T 1796/18 24-11-2020
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VERFAHREN UND VORRICHTUNG ZUR BESTIMMUNG EINER ERKENNUNGSSCHWELLE
I. Der Beschwerdeführer (Einsprechender) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2659232 in geänderter Fassung aufrecht zu erhalten, Beschwerde eingelegt. Er beantragte, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent im gesamten Umfang zu widerrufen.
II. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte in ihrer Beschwerdeerwiderung, die Beschwerde zurückzuweisen und das europäische Patent Nr. 2659232 unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommen Änderungen aufrechtzuerhalten.
III. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Meinung zu bestimmten, wesentlichen Punkten mit.
IV. Eine mündliche Verhandlung fand am 24. November 2020 statt.
V. Die Schlussanträge lauten wie folgt:
Der Beschwerdeführer (Einsprechender) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 2659232.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
VI. In dieser Entscheidung wird auf die folgenden Dokumente Bezug genommen:
D4: |WO 2004/079385 A1 |
D11:|T. Tille et. al, "Sensoren im Automobil III", expert verlag, Renningen, 2009, Seiten 34-53.|
VII. Anspruch 1 des in geänderter Fassung aufrechterhaltenen Patents lautet wie folgt.
"Verfahren (100) zur Bestimmung einer ersten und einer zweiten Erkennungsschwelle (TI, T2, T3, T4) zur Erkennung eines Vorliegens von Zähnen oder Zahnlücken eines Positionsgebers vor einem Sensor (260), wobei das Verfahren folgenden Schritte aufweist:
Einlesen (110) eines Sensorsignals (502), das einen zeitlichen Verlauf eines gemessenen Magnetfeldes repräsentiert, wenn Zähne und Zahnlücken des Positionsgebers an dem Sensor (260) vorbeigeführt werden;
dadurch gekennzeichnet, dass das Verfahren außerdem die folgenden Schritte aufweist:
Ermitteln (120) eines ersten Wertes auf der Basis eines minimalen Wertes des Sensorsignals (502) und eines ersten Wertes auf der Basis eines maximalen Wertes des Sensorsignals innerhalb eines vordefinierten Zeitintervalls aus dem Sensorsignal (502);
Berechnen (130) eines Differenzbetragwerts, der einen vorbestimmten Prozentsatz von einer Differenz zwischen dem ersten Wert auf der Basis des zumindest einen maximalen Werts und dem ersten Wert auf der Basis des zumindest einen minimalen Werts des Sensorsignals (502) repräsentiert;
Bestimmen (140) der Erkennungsschwelle (TI, T2, T3, T4), so dass die Erkennungsschwelle einen Wert repräsentiert, der einem Ergebnis einer Addition des Differenzbetragwerts mit dem ersten Wert auf der Basis des minimalen Werts des Sensorsignals entspricht,
Ermitteln (150) eines zweiten Wertes auf der Basis eines minimalen Wertes des Sensorsignals (502) und eines zweiten Wertes auf der Basis eines maximalen Wertes des Sensorsignals (502) innerhalb eines dem vordefinierten Zeitintervall nachfolgenden zweiten vordefinierten Zeitintervalls aus dem Sensorsignal;
Berechnen (160) eines zweiten Differenzbetragwerts, der einem zweiten vorbestimmten Prozentsatz von einer Differenz zwischen dem zweiten Wert auf Basis des maximalen Werts und dem zweiten Wert auf der Basis des minimalen Werts des Sensorsignals (502) repräsentiert; und
Bestimmen (170) einer von der ersten Erkennungsschwelle (TI; T2; T3) unterschiedlichen zweiten Erkennungsschwelle (T2, T3, T4), so dass die zweite Erkennungsschwelle (T2, T3, T4) einen Wert repräsentiert, der einem Ergebnis einer Addition des zweiten Differenzbetragwerts mit dem zweiten Wert auf der Basis des minimalen Wertes des Sensorsignals (502) entspricht,
wobei im Schritt des Berechnens (160) des zweiten Differenzbetragwerts als zweiter vorbestimmter Prozentsatz ein Wert verwendet wird, der dem vorbestimmten Prozentsatz entspricht, der im Schritt des Berechnens (130) des Differenzbetragwerts verwendet wird,
und wobei ein Positionsgeber mit einer Anzahl von n Zähnen in Kombination mit dem Sensor verwendet wird, und im Schritt des Einlesens (110) ein Sensorsignal (502) mit einer Mehrzahl von Gruppen von kleinen Werten und einer Mehrzahl von Gruppen von großen Werten eingelesen wird und wobei im Schritt des Ermittelns (120) der Wert auf der Basis eines minimalen Wertes des Sensorsignals durch eine Mittelwertbildung der minimalen Werte jeder n-ten Gruppe von kleinen Werten und der Wert auf der Basis eines maximalen Wertes des Sensorsignals durch eine Mittelwertbildung der maximalen Werte jeder n-ten Gruppe von großen Werten erfolgt."
1. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56
Das in geänderter Fassung aufrechterhaltene europäische Patent erfüllt nicht die Erfordernissen des Artikels 52 (1) EPÜ, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruht.
2. Nächstliegender Stand der Technik - Dokument D4
Dokument D4 offenbart (siehe Anspruch 1 und Figur 1) ein Verfahren zur Bestimmung individuell angepasster Erkennungsschwellen zur Erkennung des Vorliegens von Zähnen eines Positionsgebers vor einem Sensor, wobei das Verfahren folgende Schritte aufweist:
-|Einlesen eines Sensorsignals (110), das einen zeitlichen Verlauf eines gemessenen Magnetfeldes repräsentiert, wenn Zähne (108) und Zahnlücken des Positionsgebers (106) an dem Sensor (102, 202) vorbeigeführt werden; |
-|wobei ein Positionsgeber mit einer Anzahl von n Zähnen verwendet wird (s. Figur 1: n=12), und |
-|wobei durch eine Mittelwertbildung der Werte des Sensorsignals eine Ermittlung von gemittelten unteren und oberen Erkennungsschwellen für jedes Zahn-/Zahnlückenpaar erfolgt (s. Seite 3, Zeilen 8 bis 18 und Seite 8, Zeile 16 bis Seite 9, Zeile 3).|
D4 ist, wie das vorliegende Patent, darauf gerichtet, durch Bestimmung individueller Erkennungsschwellen für einzelne Zähne des Positionsgebers die durch mechanische Toleranzen hervorgerufenen Signalschwankungen auszugleichen und dadurch eine hohe Phasenstabilität zu erreichen (siehe Seite 2, Zeile 1 bis Seite 3, Zeile 10 und Seite 7, Zeilen 8 bis 11).
Damit offenbart D4 implizit, dass für aufeinanderfolgende Zeitintervalle unterschiedliche Erkennungsschwellen auf Basis gemittelter minimaler und maximaler Signalwerte bestimmt werden.
Die Beschwerdegegnerin stimmt insoweit zu (siehe Beschwerdeerwiderung, Seite 7, 2. Absatz), als Dokument D4 fordert, dass jedem Zahn eines Geberrades ein individuelles Paar an Erkennungsschwellen zugeordnet wird, das durch eine Mittelwertbildung des Hallsensorsignals optimiert wird.
Der Beschwerdeführer argumentiert, dass das Dokument D4 (siehe Seite 3, Zeilen 8 bis 18 und Seite 8, Zeile 16 bis Seite 9, Zeile 3) zudem offenbare, dass im Schritt des Ermittelns der Wert auf der Basis eines minimalen Wertes des Sensorsignals durch eine Mittelwertbildung der minimalen Werte jeder n-ten Gruppe von kleinen Werten und der Wert auf der Basis eines maximalen Wertes des Sensorsignals durch eine Mittelwertbildung der maximalen Werte jeder n-ten Gruppe von großen Werten erfolge.
Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt, da Dokument D4 lediglich offenbart, dass der Signalverlauf für jeden individuellen Zahn des Geberrades gemittelt wird, um daraus erste und zweite Schwellwerte zu ermitteln. D4 zeigt nicht, dass für die Mittelung die jeweils minimalen bzw. maximalen Werte jeder n-ten Gruppe von kleinen bzw. großen Werten verwendet werden.
3. Unterschied und Aufgabe
Anspruch 1 unterscheidet sich damit von dem in D4 offenbarten Verfahren dadurch, dass die Mittelung anhand der jeweiligen Minima und Maxima jeder n-ten Gruppe von kleinen und großen Werten erfolgt und dass pro Zahn anstelle von Paaren von individualisierten Erkennungsschwellen eine einzige Erkennungsschwelle bestimmt wird, indem zu einem (gemittelten) minimalen Wert ein Differenzbetragwert addiert wird, wobei der Differenzbetrag ein vorbestimmter Prozentsatz der Differenz zwischen dem (gemittelten) maximalen und (gemittelten) minimalen Wert ist.
Ausgehend von Dokument D4 stellt sich dem Fachmann daher die Aufgabe, eine zuverlässige Ermittlung einer dynamischen Erkennungsschwelle bereitzustellen, die einfach umzusetzen ist und einen geringen Winkelfehler aufweist.
