auch gehe aus dieser Entgegenhaltung hervor, daß mit dem Ausdruck "Sesquiterpenderivate" konkret die Stoffe Bilobanon und Bilobalid gemeint seien. Damit sei aber bereits eine medizinische Indikation für Bilobalid offenbart. Außerdem sei das hier in Rede stehende Wirkungsspektrum von Ginkgo Extrakt in Dokument (B) vorbeschrieben, und zwar aufgrund der ausdrücklichen Nennung folgender Indikationen: akute und chronische Insuffizienz der Gehirndurchblutung, Krämpfe, Schwindel, Kopfschmerzen, Gedächtnisschwund, Störung der Motorik, Indikationen im Bereich der Oto-Rhino-Laryngologie und der Ophthalmologie.
Auch wenn durch Änderung der Ansprüche deren Neuheit anerkannt werden könnte, würden solche Ansprüche voraussichtlich das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfüllen. Abgesehen davon, daß es sich bei den erfindungsgemäßen therapeutischen Verwendungen, wie "nervale Erkrankungen, demyelinisierende Neuropathien, Encophalopathien, Myelopathien und Hirnödeme", um sehr allgemeine (d. h. unspezifische) Indikationen handele, dürften diese in einem engen Zusammenhang mit der bekannten venentonisierenden Wirkung des Bilobalids stehen. Da Bilobalid seit langem als charakteristischer Bestandteil der Ginkgo Extrakte bekannt sei, habe es nahegelegen zu vermuten, daß das Wirkungsspektrum des Bilobalids eine Ähnlichkeit mit der Wirkung von Arzneimitteln auf der Basis von Ginkgo Extrakten aufweisen würde.
III. Die Beschwerdeführerin hat gegen diese Entscheidung Beschwerde erhoben.
IV. Eine mündliche Verhandlung fand am 3. Dezember 1992 statt. Im Verlaufe dieser Verhandlung legte die Beschwerdeführerin einen geänderten Anspruchssatz vor (siehe Punkt VI weiter unten).
Zur Begründung ihrer Beschwerde führte die Beschwerdeführerin im Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen folgendes aus:
Keine der genannten Vorveröffentlichungen beschreibe die Eignung von Bilabolid als Arzneistoff. Die zufällige Anwesenheit dieses Stoffes als Begleitsubstanz eines komplexen Gemisches von Verbindungen in einem Ginkgo Präparat stelle keine neuheitsschädliche Vorwegnahme eines Erzeugnisses bzw. Stoffes gemäß Artikel 54 (5) EPÜ dar.
Der beanspruchte Gegenstand werde auch nicht durch den Stand der Technik nahegelegt. Aus dem Stand der Technik sei nicht ersichtlich, welcher der zahlreichen Inhaltsstoffe von Ginkgo biloba Extrakten eine therapeutische Wirkung besitze; insbesondere gebe es keinen Hinweis darüber, daß derartige Extrakte nervalen Erkrankungen entgegenwirkten. Die Behauptung in der angefochtenen Entscheidung, daß ein enger Zusammenhang bestehe zwischen der venentonisierenden Wirkung des Extraktes und den beanspruchten Indikationen des Bilobalids werde durch keine weiteren Angaben gestützt.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte, die Zurückweisungsentscheidung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage der in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüche 1 und 2 zu erteilen.
VI. Die nun geltenden Ansprüche lauten wie folgt:
"1. Bilobalid zur Anwendung als nervalen Erkrankungen entgegenwirkender Stoff."
"2. Bilobalid zur Anwendung gemäß Anspruch 1 als demyelinisierenden Neuropathien, Encephalopathien, Myelopathien und Hirnödemen entgegenwirkender Stoff."
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Es bestehen keine formalen Bedenken gegen die Fassung der Ansprüche in der vorliegenden Form (Art. 123 (2) EPÜ).
Der geltende Anspruch 1 basiert auf dem ursprünglichen Anspruch 2 und der davon abhängige Anspruch 2 auf dem ursprünglich unabhängigen Anspruch 3, wobei sich die Abhängigkeit dieses Gegenstandes vom Gegenstand des Hauptanspruchs aus der Beschreibung herleiten läßt (vgl. Seite 2, Zeile 30 bis Seite 4, Zeile 1).
