4.4.2 Verfahren mit sowohl therapeutischer als auch nicht therapeutischer Wirkung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 116/85 (ABl. 1989, 13) vertrat die Kammer die Auffassung, dass ein beanspruchtes Verfahren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, wenn es die therapeutische Behandlung eines tierischen Körpers erforderlich macht, obwohl die therapeutische Behandlung von Tieren gemeinhin ein Aspekt der Landwirtschaft ist und landwirtschaftliche Verfahren im Allgemeinen patentfähig sind. In diesem Fall hielt die Kammer es jedoch für rechtlich unmöglich, zwischen der Anwendung des Verfahrens durch einen Züchter und der durch einen Tierarzt zu unterscheiden, ihm also im ersten Fall gewerblichen Charakter zuzuerkennen, im zweiten Fall als therapeutische Behandlung jedoch die Patentfähigkeit abzusprechen.
In T 780/89 (ABl. 1993, 440) heißt es, dass der Sekundärerfolg einer therapeutischen Behandlung diese noch nicht patentierbar mache. Der streitige Anspruch bezog sich auf eine Methode zur allgemeinen Immunstimulierung bei Tieren. Der Anmelder machte unter anderem geltend, dass damit die Fleischproduktion erhöht werde, die Methode also nicht zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werde. Die Kammer war jedoch der Ansicht, dass die erhöhte Fleischproduktion auf den besseren Gesundheitszustand der Tiere zurückzuführen sei. Auch gehe die allgemeine Stimulierung des Immunsystems zwangsläufig mit einer spezifischen Prophylaxe gegen bestimmte Infektionen einher.
In T 438/91 behauptete der Patentinhaber, der Hauptzweck des beanspruchten Verfahrens bestehe darin, dass die Tiere an Gewicht zunähmen, und diese Wirkung sei von der anderen, nämlich der Vorbeugung gegen die Ruhr bzw. deren Heilung, zu trennen. Letzteres sei lediglich eine vorteilhafte Nebenwirkung. Es war zu entscheiden, ob sich das Verfahren zur Züchtung von Haustieren nach den Ansprüchen 1 und 2 auf eine therapeutische oder prophylaktische Behandlung bezog. Als Ergebnis des beanspruchten Züchtungsverfahrens waren zwei Wirkungen zu beobachten: (1) die Heilung der Ruhr und (2) eine Gewichtszunahme bei den gezüchteten Tieren. Die Kammer befand aufgrund der Offenbarung in der Patentschrift, dass beide Wirkungen mit der Fütterung der Tiere zusammenhingen und der Erfindung die Absicht zugrunde liege, bei den an der Ruhr erkrankten Tieren beide Wirkungen gleichzeitig zu erzielen (therapeutische Behandlung) und bei den noch nicht befallenen Tieren den Ausbruch der Krankheit zu verhindern (prophylaktische Behandlung). Die Kammer stellte abschließend fest, dass die Ansprüche 1 und 2 eine therapeutische oder prophylaktische Behandlung von Haustieren zum Gegenstand hätten und somit unter das Patentierungsverbot des Art. 52 (4) EPÜ 1973 fielen.
In T 290/86 (ABl. 1992, 414) hielt die Kammer keinen der Verfahrensansprüche für gewährbar, weil das darin offenbarte Verfahren zur Beseitigung von Zahnbelag unweigerlich auch eine therapeutische Wirkung, nämlich die der Vorbeugung gegen Karies und periodontale Erkrankungen, habe und somit unter das Patentierungsverbot des Art. 52 (4) EPÜ 1973 (jetzt Art. 53 c) EPÜ) falle, und zwar unabhängig davon, ob die Entfernung des Zahnbelags insofern auch eine kosmetische Wirkung habe, als die Zähne besser aussähen. Ob eine beanspruchte Erfindung unter das Patentierungsverbot des Art. 52 (4) EPÜ 1973 fällt, hängt nach Auffassung der Kammer insbesondere vom Wortlaut des betreffenden Anspruchs ab. Ist die beanspruchte Erfindung nicht allein auf eine kosmetische Wirkung gerichtet, sondern definiert sie zwangsläufig auch eine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers, so ist ein solcher Anspruch nicht patentierbar (in Abgrenzung gegen T 144/83, ABl. 1986, 301). Hat die beanspruchte Verwendung eines chemischen Stoffs neben einer kosmetischen Wirkung immer auch eine therapeutische Wirkung, so definiert die Erfindung in dieser beanspruchten Form zwangsläufig auch eine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers und ist somit von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (s. auch T 475/12).
