T 0522/97 21-03-2001
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Verfahren zur formgebenden Bearbeitung von Werkstücken
Neuheit (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
I. Auf die internationale Anmeldung PCT/EP90/00395 wurde das europäische Patent Nr. 0 467 892 erteilt.
Anspruch 3 in der erteilten Fassung lautet:
"Verfahren zur formgebenden Drehbearbeitung von Werkstücken, bei welchem das zu bearbeitende Werkstück und ein auf das Werkstück einwirkendes Werkzeug unter Abtrag von Werkstückmaterial in einer aus einer Abtragbewegung und einer Zustellbewegung resultierenden Wirkbewegung zur Erzeugung einer gekrümmten Werkstückoberfläche relativ zueinander bewegt werden, wobei das Werkzeug eine gegen die zu bearbeitende Werkstückoberfläche einwirkende, langgestreckte Wirkzone aufweist, bei welchem das Werkzeug und das Werkstück so relativ zueinander geführt werden, daß die Wirkzone des Werkzeugs in allen Bearbeitungspositionen im wesentlichen punktweise oder mit einem im Vergleich mit ihrer Längserstreckung oder Flächenausdehnung kurzen Streckenabschnitt auf die Werkstückoberfläche einwirkt und die im wesentlichen quer zur Abtragbewegung verlaufenden Tangenten durch die Wirkzone des Werkzeugs und die zu erzeugende Werkstückoberfläche in den momentanen Bearbeitungspositionen zusammenfallen (Tangentenbedingung), und bei welchem das Werkzeug und das Werkstück durch translatorische und rotatorische Zustellbewegungen nach Maßgabe der Tangentenbedingung relativ zueinander geführt werden,
dadurch gekennzeichnet, daß
in allen Bearbeitungspositionen immer der gleiche Punkt entlang der Wirkzone als Wirkpunkt ausgewählt wird, daß die zu erzeugende Werkstückoberfläche konkav gekrümmt ist und daß die Wirkzone des Werkzeugs in ihrer Längserstreckung mit gegenüber dem kleinsten Krümmungsradius der Werkstückoberfläche geringfügig kleinerem Krümmungsradius konvex gekrümmt ist."
II. Mit ihrer am 3. Februar 1997 verkündeten und am 5. März 1997 zur Post gegebenen Zwischenentscheidung hat die Einspruchsabteilung den Hauptantrag der Patentinhaberin, das Patent wie erteilt aufrechtzuhalten, abgelehnt mit der Begründung, der Gegenstand des erteilten Anspruchs 3 weise nicht die erforderliche erfinderische Tätigkeit gegenüber
D1: EP-A-0 249 046 auf.
Sie hielt das Patent mit einem sprachlich korrigierten, den Anspruch 3 nicht mehr enthaltenden Anspruchssatz und angepaßter Beschreibung aufrecht.
Die Einspruchsabteilung vertrat die Auffassung, der Gegenstand des Anspruchs 3 des Patents in der erteilten Fassung unterscheide sich von D1 nur durch das Merkmal, daß:
"die Wirkzone des Werkzeugs in ihrer Längserstreckung mit gegenüber dem kleinsten Krümmungsradius der Werkstückoberfläche geringfügig kleinerem Krümmungsradius konvex gekrümmt ist".
Es sei als naheliegend zu betrachten, daß der Fachmann auch unter Anwendung des aus D1 bekannten Verfahrens das Werkzeug so bestimmen werde, daß die größte konkave Werkstückkrümmung mit dem Werkzeug zu fertigen sei.
III. Folgende Dokumente des Standes der Technik aus dem Einspruchsverfahren sind für das Beschwerdeverfahren noch von Bedeutung:
D2: DE-C-2 527 643
D5: DE-C-0 867 636
D6: American Machinist, 23. Mai 1955, Seite 161
D7: J.W. Urbanek, "Diamanten als Feinbearbeitungswerkzeuge", Schriftenreihe Feinbearbeitung, 1956
D8: W. Mink, "Feinmechanik", O. Maier Verlag, Ravensburg, 1954, Seiten 125 und 126
D10: Prospekt "Moore Präzisionsprodukte für erhöhte Produktivität".