3. Bereits in der Entscheidung T 128/82 (ABl. EPA 1984, 184) wurde ausdrücklich auf folgendes hingewiesen: "Gemäß Art. 54 Absatz 5 EPÜ gilt eine bekannte, aber therapeutisch nicht genutzte Verbindung als neu. Die Neuheit wird aber nicht nur dadurch zerstört, daß dieselbe spezifische therapeutische Wirkung schon zum Stand der Technik gehört; vielmehr ist die Veröffentlichung jeder anderen spezifischen therapeutischen Anwendung neuheitsschädlich" (siehe Punkt 13 der Entscheidungsgründe).
Es stellt sich daher die Frage, ob im vorliegenden Fall für Bilobalid, ein Stoff der in Extrakten aus Blättern von Ginkgo biloba enthalten ist, eine therapeutische Wirkung bzw. Anwendung im entgegengehaltenen Stand der Technik angegeben wird.
3.1. Dokument (A), eine Veröffentlichung aus dem Jahre 1975, beschreibt venentonisierende Arzneimittel am Beispiel von drei Phytopharmaka hergestellt aus Ginkgo biloba, Centella asiatica und Roßkastanie. In dem Teil der Druckschrift, der sich mit dem Extrakt aus Ginkgo biloba befaßt, wird auf eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Inhaltsstoffe aufmerksam gemacht, wobei insbesondere die für diesen Baum typischen Verbindungen Bilobanon und Bilobalid (Sesquiterpene) bzw. Ginkolide (Diterpene) hervorgehoben werden; daher führten die Blätter zu einem hervorragenden venentonisierenden Arzneimittel (GINKOR des Laboratoires BEAUFOUR). In der abschließenden Zusammenfassung (Résumé) wird die Wirkung von Ginkgo biloba mit den Sesquiterpen- und den Diterpenderivaten in Verbindung gebracht (siehe Seite 336 und 337).
Wie von der Beschwerdeführerin treffend bemerkt, enthält dieses Dokument in Wirklichkeit keine Angaben hinsichtlich der tatsächlichen Wirkung der einzelnen Inhaltsstoffe, auch nicht der besonders hervorgehobenen, so daß völlig im Dunkeln bleibt, auf welche Verbindungen die Wirkung des Arzneimittels zurückgeht. Die Zusammenfassung (Résumé) am Ende des Dokuments ist nach Auffassung der Kammer nicht geeignet weitergehende Informationen zu vermitteln als die Abhandlung selbst, da die für diesen Zweck zwangsläufig stark gekürzte Inhaltsbeschreibung auf jeden Fall unvollständig ist. Der eigentliche Sinn einer Zusammenfassung liegt nämlich darin, dem interessierten Fachmann den Gegenstand der Abhandlung in Kurzform vorzustellen, damit dieser schnell erfassen kann, ob er sich damit näher befassen soll oder nicht (vgl. T 228/90 vom 8. April 1992, Punkt 5.1.2 der Entscheidungsgründe). Es gibt somit keine Anhaltspunkte dafür, daß die therapeutisch ausnützbare venentonisierende Wirkung der Ginkgo Extrakte auf die Anwesenheit von Terpenen, insbesondere Sesquiterpenderivaten zurückzuführen ist.
Unter diesen Umständen braucht die Kammer nicht näher auf die weiteren Einwände der Beschwerdeführerin einzugehen, nämlich daß der in Dokument (A) erwähnte therapeutische Extrakt GINKOR das Sesquiterpen Bilobanon nicht enthalte bzw. daß es dort keine konkreten Hinweise dafür gebe, daß dieses Präparat tatsächlich Bilobalid enthalte. Auch kann dahingestellt bleiben, ob die therapeutische Wirksamkeit des Handelsproduktes GINKOR (Laboratoires BEAUFOUR) auf die Anwesenheit eines gefäßaktiven Mittels (Troxérutine) zurückzuführen ist oder nicht.
