G 0004/19 (Doppelpatentierung) 22-06-2021
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1. Eine europäische Patentanmeldung kann nach den Artikeln 97 (2) und 125 EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört.
2. Die Anmeldung kann auf dieser Rechtsgrundlage zurückgewiesen werden, unabhängig davon, ob sie
a) am Anmeldetag oder
b) als frühere Anmeldung oder Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder
c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden ist, die zu dem bereits erteilten europäischen Patent geführt hat.
Zulässigkeit der Vorlagen (bejaht)
Auslegung des Artikels 125 EPÜ
Keine Verfahrensvorschrift im Übereinkommen
Ergänzende Auslegungsmittel nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
Rechtsgrundlage für eine Zurückweisung nach Artikel 97 (2) EPÜ wegen Doppelpatentierung
I. Mit ihrer Entscheidung in der Beschwerdesache T 318/14 vom 7. Februar 2019 (ABl. EPA 2020, A104), die am 20. Dezember 2019 schriftlich erging, legte die Kammer 3.3.01 der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vor:
"1. Kann eine europäische Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört?
2.1 Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind dann die Bedingungen für eine solche Zurückweisung, und gelten unterschiedliche Bedingungen je nachdem, ob die zu prüfende europäische Patentanmeldung
a) am Anmeldetag oder
b) als europäische Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder
c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) einer europäischen Patentanmeldung eingereicht wurde, auf deren Grundlage demselben Anmelder ein europäisches Patent erteilt wurde?
2.2 Hat insbesondere im letztgenannten Fall ein Anmelder ein legitimes Interesse an der Erteilung eines Patents auf die (spätere) europäische Patentanmeldung, weil nach Artikel 63 (1) EPÜ der Anmeldetag und nicht der Prioritätstag maßgeblich für die Berechnung der Laufzeit des europäischen Patents ist?"
II. Die Beschwerde vor der vorlegenden Kammer (im Folgenden "die Kammer") richtete sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 10718590.2 nach Artikel 97 (2) EPÜ in Verbindung mit Artikel 125 EPÜ zurückzuweisen. Die Prüfungsabteilung befand, Anspruch 1 des einzigen anhängigen Antrags sei auf einen Gegenstand gerichtet, der mit dem Gegenstand des europäischen Patents Nr. 2 251 021 identisch sei, das auf die europäische Patentanmeldung erteilt worden war, deren Priorität die strittige Anmeldung beanspruchte. Die Erteilung eines zweiten Patents für diesen Anspruch verstoße gegen den Grundsatz des Doppelpatentierungsverbots (im Folgenden auch nur als "Verbot" bezeichnet), der ein anerkanntes Prinzip in den meisten Patentsystemen sei, wie in den Richtlinien festgestellt. Die Anwendbarkeit des Verbots werde zudem in einem obiter dictum in den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 der Großen Beschwerdekammer bestätigt. Die Prüfungsabteilung befand, dass sich das Verbot auch auf europäische Anmeldungen erstrecke, die eine innere Priorität einer anderen europäischen Anmeldung beanspruchten, und dass die Entscheidung T 1423/07 nicht anwendbar sei, weil die Anmelder dort nicht dieselben gewesen seien.
III. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) brachte in ihrer Beschwerde vor, dass das Verbot im Fall einer inneren Priorität nicht gelte. Die Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 bezögen sich auf Teilanmeldungen und seien nur in diesem Zusammenhang anwendbar. In der Entscheidung T 1423/07 sei anerkannt worden, dass für den Anmelder ein legitimes Interesse an der längeren Schutzdauer bestehe, die infolge der Inanspruchnahme einer inneren Priorität erzielbar sei. Auch auf den Grundsatz "ne bis in idem" könne das Verbot nicht gestützt werden. Artikel 125 EPÜ sei keine geeignete Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung, da es sich um eine Frage des materiellen Rechts handle. Aus den vorbereitenden Dokumenten zum Übereinkommen, insbesondere den Nummern 665 und 666 der Berichte der Diplomatischen Konferenz zum Abschluss des Übereinkommens, gehe hervor, dass es in dieser Frage nicht zu einer Übereinkunft im Sinne von Artikel 31 (2) a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (im Folgenden "Wiener Übereinkommen" oder "WÜRV") gekommen sei. Es möge zwar eine mehrheitliche Übereinkunft über ein Verbot gegeben haben, doch sei diese auf Anmeldungen mit demselben Anmeldetag beschränkt gewesen. Auch Artikel 139 (3) EPÜ biete keine Grundlage für das Verbot. Aus ihm gehe hervor, dass die Frage der Doppelpatentierung ganz dem nationalen Recht überlassen bleibe. Eine Befassung der Großen Beschwerdekammer sei angezeigt. Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragte die Beschwerdeführerin im Hauptantrag die Erteilung eines Patents und hilfsweise die Befassung der Großen Beschwerdekammer; mit dem hierfür von der Kammer vorgeschlagenen Wortlaut der Vorlagefragen erklärte sie sich einverstanden.
