T 0271/17 (Holzwerkstoffplatte/XYLO) 07-12-2020
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LEICHTE MEHRSCHICHT HOLZWERKSTOFFPLATTE
Fritz Egger GmbH & Co. OG
IKEA Industry AB
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden 1 richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 1 915 253 zurückzuweisen. Die Entscheidung stützt sich unter anderem auf die folgenden Dokumente:
D10: Kawai et al, "Physical Properties of Low-Density Particleboard", Wood Research, 72: 27-36, 1986
D13: DD 240 524 A1
D19: Taschenbuch der Holztechnologie, 1970, VEB
Fachbuchverlag Leipzig, Seiten 114-117 und 139-199
D37: "Untersuchungen zum Einfluss der Spangeometrie und der Decklagen auf die Eigenschaften von dreilagig aufgebauten leichten Holzwerkstoffplatten";
A. Michanickl.
II. In ihrer Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin, das Streitpatent wegen unzureichender Offenbarung (Artikel 100(b) EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100(a) und 56 EPÜ) vollständig zu widerrufen. Unter anderem war die Beschwerdeführerin der Meinung, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht erfinderisch gegenüber D10 oder D13 als nächstliegendem Stand der Technik. Ferner reichte sie
D40: H. Flemming et al., "Verbundwerkstoffe aus Säge-späneplatten und verschiedenen Beplankungsmaterialien", Holztechnologie 3 (1962), 3, Seiten 241-247
ein, und argumentierte, D13 lege in der Zusammenschau mit D40 den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nahe.
III. Mit der Beschwerdeerwiderung reichte die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin sieben Hilfsanträge ein und beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise das Patent auf Basis der Hilfsanträge 1-7 aufrecht zu erhalten. Ferner beantragte sie, D40 als verspätet nicht zuzulassen.
IV. In einer weiteren Eingabe brachte die Beschwerdeführerin weitere Einwände unter Artikel 100 (b) EPÜ unter anderem gegen Ansprüche 5 und 26 vor.
V. Nach dem Erhalt der vorläufigen Meinung der Kammer reichte die Beschwerdegegnerin die Hilfsanträge 1a-7a ein.
VI. Mit einer weiteren Eingabe beantragte die Beschwerdeführerin hilfsweise für den Fall, dass die Kammer D13 als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausschließen sollte, die Vorlage einiger Fragen an die Große Beschwerdekammer.
Weiterhin wurde bezüglich des Angriffs ausgehend von D10 hilfsweise für den Fall, dass als Aufgabe das Zurverfügungstellen einer leichten Holzwerkstoffplatte mit weiter verbesserten mechanischen Eigenschaften angenommen würde, die Vorlage einer weiteren Frage an die Große Beschwerdekammer beantragt.
VII. Während der am 7. Dezember 2020 abgehaltenen mündlichen Verhandlung entschied die Kammer, D40 in das Verfahren zuzulassen. Weiter legte die Beschwerdegegnerin einen neuen Anspruchssatz als Hilfsantrag 5a vor und zog alle höherrangigen Anträge zurück. Die Fragen an die Große Beschwerdekammer wurden von der Beschwerdeführerin nicht mehr weiterverfolgt.
VIII. Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten neuen Hauptantrags hat den folgenden Wortlaut:
"1. Mehrlagige Holzwerkstoffplatte aus mindestens drei miteinander verleimten Lagen, dadurch gekennzeichnet, dass die mittlere Lage eine Dicke von 6 bis 200 mm aufweist und aus einer Spanplatte, deren Späne zwischen 10 und 40 mm lang und 0,2 und 1 mm dick sind, mit einer Rohdichte unter 500 kg/m**(3) besteht, die Späne der Mittellage zu 50-80% aus in Holzfaserrichtung zerspantem Holz bestehen und zu 20 bis 50% aus nicht oder überwiegend nicht parallel in Holzfaserrichtung zerspantem Holz bestehen und die Decklagen Dicken von 0,5 bis 2 mm aufweisen und aus einer mitteldichten Faserplatte (MDF) bzw. HDF (High Density Fiberboard) oder aus Furnier, HPL oder CPL bestehen, die eine Rohdichte zwischen 550 kg/m**(3)und**()1400 kg/m**(3) aufweisen."