IV. Am 13. Mai 1997 legte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr Beschwerde gegen diese Entscheidung ein, zu der sie am 9. Juli 1997 eine Begründung einreichte. Sie beantragte Aufrechterhaltung des Patents mit den Ansprüchen wie erteilt, jedoch in einteiliger Form, hilfsweise die Aufrechterhaltung in der erteilten Fassung.
In ihrem Schreiben vom 21. August 1997 entgegnete die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) der Beschwerde.
V. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung nach Artikel 11 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern vom 6. Juli 2000 wies die Kammer darauf hin, daß die Änderungen in den Ansprüchen nach dem Hauptantrag nach Regel 57a EPÜ nicht durch Einspruchsgründe veranlaßt waren und somit der Hauptantrag nicht gewährbar sei. Zum Hilfsantrag wurde angedeutet, daß die Neuheit gegeben scheine und während der Verhandlung die erfinderische Tätigkeit zu diskutieren sei.
VI. Eine mündliche Verhandlung hat am 21. März 2001 stattgefunden. Die Beschwerdegegnerin wurde ordnungsgemäß geladen, hat jedoch der Kammer mit Schreiben vom 10. Juli 2000 mitgeteilt, nicht zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen; es wurde ohne sie verhandelt (Regel 71 (2) EPÜ).
Am Ende dieser Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten.
VII. Die Argumente der Beschwerdeführerin zur Stützung ihres Antrags lassen sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen:
Die Textstelle der D1 (Spalte 4, 2. Absatz), die von der Beschwerdekammer als nächstkommender Stand der Technik für den Gegenstand des erteilten Anspruchs 3 gesehen werde, betreffe keine Drehbearbeitung, sondern eine Schleifbearbeitung. Das Schleifwerkzeug habe dabei keinen Wirkpunkt, die "Tangentenbedingung" könne daher auch nicht erfüllt werden. Die einzige Stelle in der D1, die von dem beanspruchten Formdrehen handele, sei Spalte 2, Zeile 48 bis Spalte 3, Zeile 11. Dort werde jedoch keine rotatorische Zustellbewegung ausgeführt, sondern einmalig eine Winkelstellung des Spindelkopfes vorgenommen, um eine Kegelmantelfläche abdrehen zu können. Mit den sonst noch genannten Profilstählen und Bohrstangen sei auch kein Formdrehen eines konkaven Werkstücks möglich.
VIII. Die Beschwerdegegnerin vertrat die Auffassung, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei zurecht ergangen. Das genannte Merkmal stelle wirklich nur der einzige Unterschied zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 3 und der D1 dar. Nach dem 5. Absatz der Spalte 4 der D1 sei klar, daß die vorher beschriebene Maschine eine Drehmaschine darstelle, in der definitionsgemäß gedreht werden könne. Mit dem konstanten Anstellwinkel sei gewährleistet, daß die "Tangentenbedingung" erfüllt werde. Das einzig unterscheidende Merkmal, der geringfügig kleinere Krümmungsradius des Werkzeugs gegenüber dem des konkaven Werkstücks, sei unter Berücksichtigung der jeweiligen Lehren der D5 bis D8 naheliegend.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Formelle Erfordernisse
2.1. Die Beschwerdegegnerin hatte mit ihrem Schreiben vom 10. Juli 2000 der Kammer mitgeteilt, daß sie in der anberaumten mündlichen Verhandlung nicht anwesend sein werde. Der mit der angefochtenen Entscheidung nicht stattgegebene Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung war als Hilfsantrag in diesem Beschwerdeverfahren der Beschwerdegegnerin bereits seit Zustellung der Beschwerdebegründung mit EPA-Schreiben vom 16. Juli 1997 bekannt. In ihrem der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Bescheid hatte die Kammer sich bezüglich der erfinderischen Tätigkeit weder in positivem noch in negativem Sinne zu diesem Hilfsantrag geäußert. Der Hauptantrag wurde durch die Kammer als nicht nach Regel 57a EPÜ zulässig erachtet. Die Beschwerdegegnerin hat nur beantragt, die Beschwerde im Rahmen dieses Hauptantrags abzuweisen, der sich allerdings lediglich durch die einteilige Fassung des Anspruchs 1 von dem Anspruch 1 des Hilfsantrages unterscheidet.