IV. Ihr Vorbringen untermauerte die Beschwerdeführerin mit mehreren Dokumenten aus der Sammlung der vorbereitenden Dokumente zum Übereinkommen (gemeinhin als "Travaux préparatoires" bezeichnet). Diese werden in der Begründung der vorliegenden Entscheidung ausführlicher behandelt.
V. In der Vorlageentscheidung wurden diejenigen Vorschriften des Übereinkommens geprüft, die bisher in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern als mögliche Rechtsgrundlage für das Verbot angesehen worden sind, nämlich die Artikel 60 (1), 63 (1), 76 (1) und 125 EPÜ. Die Kammer erachtete keine davon als für diesen Zweck geeignet.
VI. Die Zweifel der Kammer an der Anwendbarkeit des Artikels 125 EPÜ fußten auf zwei Hauptargumenten (Nrn. 56 bis 64 der Entscheidungsgründe). Zum einen befand die Kammer, dass Wortlaut und Anwendungsbereich des Artikels 125 EPÜ an sich, d. h. ohne Hinzuziehung der "Travaux préparatoires", nicht so ausgelegt werden könnten, dass sie den Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots einschlössen. Gemäß den Auslegungsregeln der Artikel 31 und 32 WÜRV sei Artikel 125 EPÜ in der Auslegung nach Artikel 31 WÜRV weder mehrdeutig oder dunkel noch offensichtlich sinnwidrig oder unvernünftig und komme somit für eine Auslegung nach Artikel 32 WÜRV nicht infrage, bei der auch die aus den "Travaux préparatoires" herleitbare gesetzgeberische Absicht berücksichtigt würde. Zum anderen sei auch wegen der fehlenden Einigkeit in dieser Frage unter den Vertragsstaaten während der Diplomatischen Konferenz eine Auslegung des Artikels 125 EPÜ auf der Grundlage einer zwischen allen Vertragsparteien getroffenen gesonderten Übereinkunft oder einer von allen Parteien angenommenen Urkunde im Sinne des Artikels 31 (2) a) oder b) WÜRV nicht möglich.
VII. Die vorbereitenden Dokumente, auf die sich die Kammer im Zusammenhang mit dieser und anderen Fragen in ihren Entscheidungsgründen berief, werden in der Begründung der vorliegenden Entscheidung ausführlich behandelt.
VIII. Der Präsident des EPA wurde aufgefordert, sich zu den Vorlagefragen zu äußern, und Dritten wurde Gelegenheit gegeben, schriftliche Stellungnahmen nach den Artikeln 9 und 10 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) einzureichen. Ihre Stellungnahmen wurden der Beschwerdeführerin weitergeleitet.
