3.2.4 Offenkundige Vorbenutzung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist (Art. 54 (2) EPÜ). Benutzungshandlungen können darin bestehen, dass ein Erzeugnis hergestellt, angeboten, in Verkehr gebracht oder gebraucht wird oder dass ein Verfahren oder seine Verwendung angeboten oder in Verkehr gebracht oder das Verfahren angewendet wird. Das Inverkehrbringen kann z. B. durch Verkauf oder Tausch erfolgen (s. dazu Richtlinien G‑IV, 7.1 – Stand November 2018).
Eine offenkundige Vorbenutzung oder eine anderweitige Zugänglichmachung werden typischerweise im Einspruchsverfahren geltend gemacht. Um festzustellen, ob eine Erfindung der Öffentlichkeit durch Vorbenutzung zugänglich gemacht wurde, müssen nach ständiger Rechtsprechung (s. z. B. T 194/86; T 232/89; T 78/90: T 600/90, T 602/91; T 522/94, ABl. 1998, 421; T 927/98; T 805/05) folgende Sachverhalte geklärt werden: i) der Zeitpunkt der Benutzung (d. h. wann die Benutzungshandlung stattfand), ii) der Gegenstand der Benutzung (d. h. was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde) und iii) die Umstände der Benutzungshandlung (d. h. wo, wie und durch wen der Gegenstand der Benutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde).
Vgl. Kapitel IV.C.2.2.8 d) "Behauptete offenkundige Vorbenutzung"; V.A.4.13.6 "Offenkundige Vorbenutzung"; s. auch verschiedene Abschnitte in Kapitel III.G. "Beweisrecht".
Auch wenn Vorbenutzungen im Kapitel über die Neuheit, genauer gesagt im Kapitel über die Bestimmung des Stands der Technik abgehandelt werden, ist zu bedenken, dass die Frage des Stands der Technik nicht nur für die Neuheit, sondern ebenso für die erfinderische Tätigkeit relevant ist (zu neueren Beispielen s. z. B. T 1464/05 – öffentliche Vorbenutzung als nächstliegender Stand der Technik; T 23/11; T 2170/12).
Im Hinblick auf die Ermittlung von Amts wegen durch das EPA besteht nach Art. 114 EPÜ eine beschränkte Pflicht, eine offenkundige Vorbenutzung von Amts wegen zu ermitteln. Daher wurde in T 129/88 (ABl. 1993, 598) wurde festgestellt, dass eine Beschwerdekammer (wie auch eine Einspruchsabteilung) nach Art. 114 (1) EPÜ zwar verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, diese Verpflichtung aber nicht bis zur Prüfung einer behaupteten offenkundigen Vorbenutzung geht, wenn die Partei, die diese Behauptung zu einem früheren Zeitpunkt aufgestellt hat, aus dem Verfahren ausgeschieden ist und alle maßgeblichen Tatsachen ohne ihre Mitwirkung schwer zu ermitteln sind. Die Kammer begründete dies damit, dass die Verpflichtung des EPA zur Ermittlung von Amts wegen gemäß Art. 114 (1) EPÜ nicht unbeschränkt sei, sondern nur so weit gehe, wie sich der Kosten- und Zeitaufwand rechtfertigen lasse. Daher solle das EPA, wenn der Einsprechende seinen Einspruch zurücknehme und dadurch zu erkennen gebe, dass er am Ausgang des Einspruchs nicht mehr interessiert sei, in der Regel aus Gründen der Verfahrensökonomie von weiteren Ermittlungen absehen, obwohl es dem EPA je nach Staat des Wohnsitzes etwaiger Zeugen möglicherweise zu Gebote stehe, diese entweder vor dem EPA oder vor dem Gericht eines Vertragsstaats zur Aussage zu zwingen. Anders läge der Fall, wenn eine relevante offenkundige Vorbenutzung bereits durch Unterlagen, deren Echtheit außer Zweifel stehe, belegt oder der Sachverhalt der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung unbestritten wäre (s. auch T 830/90, ABl. 1994, 713; T 887/90, T 634/91, T 252/93, T 34/94).