T 0978/96 (Freilaufdiodeneinrichtung/SEMIKRON) 01-02-1999
Download und weitere Informationen:
Kommutierungszweig mit Freilaufdiodeneinrichtung
Neuheit einer Einrichtung durch neue Verwendungsangabe (nein)
Andere zugrundeliegende Idee als Unterscheidungsmerkmal (nein)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung der Patentanmeldung Nr. 92 115 453.0. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung ist damit begründet, daß der Gegenstand des am 30. November 1995 telefonisch vereinbarten Anspruchs 1 (Anlage zum Bescheid vom 15. Februar 1996), auf dessen Grundlage die Erteilung eines Patents beantragt wurde (siehe Punkte 5 und 6 der angefochtenen Entscheidung), gegenüber der Offenbarung des Dokuments D3 (Patent Abstracts of Japan, Band 13, Nr. 164 (E-745) 1989, 26. Dezember 1988 & JP-A-63316919) nicht neu sei. Im Verfahren vor der Prüfungsabteilung wurde unter anderem auch Dokument D1 (EP-A-0 189 340) genannt.
II. Der Beschwerdeführer legte mit der Beschwerdebegründung vom 14. Oktober 1996 neue Ansprüche 1 bis 5 vor und beantragte, ein Expertengutachten einzuholen, die Zurückweisung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der neuen Ansprüche zu erteilen. Zur Stützung seiner Argumente reichte er eine auszugsweise Übersetzung des Dokuments D3 ins Englische sowie folgende weiteren Dokumente ein:
D4: BALIGA, B.J., "Modern Power Devices", 1987, JOHN WILEY & SONS, New York, US, Seiten 409 - 410
D5: MOHAN, N. et al, "Power Electronis: Converters, Applications, and Design", 1989, JOHN WILEY & SONS, New York, US, Seiten 462 - 467 und 520 - 532.
III. Die Kammer informierte den Beschwerdeführer in einer Mitteilung vom 29. Juni 1998, daß sie die Einholung eines Expertengutachtens in Anwendung des Artikels 117 (3) EPÜ nicht für erforderlich halte. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, anscheinende Widersprüche zwischen seinen Anträgen und Ausführungen klarzustellen. Weiter wurde dargelegt, daß der Gegenstand des Anspruchs 1, wie er der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag, nicht neu zu sein scheine und daß das zusätzliche Merkmal des neu vorgelegten Anspruchs 1 ("Kommutierungsvorgang von der Durchlaß- in die Sperrphase") möglicherweise in dem Dokument D3 offenbart oder nahegelegt sei. Um diese Frage zu klären, wurde die Anforderung einer vollständigen Übersetzung angekündigt.
Es wurde ferner darauf hingewiesen, daß auch die Neuheit des Anspruchs 1 gegenüber dem Stand der Technik nach Dokument D1 fraglich sei und daß wesentliche, vom Beschwerdeführer geltend gemachte Unterschiede ohne eine Klarstellung der Ansprüche nicht zuträfen. Die Patentfähigkeit eines entsprechend klargestellten Anspruchs 1 wurde, abhängig vom Inhalt der Übersetzung, in Aussicht gestellt.
IV. Mit einer weiteren Mitteilung der Kammer vom 7. September 1998 wurde dem Beschwerdeführer eine vollständige englische Übersetzung des Dokuments D3 zugesandt, auf die im folgenden als D3' Bezug genommen wird. Die Mitteilung verwies in einer Schlußfolgerung für die vorangehende Mitteilung darauf, daß D3' keine Hinweise auf ein unterschiedliches "Abschaltverhalten" oder auf eine "Verwendung als Freilaufdiode" zu entnehmen seien. Abschließend wurde nochmals auf den unterschiedlichen Abschaltvorgang und eine mögliche Patenterteilung bei entsprechender Klarstellung der Ansprüche hingewiesen.
V. Mit Schreiben vom 10. Dezember 1998 nahm der Beschwerdeführer zu den Mitteilungen der Kammer Stellung und beantragte:
"Aufheben des Zurückweisungsbeschlusses" und "Erteilung eines Patentes auf der Grundlage der Ansprüche vom 29.11.1995".
Hilfsweise wurde beantragt, die Patentierbarkeit erneut durch eine Prüfungsstelle beim Europäischen Patentamt prüfen zu lassen.