IX. Die endgültigen Anträge der Parteien waren wie folgt:
Die Beschwerdeführerin beantragte den vollständigen Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, das Patent in geänderter Form basierend auf dem neuen Hauptantrag aufrecht zu erhalten.
1. Zulassung des neuen Hauptantrages
Der neue Hauptantrag, der als geänderter Hilfsantrag 5a während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht wurde, wird aus folgenden Gründen zugelassen.
Der geltende Anspruch 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 der Hilfsanträge 5 bzw. 5a, die bereits erstinstanzlich und erneut mit der Beschwerdeerwiderung bzw. mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 eingereicht wurden, dadurch, dass an zwei Stellen der Ausdruck "ca." gestrichen wurde. Die Beschwerdeführerin hat nicht bestritten, dass sie den diesbezüglichen Einwand erstmalig während der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, obwohl, wie eingangs ausgeführt, Anträge mit identischem Anspruchswortlaut bereits seit Beginn des Beschwerdeverfahrens vorlagen. Dadurch, dass der Einwand erst während der mündlichen Verhandlung vorgebracht wurde, war eine Reaktion der Beschwerdegegnerin in Form des geänderten Antrags 5a ebenfalls erst in der mündlichen Verhandlung möglich. Die Kammer kommt aus diesen Gründen zum Schluss, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die die Zulassung des Antrags auch in diesem späten Stadium des Verfahrens rechtfertigen (Artikel 13(2) VOBK 2020).
2. Artikel 123(2) EPÜ
Einwände unter Artikel 123(2) EPÜ wurden nicht erhoben. Die Kammer stellt fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1, 2, 15 und 18 sowie in der Passage auf Seite 7, Zeilen 4-7 der ursprünglich eingereichten Beschreibung offenbart ist.
Die o.g. Beschreibungspassage offenbart ebenfalls den Gegenstand des geänderten Anspruchs 4.
Der Gegenstand des geänderten Anspruchs 24 ist durch den ursprünglichen Anspruch 26 gestützt.
Somit kommt die Kammer zum Schluss, dass das Erfordernis des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt ist.
3. Interpretation des Anspruchs 1
Die Kammer folgt nicht der Anspruchsinterpretation der Beschwerdeführerin, nach der unter Heranziehung der Beschreibung gemäß Art. 69(1) EPÜ die Angaben zur Länge und Dicke der Späne als Durchschnittswerte aufzufassen seien. Zum einen findet nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern Art. 69 EPÜ primär im Verletzungsverfahren Anwendung. Zum anderen sollte eine Auslegung von Anspruchsmerkmalen im Lichte der Beschreibung nur dann erfolgen, wenn das betreffende Merkmal unklar und somit auslegungsbedürftig ist. Eine solche Auslegungsbedürftigkeit sieht die Kammer bei dem Merkmal "deren Späne zwischen 10 und 40 mm lang und 0,2 und 1 mm dick sind" nicht, denn "Länge" und "Durchschnittslänge" sind unterschiedliche Größen, die im betreffenden technischen Gebiet auch entsprechend unterschieden werden. Außerdem wird weder in Anspruch 1 noch in der Beschreibung des Streitpatents an irgendeiner Stelle explizit angegeben, dass die genannten Längen- und Dickenangaben als Durchschnittswerte aufzufassen wären. Vor diesem Hintergrund kommt die Kammer zum Schluss, dass die Angaben zur Spanlänge und -dicke in Anspruch 1 als Absolutwerte aufzufassen sind.
Die Kammer hat darüber hinaus zur Kenntnis genommen, dass die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat, dass die Spandimensionen als Absolutwerte aufzufassen sind und weiterhin angekündigt hat, den Halbsatz "oder Späne über 2 mm Dicke" (Seite 4, Zeile 3 des Streitpatents) bei der Anpassung der Beschreibung zu streichen.
4. Ausführbarkeit
Die Kammer hatte in ihrer vorläufigen Meinung dargelegt, warum sie die in Anspruch 1 definierte Erfindung für ausführbar hielt. Die Beschwerdeführerin hat diesbezüglich weder schriftlich noch während der mündlichen Verhandlung Gegenargumente vorgebracht. Insofern hat die Kammer keinen Anlass, von ihrer vorläufigen Meinung abzuweichen.