IX. In seiner Stellungnahme vom 21. September 2020 brachte der Präsident des EPA vor, die Rechtsgrundlage für das Verbot sei Artikel 125 EPÜ. Die gesetzgeberische Absicht, die Doppelpatentierung durch diesen Artikel zu verbieten, gehe eindeutig aus den vorbereitenden Arbeiten zum Übereinkommen hervor. Dass dieser Grundsatz in den meisten Vertragsstaaten gelte, lasse sich aus den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Artikel 139 (3) EPÜ herleiten. Zwar habe es während der Diplomatischen Konferenz in dieser Frage keine Einigkeit unter allen Parteien gegeben, doch sei diese auch nicht notwendig. Die mehrheitliche Übereinkunft könne durchaus als erkennbare gesetzgeberische Absicht und somit als ergänzendes Auslegungsmittel nach Artikel 32 WÜRV berücksichtigt werden. Es sei statthaft, zur Bestätigung der vorstehenden Auslegung der Artikel 125 und 139 (3) EPÜ gemäß Artikel 32 WÜRV die vorbereitenden Dokumente heranzuziehen. Somit sei die langjährige Praxis des Amts, das Verbot anzuwenden, korrekt und werde auch durch die Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 der Großen Beschwerdekammer gestützt.
X. Amicus-curiae-Schriftsätze nach Artikel 10 VOGBK wurden von mehreren Berufsverbänden, Unternehmen und Privatpersonen eingereicht. Zwei Schriftsätze gingen anonym ein. In den meisten Schriftsätzen wurde die Ansicht vertreten, dass es im Übereinkommen keine geeignete Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung bzw. die entsprechende Praxis des Amts gebe.
XI. Die Beschwerdeführerin reichte keine weitere Stellungnahme ein. Sie beantragte auch keine mündliche Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer. Daher kann die vorliegende Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne vorherige mündliche Verhandlung ergehen.
M/34: Entwurf der Verfahrensordnung der Diplomatischen Konferenz. Das vom EPA verwendete Bezugszeichen wird beibehalten. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Entwurf ohne Änderungen angenommen wurde und zur endgültigen Verfahrensordnung wurde, siehe R3, Nummer 10, Seite 13.
Dieser Punkt in M/10 bezieht sich offenbar auf Nummer 49 von R2 (s. vorstehende Nr. 50).
76. Alles in allem ist die These, die unter Nummer 665 von R3 niedergelegte mehrheitliche Übereinkunft zur Doppelpatentierung könne bei der Auslegung des Übereinkommens nicht berücksichtigt werden, nicht haltbar. Aus den vorbereitenden Dokumenten geht mit überwältigender Deutlichkeit hervor, dass eine tatsächliche und wirksame Übereinkunft darüber bestand, dass das Europäische Patentamt die Doppelpatentierung verbieten sollte, indem es die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt, d. h. durch eine direkte Anwendung des Artikels 125 EPÜ. Zudem muss unter den potenziellen Unterzeichnern des Übereinkommens Einvernehmen geherrscht haben, dass diese mehrheitliche Übereinkunft im Namen der Vollversammlung der Diplomatischen Konferenz getroffen und zum Zweck der Festlegung des Anwendungsbereichs von Artikel 125 in die Sitzungsberichte aufgenommen wurde und dass der in dieser Übereinkunft ausgedrückte Grundsatz somit Bestandteil des Übereinkommens wurde.
A. Zulässigkeit der Vorlage
A.1 Auslegung der Vorlagefragen
1. Frage 1 lautet im Kern: Gibt es im EPÜ eine Rechtsgrundlage dafür, eine Anmeldung wegen Doppelpatentierung zurückzuweisen?
2. Die Kammer hat ausführlich dargelegt, was sie unter dem Begriff "Doppelpatentierung" versteht (Nrn. 17 bis 23 der Entscheidungsgründe), und die Große Beschwerdekammer versteht diesen Begriff im gleichen Sinne. Die grundlegende Frage lässt sich zwar in einfachen Worten ausdrücken, doch hat die Kammer Frage 1 aus gutem Grund differenzierter formuliert, denn isoliert von den konkreten, in der Vorlage und den wenigen Kammerentscheidungen zu diesem Thema behandelten Sachlagen ist der Begriff "Doppelpatentierung" als solcher möglicherweise nicht vollkommen klar. Erstens muss unterschieden werden zwischen der Situation nach Artikel 139 (3) EPÜ (Doppelschutz durch ein nationales und ein europäisches Patent) und einer Doppelpatentierung im engeren Sinne durch zwei oder mehr europäische Anmeldungen (Nrn. 19 und 21 der Entscheidungsgründe). Zweitens muss auch die Unterscheidung zwischen Doppelschutz (Ansprüche mit sich überschneidendem Schutzumfang) und Doppelpatentierung beachtet werden (Nr. 24 der Entscheidungsgründe). Die Große Beschwerdekammer verweist darauf, dass der deutsche Begriff "Doppelschutz" auch für die in Artikel 139 (3) EPÜ geregelte Situation und vergleichbare Situationen eines parallelen Schutzes verwendet wird.