In T 1077/93 bezogen sich die Ansprüche 1 und 11 auf die Verwendung des Kupferkomplexes der 3,5-Diisopropylsalicylsäure (im Folgenden CuDIPS genannt) als kosmetisches Erzeugnis und in einer kosmetischen Zusammensetzung sowie auf ein kosmetisches Behandlungsverfahren zum Schutz der menschlichen Epidermis, das auf der Verwendung dieses Komplexes basierte. Ziel der patentgemäßen Zusammensetzung war es, die menschliche Epidermis vor UV-Strahlen zu schützen und insbesondere die Hautrötung, in der sich die schädigende Wirkung der Sonne auf die Haut bekanntlich am deutlichsten manifestiert, sowie Zellveränderungen in der Haut wie die Bildung entarteter und nekrotischer Keratinozyten – allgemein als "sun burn cells (SBC)" bezeichnet – zu verringern. Die Beschwerdekammer stellte in Anlehnung an T 820/92 (ABl. 1995, 113) fest, dass das Patentierungsverbot für therapeutische Verfahren nicht dadurch umgangen werden könne, dass der Anspruch schlicht so formuliert werde, als sei der Gegenstand des Verfahrens als unteilbares Ganzes nicht therapeutischer Natur. Bei der Prüfung der Patentierbarkeit der Ansprüche 1 und 11 müssten die Wirkungsweise des CuDIPS und der Zusammenhang zwischen all seinen Wirkungen geklärt werden. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Schutzwirkung für die Haut zumindest teilweise nicht nur auf eine Filterung des Lichts an der Hautoberfläche, sondern vielmehr auf eine Wechselwirkung mit dem Zellgeschehen in der Epidermis zurückzuführen sei. Da auf diese Weise pathologische Folgen (Hautrötung) vermieden werden sollten, liege eine echte therapeutische Wirkung vor.
Gemäß T 1635/09 (ABl. 2011, 542) stellt die Verwendung eines Stoffgemisches für die orale Empfängnisverhütung, bei der die beanspruchten Konzentrationen der darin enthaltenen Hormone so niedrig gewählt sind, dass die bei der oralen Empfängnisverhütung zu erwartenden pathologischen Nebenwirkungen vermieden, bzw. reduziert werden, ein von der Patentierbarkeit ausgenommenes therapeutisches Verfahren (Art. 53 c) EPÜ) dar. Die Kammer urteilte, dass die Prävention der Sekundareffekte, die durch die Angabe der Wirkstoffkonzentration im Anspruch 1 verankert ist und die aufgrund der pathologischen Natur der Sekundareffekte eindeutig als therapeutisch einzustufen ist, untrennbar mit der Durchführung der an sich nicht therapeutischen Empfängnisverhütung verknüpft ist.
Gemäß T 158/13 ist es unmöglich, zwischen einer therapeutischen und einer nicht therapeutischen Verwendung der stimulierenden Duftstoffzusammensetzung zu unterscheiden, weil die Verabreichungsform der Zusammensetzung bei der therapeutischen und der nicht therapeutischen Verwendung dieselbe ist. Die Schläfrigkeit oder die Inaktivität kann im täglichen Leben nicht nur ein physiologischer Zustand sein, sondern kann auch auf einem pathologischen Zustand beruhen. Ohne klare und eindeutige Unterscheidung zwischen dem physiologischen und dem pathologischen Charakter eines mentalen Zustands einer Person ist eine klare Unterscheidung zwischen der therapeutischen und der nicht therapeutischen Verwendung ebenfalls nicht möglich.