Das Hauptargument der Beschwerdeführerin, es komme bei der Herstellung der Platten gemäß Anspruch 1 prozessbedingt zum Zerbrechen von Spänen, so dass ein absoluter Längenbereich von 10-40 mm im Endprodukt unmöglich einstellbar sei, ist gänzlich unbewiesen. Da die Beweislast nach gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich bei der Partei liegt, die einen Einwand erhebt, kann die Kammer der Beschwerdeführerin in diesem Punkt nicht folgen.
Mit Schreiben vom 4. Mai 2020 hat die Beschwerdeführerin erstmals im Beschwerdeverfahren weitere Einwände unter Artikel 100(b) EPÜ vorgebracht. Diese Einwände sind als Änderung des Vorbringens zu betrachten, dessen Zulassung gemäß Art. 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern vom 1. Januar 2020 im Ermessen der Kammer liegt. Abweichend von den Erfordernissen des Art. 13(1) VOBK sind auch keine Gründe für das verspätete Vorbringen vorgetragen worden. Letztlich muss über die Zulassung der neuen Einwände jedoch nicht entschieden werden, da diese in der Sache nicht überzeugen:
Der Einwand, der darauf aufbaut, dass das Merkmal "aus einer Span- oder Faserplatte" so zu verstehen sei, beide Decklagen bestünden nur aus einer Platte, erledigt sich beim verständigen Lesen des Anspruchs, bei dem der Fachmann klar erkennt, dass der Ausdruck "einer" nicht als Zahlwort, sondern als unbestimmter Artikel zu verstehen ist.
Was den Einwand angeht, der Anspruch lege fest, dass die Späne 0,2 und 1 mm dick sein sollten, so ist die Kammer der Ansicht, dass der Leser versteht, dass sich der Ausdruck "zwischen" nicht nur auf die Spanlänge sondern auch auf die Spandicke bezieht. Der ursprünglich eingereichte Anspruch 18 bestätigt diese Lesart. Letztendlich griffe der Einwand jedoch auch dann nicht durch, wenn der Anspruch gemäß der Lesart der Beschwerdeführerin zu verstehen wäre, denn es sind keine Gründe vorgebracht worden, warum die Herstellung einer Spanplatte aus 0,2 und 1 mm dicken Spänen nicht möglich sein sollte.
Auch den Ausführungen der Beschwerdeführerin zur Spanlänge und -dicke in den Randzonen der Platten kann die Kammer nicht folgen. Ein Patent ist mit der Bereitschaft zu lesen, es zu verstehen. Im vorliegenden Fall ist für den verständigen Leser klar, dass sich die Angaben zur Spanlänge auf das Plattenmaterial als solches beziehen. Die Tatsache, dass beim Zuschnitt des Materials in Plattenform notwendigerweise Späne kürzerer Länge entstehen und in den Randzonen der Platten verbleiben, bedeutet nach dem Dafürhalten der Kammer nicht, dass die Erfindung nicht ausgeführt werden kann.
Die Einwände gegen die erteilten Ansprüche 5 und 26 wurden durch die Änderungen der entsprechenden Ansprüche 4 und 24 des vorliegenden Hauptantrags ausgeräumt. Somit kommt die Kammer zum Schluss, dass die Erfindung im Sinne von Artikel 83 EPÜ ausführbar ist.
5. Erfinderische Tätigkeit
5.1 Die Erfindung betrifft leichte, beidseitig beplankte Spanplatten, insbesondere für den Möbelbau.
5.2 D13 offenbart leichte Spanplatten für den Möbelbau. D10 offenbart leichte, beidseitig furnierte Spanplatten. Welches der beiden Dokumente den nächstliegenden Stand der Technik darstellt, bzw. ob D13 hierfür grundsätzlich in Frage kommt oder nicht, weil sich D13 einer anderen Aufgabe widmet als das Streitpatent, kann offen bleiben, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 weder von D10 noch von D13 nahegelegt wird, wie im Folgenden ausgeführt wird.
5.3 D13 als nächstliegender Stand der Technik
Das Streitpatent stellt sich die Aufgabe, leichte und für den Möbelbau geeignete Spanplatten zur Verfügung zu stellen, deren mechanische Eigenschaften denen herkömmlicher Spanplatten entsprechen (Absatz 0016). Demgegenüber sind die leichten Spanplatten der D13 ausdrücklich für Anwendungen im Möbelbau vorgesehen, bei denen keine hohen Anforderungen an die mechanischen Eigenschaften der Platten gestellt werden (Seite 1, Ziel der Erfindung). Die Kammer stimmt deshalb der Beschwerdeführerin zu, dass die Aufgabe darin gesehen werden kann, die mechanischen Eigenschaften der Spanplatten der D13, insbesondere der Spanplatte des Ausführungsbeispiels der D13, zu verbessern.