In der mündlichen Verhandlung wurde dieser Hauptantrag zurückgezogen und es wurden in Bezug auf den Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung weder neue Tatsachen oder Beweismittel eingeführt, noch neue Argumente vorgebracht. Die Beschwerdegegnerin hatte somit ausreichend Gelegenheit gehabt, sich dazu zu äußern. Daher konnte die Entscheidung der Kammer ohne Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs (siehe Stellungnahme G 4/92 (ABl. EPA 1994, 149) am Ende der mündlichen Verhandlung verkündet werden.
2.2. Nachdem in diesem Verfahren die Patentinhaberin alleinige Beschwerdeführerin gegen die Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents im geänderten Umfang ist, ist die Kammer an diese Fassung gebunden (siehe Entscheidung G 9/92 und G 4/93, ABl. EPA 1994, 875). Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 steht somit nicht zur Debatte, nur der des unabhängigen Anspruchs 3 in der erteilten Fassung.
3. Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
Die Neuheit des im erteilten Anspruch 3 beanspruchten Verfahrens folgt schon daraus, daß keines der im Verfahren vorhandenen Dokumente ein Drehbearbeitungsverfahren betrifft, in dem eine konkav gekrümmte Werkstückoberfläche mit einem Werkzeug bearbeitet wird, das eine langgestreckte Wirkzone aufweist, die wiederum in ihrer Längserstreckung mit gegenüber dem kleinsten Krümmungsradius der Werkstückoberfläche geringfügig kleinerem Krümmungsradius konvex gekrümmt ist.
Die bekannten Verfahren, in denen eine konkave Werkstückoberfläche mit einem konvexen Werkzeug bearbeitet wird, sind Schleif- (D2, D6 und D10) oder Fräsverfahren (D5), keine Drehbearbeitungsverfahren.
Die Neuheit des Gegenstandes des erteilten Anspruchs 3 wurde übrigens von der Einsprechenden im Beschwerdeverfahren nicht mehr in Frage gestellt.
4. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
4.1. Nächstliegender Stand der Technik bildet nach Auffassung der Kammer D1, weil dieses Dokument als einziges aus dem nachgewiesenen Stand der Technik ein formgebendes Drehbearbeitungsverfahren betrifft, bei welchem das Werkzeug und das Werkstück so relativ zueinander geführt werden, daß die Wirkzone des Werkzeugs in allen Bearbeitungspositionen im wesentlichen punktweise auf die Werkstückoberfläche einwirkt und die im wesentlichen quer zur Abtragbewegung verlaufenden Tangenten durch die Wirkzone des Werkzeugs und die zu erzeugende Werkstückoberfläche in den momentanen Bearbeitungspositionen zusammenfallen (Tangentenbedingung), und bei welchem das Werkzeug und das Werkstück durch translatorische und rotatorische Zustellbewegungen nach Maßgabe der Tangentenbedingung relativ zueinander geführt werden. In allen Bearbeitungspositionen wird immer der gleiche Punkt entlang der Wirkzone als Wirkpunkt ausgewählt. Mit diesem Drehbearbeitungsverfahren können parabolische Flächen und Hyperbelflächen, d.h. konkav oder konvex gekrümmte Werkstückoberflächen, bearbeitet werden.
4.2. Die Maschine, die nach D1 dieses Verfahren ausführen kann, ist nämlich als Universal-Drehmaschine beschrieben (Spalte 4, 5. Absatz). Nach der in Spalte 4, 2. Absatz beschriebenen Verfahrensweise werden die für komplizierte Formgebungen, wie parabolische Flächen und Hyperbelflächen, notwendigen relativen Zustellbewegungen ausschließlich von dem Spindelstock vorgenommen, der dazu Schwenk-, Längs- und Querbewegungen machen kann.
Der Support bewegt sich nicht; in Kombination mit diesen rotatorischen und translatorischen Zustellbewegungen des Spindelstocks und der Aussage, daß der Anstellwinkel des Werkzeugs zum Werkstück konstant ist, kann dies nur bedeuten, daß sowohl die Tangentenbedingung erfüllt ist als auch immer der gleiche Punkt entlang der Wirkzone als Wirkpunkt benutzt wird. Bei einer numerisch gesteuerten Drehmaschine wird für die Einstellung und Steuerung übrigens sowieso davon ausgegangen, daß das Werkzeug einen festen Wirkpunkt hat.
Ein Fachmann, der ein konkaves Drehwerkstück herstellen muß, wird erkennen, daß das in D1 beschriebene Verfahren dafür geeignet ist.