VI. Der gemäß dem letzten Antrag (Ziffer V supra) geltende Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
"Freilaufdiodeneinrichtung (10) für einen ein schaltbares Bauelement aufweisenden Kommutierungskreis, bestehend aus zwei Dioden, wovon die eine Diode (12) ein relativ weiches Schaltverhalten bei dem Kommutierungsvorgang und die parallel geschaltete zweite Diode (14) ein relativ hartes Schaltverhalten aufweist."
Diesem Anspruch schließen sich die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 an.
VII. Der Beschwerdeführer argumentiert im wesentlichen wie folgt:
Die Unterschiede zwischen der aus Dokument D3 bekannten Einrichtung und dem Gegenstand der vorliegenden Anmeldung seien in der angefochtenen Entscheidung fachlich falsch bewertet. Das bekannte Diodenpaar (D1, D2) sei nicht Teil einer Freilaufdiodeneinrichtung, sondern Teil eines "snubber-circuits", bei dem es nicht auf das Ausschaltverhalten, sondern auf das Einschaltverhalten der Dioden ankomme. Eine der beiden bekannten Dioden (D1) sei eine Netzdiode, die wegen der hohen gespeicherten Ladung ein hartes Abreißen des Rückstroms erzeuge und die der Fachmann daher nicht als Freilaufdioden einsetze.
Die vorliegende Freilaufdiodeneinrichtung habe die Aufgabe, das "Reverse-Recovery-Verhalten" zu verbessern. Beide Dioden seien schnelle Dioden, wie dies bei Freilaufdioden sein müsse. Für den Durchschnittsfachmann sei der Begriff Freilaufdiode ausreichend definiert. Es sei unnötig, weitere redundante Merkmale im Anspruch hinzuzufügen, über die der Fachmann hinweglese. Die Kommutierung in Schaltungsanordnungen sei an die Existenz von Freilaufdioden gebunden. Die Präzisierung, daß es sich um den Reverse-Recovery-Vorgang handle, zusätzlich zum Begriff Kommutierung für Freilaufdioden, erübrige sich daher. Denn es komme auf den fachlichen Gehalt des Anspruchs und nicht auf formalistische Gründe an. Auch andere Hauptanspruchsformulierungen seien erfinderisch, wenn sie keine Verfälschung des erfinderischen Gedankens beinhalten.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zu den vorgenommenen Änderungen:
2.1. Die im geltenden Anspruch 1 gegenüber dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen ("Kommutierungskreis" statt "Kommutierungszweig" und die Einfügung "relativ" vor "weiches" und "hartes Schaltverhalten") sind für den Fachmann aus der Beschreibung der Kommutierungsvorgänge anhand der Figuren 5 und 6 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar entnehmbar.
2.2. Eine Prüfung der weiteren Änderungen auf ihre Zulässigkeit unter Artikel 123 (2) EPÜ erübrigt sich im Hinblick auf das Ergebnis des Verfahrens.
3. Zur Frage der Auslegung des Anspruchs 1:
3.1. Artikel 84 EPÜ legt fest, daß die Patentansprüche den Gegenstand angeben müssen, für den Schutz begehrt wird. Dazu müssen sie unter anderem deutlich sein. Regel 29 (1) EPÜ führt dazu aus, daß dies durch Angabe der technischen Merkmale der Erfindung zu erfolgen habe. Regel 29 (2) EPÜ erwähnt die dafür vorgesehenen unterschiedlichen Kategorien (Erzeugnis, Verfahren, Vorrichtung oder Verwendung).
3.2. Dabei müssen die Patentansprüche die technischen Merkmale der Erfindung so eindeutig definieren, daß der beanspruchte Bereich festgelegt und ein Vergleich mit dem Stand der Technik angestellt werden kann, um sicherzustellen, daß die beanspruchte Erfindung unter anderem neu ist. Das ist nur dann der Fall, wenn der beanspruchte Gegenstand mindestens ein technisches Merkmal enthält, durch das er sich vom Stand der Technik unterscheidet (dazu Entscheidung G 6/88, ABl. EPA 1990, 114, Punkt 6). Ist ein Patentanspruch auf einen Gegenstand gerichtet, so sind seine technischen Merkmale dessen physikalische Parameter (dazu Entscheidung G 6/88, supra, Punkt 2.5), und es fehlt ihm die Neuheit, wenn der Gegenstand selbst - ungeachtet seiner Verwendung - zum Stand der Technik gehört (dazu Entscheidung G 2/88, ABl. EPA 1990, 93, Punkt 5). Nur wenn der Patentanspruch auf eine bestimmte Verwendung gerichtet ist, sind die dabei auftretenden technischen Wirkungen als Abgrenzungsmerkmale der Erfindung zu berücksichtigen.