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt Anspruch 1 eine Holzwerkstoffplatte vor, die zwei Außenlagen der im Anspruch genannten Art, Dichte und Dicke sowie eine Mittellage mit der im Anspruch definierten speziellen Spanmischung aufweist.
Es ist von der Beschwerdeführerin nicht bestritten worden, dass die Holzwerkstoffplatte gemäß Anspruch 1 die Aufgabe löst.
Die Kammer ist zum Schluss gekommen, dass die in Anspruch 1 definierte Lösung nicht naheliegend war, weil der Fachmann keine Veranlassung hatte, die im Anspruch definierte Spanmischung einzusetzen, auch nicht unter Berücksichtigung des durch D19, Seite 146-147 und 164 dokumentierten allgemeinen Fachwissens. Gemäß D19 gehörte es zwar zum Fachwissen, dass die Mittelschicht von Spanplatten höherer Rohdichte verschiedene Spanarten, z.B. Schneid- und Abfallspäne, enthalten kann, aber diese allgemeine Lehre kann nach dem Dafürhalten der Kammer die Verwendung der speziellen Spanmischung laut Anspruch 1 nicht nahelegen. Die Beschwerdeführerin hat während der mündlichen Verhandlung weiterhin vorgebracht, dass bei den herkömmlichen Techniken der Spanherstellung immer 50% der Späne in Holzfaserrichtung und der Rest quer dazu zerspant würden. Da diese Behauptung jedoch gänzlich unbewiesen ist, kann sich die Kammer diesem Argument nicht anschließen. Somit ist die in Anspruch 1 definierte Lösung der Aufgabe für den Fachmann allein aus diesen Gründen nicht naheliegend. Damit erübrigt sich die Erörterung der Frage, ob es für den Fachmann naheliegend gewesen wäre, zusätzlich Außenschichten der im Anspruch genannten Art, Dicke und Dichte vorzusehen.
Auch D40 führt nicht zur Erfindung, denn D40 offenbart die Spanmischung gemäß Anspruch 1 ebenfalls nicht. Die Kammer ließ D40 ins Verfahren zu, weil ihr Einreichen als Reaktion auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung zu werten ist, D13 nicht als nächstliegenden Stand der Technik anzusehen. Zudem verweist D13 ausdrücklich auf D40, so dass keine völlig neuen Aspekte oder Angriffslinien ins Verfahren eingeführt werden (Artikel 12(4) VOBK 2007).
5.4 D10 als nächstliegender Stand der Technik
D10 (Zusammenfassung und Schlussfolgerung) offenbart bereits leichte Spanplatten mit guten mechanischen Eigenschaften. Die Kammer geht zugunsten der Beschwerdeführerin davon aus, dass das Gutachten D37 keine weitere Verbesserung der mechanischen Eigenschaften belegt. In diesem Fall muss die ursprüngliche Aufgabe umformuliert werden als das Zurverfügungstellen einer weiteren leichten Holzwerkstoffplatte mit guten mechanischen Eigenschaften.
Die Lösung dieser Aufgabe schlägt Anspruch 1 eine Holzwerkstoffplatte vor, deren Mittellage die im Anspruch definierte Spanmischung aufweist.
Es ist von der Beschwerdeführerin nicht bestritten worden, dass die Holzwerkstoffplatte gemäß Anspruch 1 diese Aufgabe löst.
Die Kammer ist überzeugt, dass die in Anspruch 1 definierte Lösung der Aufgabe nicht naheliegend war, weil, wie bereits in Punkt 5.3 ausgeführt, weder der Stand der Technik noch das Fachwissen die beanspruchte Spanmischung offenbaren.
Somit kommt die Kammer zum Schluss, dass die Erfindung die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ erfüllt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angegriffene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung
zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent auf der
Grundlage des geänderten Hilfsantrags 5a, eingereicht in
der mündlichen Verhandlung am 7. Dezember 2020, und einer
noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.