3.2.1 Einspruchsbeschwerdeverfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
S. auch Kapitel V.A.4.12.13 "Wiederaufnahme breiterer Ansprüche im Beschwerde-verfahren".
Laut T 123/85 (ABl. 1989, 336) sieht das EPÜ im Einspruchsverfahren die Erklärung eines Verzichts des Patentinhabers auf sein Patent nicht vor (im Anschluss an T 73/84, ABl. 1985, 241; T 186/84, ABl. 1986, 79); er kann auch nicht teilweise auf sein Patent verzichten und mit der Erklärung eines solchen Verzichts dem Patent einen beschränkten Inhalt geben. Daher könne ein im Einspruchsverfahren zurückgenommener Antrag trotzdem in späteren Einspruchsbeschwerdeverfahren berücksichtigt werden. Dieser Auffassung wurde in vielen Entscheidungen gefolgt, u. a. in T 296/87 (ABl. 1990, 195), T 934/02, T 699/00, T 794/02, T 1276/05 und T 1188/09.
In T 1018/02 wurde darauf hingewiesen, dass Änderungen eines europäischen Patents die Erfordernisse der R. 57a EPÜ 1973 erfüllen müssten. Nach dieser Regel seien Änderungen möglich, soweit sie durch Einspruchsgründe veranlasst seien. Dies bedeute jedoch nicht, dass ein Patentinhaber, der in der ersten Instanz beschließe, einen Hauptantrag zu verteidigen, der gegenüber den Ansprüchen in der erteilten Fassung beschränkt sei, im Beschwerdeverfahren nicht über diesen Antrag hinausgehen könne. Gemäß T 407/02 ist es einem Patentinhaber, der sein Patent im Einspruchsverfahren nur beschränkt verteidigt hat, grundsätzlich nicht verboten, im Beschwerdeverfahren wieder zu einer breiteren oder sogar der erteilten Fassung seines Patentbegehrens zurückzukehren. Im Anschluss an T 407/02 wies die Kammer in T 1188/09 darauf hin, dass die Einsprechenden also in jedem Fall damit rechnen müssen, dass der Patentinhaber, dessen Patent durch die Einspruchsabteilung widerrufen wurde, sein Patent im Beschwerdeverfahren im erteilten Umfang verteidigt. Die Kammer in T 1188/09 stellte fest, dass T 1018/02 dem ausdrücklich gefolgt ist. Die Entscheidung T 386/04 hat diese Auffassung nochmals bekräftigt und dargelegt, dass vermeintlich entgegenstehende Entscheidungen stets Sachverhalte betrafen, bei denen die Anspruchsänderung einem Verfahrensmissbrauch gleichgekommen war.
Nach T 386/04 kann ein Beschwerdeführer (Patentinhaber), dessen Patent widerrufen worden ist, die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung beantragen, auch wenn sein Hauptantrag vor der Einspruchsabteilung lediglich auf die Aufrechterhaltung des Patents in einer eingeschränkten Fassung gerichtet war. Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn die Wiederaufnahme der geänderten Ansprüche einen Verfahrensmissbrauch darstellen würde. Diesem seit Langem anerkannten Grundsatz stehen weder die Entscheidungen T 528/93 und T 840/93 (ABl. 1996, 335) entgegen, in denen es um neue Ansprüche geht, die neue Fragen aufwerfen, noch die Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 9/91 (ABl. 1993, 408) zum Sinn und Zweck der Beschwerde. In diesem Zusammenhang widerspricht es der Verfahrenslogik, zwischen Fällen zu unterscheiden, in denen das Patent widerrufen wurde und solchen, in denen es aufrechterhalten wurde.
Die Kammer in T 28/10 setzte sich eingehend mit T 123/85 und der daran anknüpfenden Rechtsprechung einschließlich T 386/04 auseinander; die letztere Entscheidung verwies zwar darauf, dass das EPÜ 1973 im Einspruchsverfahren die Erklärung eines Verzichts des Patentinhabers auf sein Patent nicht vorsehe. Weil im Einspruchsverfahren ein solcher Verzicht nicht wirksam gegenüber dem EPA erklärt werden könne, verwarf die Entscheidung die Auffassung der Einsprechenden, dass eingeschränkte Anspruchssätze, die im Verlauf des Einspruchsverfahrens vorgelegt werden, als Verzichtserklärung zu verstehen seien. Diese Feststellung war im Kontext der Entscheidung T 123/85 (ABl. 1989, 336) darauf zu begrenzen, dass ein europäisches Patent als subjektives Recht nicht durch eine einseitige Verzichtserklärung des Patentinhabers im Einspruchsverfahren rechtsgestaltend verändert – namentlich unwiderruflich eingeschränkt – werden kann (vgl. in diesem Zusammenhang G 1/90, ABl. 1991, 275; T 386/01), so dass auf das Einspruchsverfahren gerichtete, geänderte Anspruchssätze nicht als Verzicht anzusehen sind. Demgegenüber konnte aus diesen Feststellungen nicht gefolgert werden, dass ein Rückkommen auf eine breitere, im Einspruchsverfahren zunächst nicht verteidigte Anspruchsfassung als Änderungen des verfahrensrelevanten Vorbringens verfahrensrechtlich vorbehaltlos möglich sein muss.
In T 28/10 wollte der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren Ansprüche einführen, die nicht Grundlage der Diskussion vor der Einspruchsabteilung gewesen waren. Die Kammer stellte fest, dass sich die Rechtslage seit T 123/85 geändert habe und dass nicht mehr die durch T 123/85 begründete Rechtsprechung maßgeblich sei, sondern die Rechtsvorschrift des Art. 12 (4) VOBK 2007. Die Kammer wies darauf hin, dass die Entscheidung T 123/85 sich auch auf die Entscheidung T 64/85 stützte. Dieser Entscheidung ist zu entnehmen, dass eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Möglichkeit zur nachträglichen Änderung des Vorbringens gestützt auf Art. 114 (2) bzw. R. 86 (3) EPÜ 1973 unterbunden werden könne. Die Entscheidung T 64/85 erachtete mithin den in Art. 114 (2) bzw. R. 86 (3) EPÜ 1973 zum Ausdruck kommenden Konzentrationsgrundsatz als begrenzend. Dieser Auffassung, dass neben dem Rechtsmissbrauchs- und dem Verschlechterungsverbot (s. etwa T 934/02) auch der Grundsatz der Konzentration des Parteivorbringens den Verfügungsgrundsatz begrenzt, schloss sich die Kammer in T 28/10 an. Soweit es um die Änderung von Anspruchssätzen im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren geht, ist der Konzentrationsgrundsatz in der R. 116 (2) EPÜ bzw. in den Art. 12 (4) VOBK sowie Art. 13 VOBK 2007 niedergelegt. Die nachträgliche Änderung des Vorbringens wird durch diese Bestimmungen zwar nicht durch strikte Fristen für bestimmte Eingaben vollkommen ausgeschlossen, die Berücksichtigung derartiger Änderungen jedoch in das Ermessen des Entscheidungsorgans gestellt.