3.3. Die vorliegenden Ansprüche richten sich auf eine Freilaufdiodeneinrichtung. Für die Neuheitsprüfung sind damit nur solche Merkmale zu berücksichtigen, die anspruchsgemäß zu dieser Einrichtung - ungeachtet ihrer möglichen Verwendung in einer besonderen Schaltung - gehören.
Die Auffassung des Beschwerdeführers, daß es bei der Gewährbarkeit eines Anspruchs nur auf den "fachlichen Gehalt" der Ansprüche und den "erfinderischen Gedanken" ankomme, ist daher mit dem EPÜ und der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht vereinbar. Zur eindeutigen Festlegung des beanspruchten Gegenstandes erforderliche Merkmale einer Einrichtung können auch dann nicht als überflüssig angesehen werden, wenn der Fachmann eine erfinderische Idee aus der Anmeldung erkennen könnte.
3.4. "Freilauf" im Sinne der vorliegenden Anmeldung ist eine Eigenschaft eines Hilfszweiges einer elektrischen Schaltung, welcher das Weiterfließen des Stroms durch eine Induktivität in einem Hauptzweig ermöglicht, wenn der Strom im Hauptzweig unterbrochen wird. Freilaufdioden sind zum Beispiel bei Relaisspulen, Erregerfeldspulen von Generatoren und Umrichtern üblich. Der Freilaufzweig kann parallel zur Last geschaltet sein, wie z. B. die Dioden D2 in Dokument D1 (Figuren 1, 3, 4), D0 in Dokument D3' oder Df in Dokument D5 (Figur 20-37 (a)). Die Freilaufdiode kann auch parallel zu einem schaltbaren Bauelement geschaltet sein (siehe z. B. Df in Dokument D5, Figur 20-44).
3.5. Anspruch 1 beschränkt sich aber nicht deutlich auf einen Freilaufzweig als Teil eines elektrischen Schaltkreises (z. B. eine bestimmte Anordnung der Einrichtung in einem Kommutierungskreis einer elektrischen Schaltung). Die gewählte Formulierung "Freilaufdiodeneinrichtung (10) für einen ... Kommutierungskreis" umschreibt lediglich eine bestimmte Eignung der definierten Einrichtung. Ein Anspruch auf eine Einrichtung per se wird jedoch durch eine solche Eignungssangabe nicht auf diese Verwendung beschränkt (siehe 3.2 oben).
3.6. Die beanspruchte Einrichtung spezifiziert somit außer den genannten Dioden weder weitere Merkmale der Einrichtung hinsichtlich der physischen Struktur (der Bauelemente oder ihrer Schaltkreisverbindungen) noch weitere Merkmale der beabsichtigten Verwendung der Einrichtung (Schalthäufigkeit, Strom-, Spannungs- oder Zeitanforderungen), die bestimmte physikalische Merkmale der Diodeneinrichtung implizieren könnten.
3.7. Das Argument des Beschwerdeführers, daß beide Dioden schnelle Dioden sein müßten, da sie der Fachmann sonst nicht als Freilaufdioden einsetzen würde, ist nicht überzeugend. Weder sind solche Merkmale im Anspruch explizit genannt, noch ist die Einrichtung auf eine bestimmte Verwendung von Freilaufdioden (z. B. in einem Umrichter) beschränkt, auf die eine solche Einschränkung zutreffen mag.
3.8. Ebenso kann der Ausdruck "Schaltverhalten bei dem Kommutierungsvorgang" nicht auf das Verhalten beim Ausschalten des Diodenstroms beschränkt werden. Denn bei einer Freilaufdiodeneinrichtung setzt ein Kommutierungsvorgang beim Öffnen eines Schalters ein und ist beendet, wenn der ganze Strom vom Diodenzweig übernommen ist. Der umgekehrte Vorgang findet beim Ausschalten des Diodenstroms statt. Während beider Vorgänge können Überspannungen auftreten (siehe D5, Punkt 19-5-1 und Figur 19-9).