4. Kombination mit dem Dokument D11 und dem Fachwissen
Das Dokument D11 betrifft, ebenso wie das Dokument D4, die Verbesserung der Phasengenauigkeit von Positionsgebern mit Zähnen und Zahnlücken (siehe Seite 45 oben) und verwendet in einem sogenannten "Calibrated mode" eine dynamische Erkennungsschwelle (siehe Bild 3.1.1: "dynamic switching threshold"). Die Erkennungsschwelle Bcal wird gemäß der Formel
Bcal = Bmin + (Bmax - Bmin )* k0
ermittelt, wobei Bmax der maximale Wert ist, Bmin der minimale Wert und k0 ein vom Benutzer festlegbarer, vorbestimmter Prozentsatz (siehe Seite 46, 3. Absatz).
Die in D11 offenbarte Berechnung der Erkennungsschwelle Bcal ermöglicht eine hohe Phasengenauigkeit. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, Winkelfehler zu verringern, wird der Fachmann daher die in D11 als vorteilhaft beschriebene Bestimmung der Erkennungsschwelle ohne Weiteres bei dem aus D4 bekannten Verfahren zur Bestimmung von Erkennungsschwellen einsetzen.
Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass die Berechnungsmethode für den Wert Bcal gemäß D11 nur im "Pre-calibrated mode" angewendet werde, im "Calibrated mode" dagegen ein nicht näher definierter "spezieller Algorithmus" (siehe D11, Seite 46, 4. Absatz), ist nicht überzeugend. Wie dem Bild 3.1.1 zu entnehmen ist, liegt auch im Bereich ganz rechts, d.h. im "Calibrated mode", eine dynamisch anpassbare Erkennungsschwelle vor, die als "Bcal dynamic switching threshold" bezeichnet und gemäß der angegebenen Formel berechnet wird.
Die Beschwerdegegnerin argumentiert weiter, dass für jede Neuberechnung (jeweils ein Kreis in Bild 3.1.1) der Wert für k0 variiere, da die Kurve für Bcal eine Parabel darstelle. Die beanspruchte Konstanthaltung des k0-Wertes sei der Lehre der D11 direkt entgegengesetzt, da nur durch die allmähliche Erhöhung des k0-Wertes eine Kalibrierung erfolgen könne.
Dieses Argument ist nicht überzeugend, da der k0-Wert gemäß D11 fest vorgegeben ist (siehe Seite 46, 3. Absatz). Der graduelle Anstieg von Bcal im "Precalibrated mode" erfolgt nach Meinung der Kammer nicht auf Grund einer Änderung des k0-Werts, sondern auf Grund einer Limitierung der Updatekonstante (s. Seite 49, 2. Absatz).
Die Beschwerdegegnerin argumentiert zudem, dass das Dokument D4 nur eine "irgendwie geartete Langzeitmittelwertbildung" offenbare, die nicht an ein Zeitintervall gebunden sei. Unter Verweis auf Figur 8 des Streitpatents argumentiert die Beschwerdegegnerin, dass die Mittelung gemäß Patent zu anderen Mittelwerten führe als die Mittelung gemäß Dokument D4. Die beanspruchte Mittelwertbildung sei dem Fachmann weder aus D4, noch aus D11, noch aus seinem Fachwissen bekannt und damit auch nicht nahegelegt.
Diese Argumente sind für die Kammer nicht überzeugend:
Im beanspruchten Verfahren erfolgt die Mittelwertbildung der minimalen bzw. maximalen Werte jeder n-ten Gruppe von kleinen bzw. großen Werten ebenfalls ohne zeitliche Einschränkung. Damit erfolgt die beanspruchte Mittelwertbildung, wie für Mittelungen allgemein üblich und auch in D4 offenbart (siehe Seite 3, Zeilen 11 bis 15; Seite 8, Zeile 20 bis Seite 9, Zeile 3 und Anspruch 10: "long term average"), über einen langen Zeitraum.
Des Weiteren ist dem Fachmann aus Dokument D4 eine Mittelung des Signalverlaufs der individuellen Zähne als vorteilhaft bekannt, ohne dass näher beschrieben wird, wie die Mittelung erfolgt (siehe Punkt 2 oben). Angesichts der Lehre des Dokuments D11, dass zur Berechnung der Erkennungsschwelle Bcal die jeweils minimalen und maximalen Werte Bmin und Bmax des Signalverlaufs verwendet werden (siehe Bild 3.1.1 explizit), wird der Fachmann, wie vom Beschwerdeführer vorgetragen, ohne Weiteres die jeweiligen Minima und Maxima jeder n-ten Gruppe als Basis für die Mittelung verwenden und damit zur beanspruchten Mittelung kommen.
Schlussendlich ist in der beanspruchten Mittelung auch keine unbekannte oder überraschende Wirkung zu erkennen, so dass auch damit das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht begründet werden kann.
Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 durch die Kombination der Dokumente D4 und D11 mit dem allgemeinen Fachwissen nahegelegt ist und deshalb nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruht.
5. Daher ist das Patent gemäß Artikel 101(3)b) EPÜ zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.