4.3. Ausgehend von dem Verfahren nach der D1 liegt dem Patent die Aufgabe zugrunde, mit hoher Formgenauigkeit und Oberflächengüte beliebige Krümmungen und Krümmungsvariationen in der Werkstückoberfläche zu erzeugen (siehe Seite 2, Zeilen 15 bis 17 des Streitpatents). Diese Aufgabe wird durch die Verfahren nach den unabhängigen Ansprüchen 1 bis 3 gelöst.
4.4. Das Verfahren nach Anspruch 3 unterscheidet sich von dem Verfahren nach D1 durch folgende Merkmale:
a) das Werkzeug weist eine langgestreckte Wirkzone auf,
b) die Wirkzone des Werkzeugs ist in ihrer Längserstreckung mit gegenüber dem kleinsten Krümmungsradius der Werkstückoberfläche geringfügig kleinerem Krümmungsradius konvex gekrümmt.
Diese Merkmale lösen die gestellte Aufgabe insbesondere dadurch, daß eine Art Schälvorgang durchgeführt wird, wobei durch den nur geringfügig kleineren Krümmungsradius des Werkzeugs eine hohe Oberflächengüte erreicht wird.
4.5. Im nachgewiesenen Stand der Technik sind langgestreckte Wirkzonen zum Erreichen einer hohen Oberflächengüte allgemein bekannt, siehe z. B. D7 oder D8. Dabei wird ein kreisbogengeschliffener Diamant benutzt, um eine Mantelfläche längszudrehen. Von Formdrehen konkaver Werkstücke ist nicht die Rede.
Die Lösung, daß man in diesem Zusammenhang bei einem formgebenden Drehverfahren nach D1 die Wirkzone des Werkzeugs mit einem geringfügig kleineren Krümmungsradius als dem kleinsten Krümmungsradius des konkaven zu gestaltenden Werkstücks ausführt, ist jedoch aus diesen Stand der Technik weder bekannt noch wird sie dadurch nahegelegt.
Die bekannten formgebenden Drehverfahren weisen entweder einen Profilstahl aus, der definitionsgemäß identisch mit der zu drehenden Form ist, oder benützen wohl abgerundete Drehmeißel oder Schneidplättchen; deren Krümmungsradius ist aber nicht, wie beansprucht, so dem kleinsten Krümmungsradius des Werkstücks angepaßt, daß er nur geringfügig kleiner gewählt wird.
4.6. Die Beschwerdegegnerin hat im schriftlichen Beschwerdeverfahren noch ausgeführt, daß sowohl die Druckschrift D5 als auch die Druckschrift D6 den Fachmann darauf hinwiesen, den Krümmungsradius des Werkzeugs wie beansprucht auszuführen, weil die Kontur des Fräsers (D5) und des Schleifsteins (D6) ebenfalls so gestaltet sei.
D5 betrifft Formfräsen und nicht Formdrehen und es ist in diesem Dokument nirgendwo erwähnt, daß der Durchmesser des Fräsers so bemessen sein soll, daß sein Krümmungsradius nur geringfügig kleiner als der der zu formenden Werkstückoberfläche ist. Auch die Figuren weisen nicht darauf hin.
D6 betrifft Formschleifen, nicht Formdrehen. Zur Formgebung von Drehwerkzeugen kann dieses Dokument daher dem Fachmann nichts relevantes bieten. Außerdem ist die Abtragsbewegung nicht quergerichtet wie beansprucht, sondern gleichgerichtet zu den Tangenten des Werkzeugs und der zu erzeugende Werkstückoberfläche.
5. Zusammenfassend kommt die Kammer zum Ergebnis, daß der nachgewiesene Stand der Technik weder für sich noch in irgendeiner Kombination sowie in Verbindung mit dem einem Fachmann zu unterstellenden Wissen dem Gegenstand des erteilten Anspruchs 3 im Hinblick auf das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit patenthindernd entgegensteht (Artikel 56 EPÜ). Das Patent hat deshalb auch auf der Basis des erteilten Anspruchs 3 Bestand.
Bestandsfähig sind auch die abhängigen Ansprüche 4 und 5, die bevorzugte Ausführungsformen des Verfahrens nach Anspruch 3 betreffen (Regel 29 (3) EPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in der erteilten Fassung aufrechterhalten.