Die Begriffe "relativ weiches" bzw. "hartes Schaltverhalten" stehen für unterschiedliche Stromsteilheiten (siehe vorliegende Anmeldung, Seite 1, letzter Absatz - Seite 2, Absatz 1 und Figur 6).
4. Zur Frage der Neuheit:
4.1. Das Dokument D3' offenbart eine Diodeneinrichtung, bestehend aus zwei Dioden, wovon die eine Diode (D2) ein relativ weiches Schaltverhalten bei dem Kommutierungsvorgang und die parallel geschaltete zweite Diode (D1) ein relativ hartes Schaltverhalten aufweist. Diese Eigenschaft der bekannten Einrichtung trifft für den Einschaltvorgang der Diodenströme unbestritten zu (siehe D3', Seite 6, letzter Absatz; Beschwerdebegründung, Seite 5, Absätze 3 und 4).
4.2. Das aus Dokument D3' (Figur 1) bekannte Diodenpaar (D1, D2) wird in einem Hilfszweig eingesetzt, der als Freilaufzweig für die Streuinduktivität (lS) angesehen werden kann, da der durch die Streuinduktivität und durch das schaltbare Bauelement (Q1) fließende Strom beim Öffnen des schaltbaren Bauelements in diese Dioden kommutiert (D3', Seite 6, letzter Absatz; Beschwerdebegründung, Seite 3, Zeilen 5 bis 9 von unten). Eine Diodeneinrichtung, die als Freilauf für einen ein schaltbares Bauelement (Q1) aufweisenden Kommutierungskreis geeignet ist, ist also auch in dem Dokument D3' offenbart.
4.3. Die Einrichtung des Anspruchs 1 ist somit nicht deutlich von dem unterscheidbar, was nach Dokument D3' zum Stand der Technik gehört, auch wenn die bekannte Einrichtung als snubber-circuit verwendet wird. Der beanspruchte Gegenstand kann folglich nicht als neu gelten (Artikel 54 (1) EPÜ), und die Anmeldung erfüllt nicht das Erfordernis des Artikels 52 (1) EPÜ.
5. Das Europäische Patentamt hat sich bei der Prüfung an die vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung der Anmeldung zu halten (Artikel 113 (2) EPÜ). Der Beschwerdeführer hat trotz deutlicher Hinweise der Kammer auf mangelnde Neuheit des Gegenstandes ohne entsprechende Klarstellung einen unabhängigen Anspruch 1 zu seinem Hauptantrag gemacht, der breiter gefaßt ist, als die Fassung, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag (welche zusätzlich spezifiziert: "Kommutierungszweig mit einem schaltbaren Bauelement"), und die Fassung, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurde (welche zusätzlich spezifiziert: "Schaltverhalten bei dem Kommutierungsvorgang von der Durchlaß- in die Sperrphase").
6. Da die vorgelegte Fassung des Anspruchs 1 nicht gewährbar ist, erübrigt sich eine Berücksichtigung anderer nicht eindeutig vom Anmelder gebilligter Fassungen sowie der abhängigen Ansprüche 2 - 5.
7. Für eine erneute Prüfung der Patentierbarkeit durch eine Prüfungsstelle, also eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung (Artikel 111 (1) EPÜ), sieht die Kammer im vorliegenden Fall keine Veranlassung.
Der Beschwerdeführer hat selbst darauf hingewiesen, daß sich der vorliegende Anspruch 1 fachlich nicht von dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 unterscheidet (Schreiben vom 10. Dezember 1998, Seite 2, Absatz 1). Die Prüfungsabteilung hat den Gegenstand dieses Anspruchs in ihrem Bescheid vom 8. August 1995 (Punkte 4.1 bis 4.4) als nicht neu angesehen. Dieser Ansicht hat der Anmelder mit Schreiben vom 5. September 1995 (Seite 1, Absatz 1) "vollinhaltlich" zugestimmt und neue Ansprüche eingereicht. Da dem weiteren Prüfungsverfahren weiter eingeschränkte Ansprüche zugrunde lagen, die schließlich zur Zurückweisung der Anmeldung durch die Prüfungsabteilung führten, hat der Anmelder bereits vor beiden Instanzen Gelegenheit gehabt, den ursprünglichen Anspruch 1 prüfen zu lassen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.