3.2. Dokument (B), eine wissenschaftliche Arbeit, die ca. 2 Jahre nach Dokument (A) veröffentlicht wurde, kann außerdem als ausdrückliche Bestätigung dafür gesehen werden, daß in der Tat die mangelnde Kenntnis an Zusammenhängen zwischen chemischen und pharmakologischen Ergebnissen keine Aussage über die aktiven pharmakologischen Prinzipien des Ginkgo Extrakts erlauben. Wie dort ausgeführt, sind Arbeiten zur Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Chemie und Pharmakologie der Moleküle des Extraktes noch gar nicht vorgenommen worden oder haben noch keine Ergebnisse erbracht, so daß es fraglich ist, ob tatsächlich die ursprünglich im Extrakt vorhandenen Substanzen von pharmakologischem Interesse sind oder ob diese vielleicht bei der Herstellung des Extraktes zerstört wurden (was nicht ausgeschlossen ist) (siehe Seite 195, letzte 5 Zeilen und Seite 196, Zeilen 11 bis 15). Im übrigen betreffen die von der Prüfungsstelle besonders hervorgehobenen therapeutischen Wirkungsangaben ausschließlich den Ginkgo Extrakt als solchen (siehe Punkt II oben). In diesem Zusammenhang wurde dort insbesondere auf zwei Handelsprodukte hingewiesen, nämlich GINKOR (Laboratoires BEAUFOUR) (das gleiche Präparat wie in Dokument (A) - siehe Punkte 3.1 oben) und TANAKAN (Laboratoires IPSEN).
3.3. Auch die übrigen Dokumente (C), (D) und (E) enthalten keine Informationen bezüglich der therapeutischen Wirksamkeit von Bilobalid:
- Dokument (C) berichtet lediglich über den Befund, daß diese Verbindung in verschiedenen aus Ginkgo biloba hergestellten Arzneimitteln nachgewiesen wurde und daß weder Bilobalid noch die Ginkgolide baktericide, fungicide oder cancerogene Wirkung (Entzündlichkeit am Ohr der Maus) zeigen (siehe Seite 160, letzter Absatz).
- In Dokument (D), einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1981, wird nur den Flavonverbindungen vom Typ Flavonglykosid-coumaroylester eine pharmakologische Wirkung zugeschrieben; die weiteren Inhaltsstoffe Bilabolid und Ginkgolide A, B, C wurden lediglich als "charakteristisch" für Ginkgo biloba bezeichnet (siehe Seite 594, linke Spalte, letzter Absatz mit Abbildung 1 und rechte Spalte, erster Absatz mit Abbildung 2).
- Dokument (E) berichtet über die Wirkung des TeboninR (Extrakt aus den Blättern des Ginkgo biloba) beim Hörverlust unbekannter Ursache und toxischer Innenohrschwerhörigkeit. Gemäß den dortigen Angaben ist der Extrakt charakterisiert durch die chemischen Verbindungen Bilobalide und Ginkgolide A, B, C sowie die Glykoside der Flavonaglyka Quercetin, Isorhamnetin und Kämpferol, wobei die Wirksamkeit von Tebonin im Tierexperiment und am Menschen nachgewiesen wurde (siehe Seite 5852, linke Spalte, erster und zweiter Absatz).
3.4. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß keines der genannten Dokumente eine therapeutische Wirkung oder Anwendung für Bilobalid beschreibt. Der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 ist daher neu. Das gleiche gilt für den davon abhängigen Anspruch 2.
4. Es verbleibt noch zu untersuchen, ob der Gegenstand der nun geltenden Ansprüche auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Die Kammer möchte diesbezüglich anmerken, daß der seitens der Prüfungsabteilung geäußerte Einwand, nämlich daß es sich bei den angegebenen therapeutischen Verwendungen (nervale Erkrankungen usw.) "um sehr allgemeine (d. h. unspezifische) Indikationen handelt, die außerdem in einem engen Zusammenhang mit der bekannten venentonisierenden Wirkung des Bilobalids stehen dürften" (siehe Punkt II oben), nichts weiter als eine spekulative Betrachtung darstellt, da nicht ersichtlich ist worauf ein derartiger Einwand eigentlich basiert. Die Kammer war nicht in der Lage zu klären, ob es sich dabei um einen nicht genannten Stand der Technik, um allgemeines Fachwissen aus einem (auch nicht genannten) Lehrbuch oder um persönliches Wissen handelt. Auch hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestritten, daß ein solcher Zusammenhang existiere. Aus diesem Grunde und im Hinblick auf das Recht der Beschwerdeführerin auf ein Verfahren in zwei Instanzen, ist es nicht Sache der Kammer die noch ausstehende Prüfung im Sinne von Artikel 56 EPÜ selbst vorzunehmen.
Die Kammer macht daher von der ihr in Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die Sache zur weiteren Prüfung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Dies entspricht außerdem der seitens der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vorgeschlagenen Verfahrensweise.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Sachprüfung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.