3. Auch wenn "Doppelpatentierung" sofort im engeren Sinne verstanden wird, reicht der Begriff allein möglicherweise nicht aus, um dem Leser zu signalisieren, dass es in der Vorlage darum geht, ob sich im EPÜ eine Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung findet. Es gibt zwar Rechtsprechung, die sich konkret mit der Frage einer Rechtsgrundlage für das Verbot befasst, aber eben auch Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Doppelpatentierung eher auf die Definition "desselben Gegenstands" oder "desselben Anmelders" abstellen. Die Art und Weise, in der diese Elemente in den Wortlaut der Frage 1 eingebaut sind, macht deutlich, dass diese Rechtsfragen nicht Gegenstand der Vorlage sind.
4. In der Vorlage ist nicht näher erläutert, warum Artikel 97 (2) EPÜ in Frage 1 genannt ist. Die Große Beschwerdekammer geht davon aus, dass seine Erwähnung dazu dient, die Zurückweisung einer Patentanmeldung nach der Prüfung durch die Prüfungsabteilung von anderen möglichen Zurückweisungen zu unterscheiden, wie etwa einer Zurückweisung durch die Eingangsstelle nach Artikel 90 (5) EPÜ. Der Hauptfokus der Vorlage liegt auf einer Analyse der verschiedenen Bestimmungen des Übereinkommens, die in der Rechtsprechung als Rechtsquelle des Doppelpatentierungsverbots herangezogen worden sind (Art. 60, 63, 76 und 125 EPÜ) und die somit in Verbindung mit Artikel 97 (2) EPÜ potenziell als Rechtsgrundlage für eine Zurückweisung geltend gemacht werden könnten. Außerdem hat die Kammer erklärt, dass die Vorlage nicht die Frage einschließt, ob und wie das Verbot im Einspruchsverfahren anwendbar sein könnte (Nr. 31 der Entscheidungsgründe). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer stellt der Verweis auf Artikel 97 (2) EPÜ also klar, dass die Vorlagefrage auf die (Anwendbarkeit des Verbots bei der) Sachprüfung nach Artikel 94 EPÜ vor der Prüfungsabteilung beschränkt ist.
5. Nicht erwähnt wird in Frage 1 die zusätzliche Bedingung, dass sowohl das erteilte als auch das potenzielle europäische Patent im selben Hoheitsgebiet wirksam sein müssen. In Anbetracht des Benennungssystems (Art. 66 und 79 EPÜ) und insbesondere der Möglichkeit, einzelne Benennungen zurückzunehmen (Art. 79 (3) EPÜ), wird nach dem Verständnis der Großen Beschwerdekammer in der derzeitigen Praxis des Amts ein Einwand der Doppelpatentierung nur bei sich überschneidenden und noch gültigen Benennungen für das erteilte Patent und die betreffende Anmeldung erhoben. Da der Begründung der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, dass diese Bedingung der Kammer sehr wohl bewusst war (Nrn. 29 und 30 der Entscheidungsgründe), erachtet die Große Beschwerdekammer diese Bedingung für in der Frage selbst implizit enthalten.
6. Frage 2.1 lautet im Kern: Wenn es eine Rechtsgrundlage im EPÜ für das Verbot der Doppelpatentierung gibt, sind dann alle drei möglichen Konstellationen, in denen es zu einer Doppelpatentierung kommen kann, gleich zu behandeln? Gemeinsam ist diesen Konstellationen, dass das erteilte Patent und die Anmeldung dasselbe wirksame Datum haben (Nr. 18 der Entscheidungsgründe).
7. Frage 2.1 ist nur zu beantworten, wenn die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis gelangt, dass es im EPÜ eine Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung gibt. Die Formulierung "... welches sind dann die Bedingungen für eine solche Zurückweisung ...?" mag sehr breit in ihrer Bedeutung erscheinen und den Eindruck erwecken, dass sie alle möglichen Kriterien zur Festlegung der Bedingungen abdecken soll, die für die Anwendbarkeit des Doppelpatentierungsverbots gelten sollen. So wird die Große Beschwerdekammer in der Vorlage aufgefordert, die Bedingungen für ein "[fehlendes] legitimes Interesse" zu klären, das in G 1/05 und G 1/06 (Nr. 13.4 der Entscheidungsgründe) als mögliche Grundlage für das Verbot erachtet wurde. Des Weiteren wird die Große Beschwerdekammer aufgefordert zu klären, was "dieselbe Erfindung" bedeutet (Nr. 80 der Entscheidungsgründe). Auch in den Amicus-curiae-Schriftsätzen wurde nach den Kriterien für die Definition "desselben Anmelders" gefragt. Aus der Begründung der Vorlageentscheidung geht jedoch klar hervor, dass Frage 2.1 im Kern eine Erweiterung der Frage 1 ist, und zwar dahin gehend, ob die gegebenenfalls im EPÜ vorhandene Rechtsgrundlage für das Verbot für alle drei aufgeführten Konstellationen gilt oder nur für eine oder zwei davon. Die Große Beschwerdekammer wird sich darauf beschränken, Frage 2.1 in diesem Sinne zu beantworten.
8. Was Frage 2.2 betrifft, so ist klar, dass die Kammer in erster Linie wissen möchte, ob der in T 1423/07 angegebene Grund ein legitimes Interesse an einer längeren Schutzdauer in Anbetracht des obiter dictum der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06, Nummer 13.4 der Entscheidungsgründe eine Ausnahme vom Doppelpatentierungsverbot für Anmeldungen mit unterschiedlichen Anmeldetagen, aber demselben Prioritätstag begründen kann.
9. Ebenso beschränken sich offenbar die Fragen 2.1 c) und 2.2 auf den Fall der inneren Priorität, bei dem beide Anmeldungen europäische Anmeldungen sind und eine die Prioritätsanmeldung der anderen ist. Wie in der Stellungnahme des Amtspräsidenten (Nr. 104) unterstrichen wurde, kann sich dieselbe Frage aber auch stellen, wenn zwei europäische Anmeldungen mit unterschiedlichen Anmeldetagen die Priorität derselben nationalen Anmeldung beanspruchen.
10. Zudem beschränken sich anscheinend die Fragen 2.1 b) und c) bereits auf den (wahrscheinlicheren) Fall, dass zuerst ein Patent auf die früher eingereichte Anmeldung (d. h. die prioritätsbegründende Anmeldung oder die frühere Anmeldung im Sinne von Art. 76 EPÜ gemeinhin als "Stammanmeldung" bezeichnet) erteilt wird und erst später die Prüfung der späteren Anmeldung (d. h. der prioritätsbeanspruchenden Anmeldung oder der Teilanmeldung) abgeschlossen wird. Eine solche Beschränkung scheint jedoch unbeabsichtigt zu sein, und die Frage kann allgemeiner auf alle verfahrensrechtlich verbundenen Paare von Anmeldungen bezogen werden, die unter die Konstellationen nach Frage 2.1 b) und c) fallen unabhängig davon, welche Anmeldung zuerst zum Patent führt.
A.2 Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Artikel 112 EPÜ
11. Artikel 112 (1) EPÜ lautet:
"Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt,
a) befasst die Beschwerdekammer ... die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält. ...
b) ..."
12. Auf dieser Grundlage ist eine Befassung der Großen Beschwerdekammer durch eine Beschwerdekammer zulässig, wenn es widersprüchliche Rechtsprechung zur Anwendung des EPÜ gibt oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Insbesondere kann eine Rechtsfrage auch ohne widersprüchliche Rechtsprechung von grundsätzlicher Bedeutung sein. Die Notwendigkeit zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung kann auch bestehen, ohne dass es eine große Zahl divergierender Entscheidungen gibt (G 1/11, Nr. 1 der Entscheidungsgründe). Letztlich muss die Beantwortung der Rechtsfrage durch die Große Beschwerdekammer für den vor der Kammer anhängigen Fall entscheidend sein (G 1/14, Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
13. In Frage 1 der Vorlage geht es nicht nur um die korrekte Anwendung einer Rechtsvorschrift, sondern darum, ob bestimmte Vorgehensweisen des Amts eine geeignete Rechtsgrundlage haben. Dass die Handlungen öffentlicher Behörden nicht willkürlich sein dürfen, sondern einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, gilt als Grundprinzip des öffentlichen Rechts (Grundsatz der Legalität). Daher betrachtet die Große Beschwerdekammer die Vorlagefrage auch ohne entsprechende divergierende oder umfassende Rechtsprechung als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Wie die Kammer jedoch richtig festgestellt hat, gibt es tatsächlich divergierende Rechtsprechung zu der Frage, ob eine geeignete Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung überhaupt existiert (Nrn. 43 bis 46 der Entscheidungsgründe), und der Hauptteil der Vorlageentscheidung ist der Sichtung und Analyse von Entscheidungen gewidmet, in denen unterschiedliche Bestimmungen des EPÜ als mögliche Rechtsgrundlage für das Verbot ausgemacht wurden oder in denen das Fehlen einer Rechtsgrundlage festgestellt wurde.
14. Die Fragen 2.1 und 2.2 sind nur relevant, wenn Frage 1 bejaht wird. Sie befassen sich mit Themen, die nicht unmittelbar Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu sein scheinen, sondern eher Aspekte der Anwendung des Grundsatzes des Doppelpatentierungsverbots. Wie bereits unter Nummer 7 erwähnt, ist Frage 2.1 so formuliert, dass sie als Frage nach sämtlichen denkbaren Kriterien für die Gültigkeit des Verbots verstanden werden kann. Allerdings wäre eine derart pauschale Fragestellung sicherlich unzulässig, da die Große Beschwerdekammer grundsätzlich nicht befugt ist, vorab über Rechtsfragen zu entscheiden, die sich noch nicht in einem vor einer Beschwerdekammer verhandelten Fall gestellt haben.
15. Außerdem lässt sich der Vorlage nicht entnehmen, dass die Große Beschwerdekammer alle Einzelheiten der vorgelegten Fragen klären müsste. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, dass die Definition "derselben Erfindung" in dem der Vorlage zugrunde liegenden Fall eine strittige Frage wäre, denn die von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Ansprüche sind mit denjenigen des früher erteilten Patents identisch (Nr. 3 der Entscheidungsgründe).
16. Aus diesen Gründen legt die Große Beschwerdekammer die Frage 2.1 eng aus in dem Sinne, dass sie im Wesentlichen lautet, ob die mögliche Rechtsgrundlage im EPÜ für die drei ermittelten Konstellationen gleichermaßen anwendbar ist oder ob es Gründe geben kann, diese unterschiedlich zu behandeln, indem beispielsweise für eine davon eine Ausnahme gebildet wird. Weitere Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Doppelpatentierung stellen könnten, wie die Frage derselben Erfindung oder desselben Anmelders, werden nicht als Teil der Vorlage betrachtet.
17. Die Große Beschwerdekammer stellt im Hinblick auf die Zulässigkeit der Frage 2.1 weiter fest, dass die im Zusammenhang mit der spezifischeren Frage 2.2 angeführten Entscheidungen auch als widersprüchliche Rechtsprechung für die Zwecke der Beantwortung der Frage 2.1 angesehen werden können. So gibt es beispielsweise Entscheidungen, in denen das obiter dictum von G 1/05 und G 1/06 als auf Teil- und Stammanmeldungen beschränkt betrachtet wird (T 1423/07, Nr. 3 der Entscheidungsgründe), während andere ihm einen allgemeineren Geltungsbereich zuschreiben oder ihm zumindest Gültigkeit für durch Prioritäten verknüpfte Anmeldungen zubilligen (T 2461/10, Nr. 14 der Entscheidungsgründe, bestätigt durch T 2563/11, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe).
18. Ein Grund für eine mögliche Ausnahme vom Verbot wird in der spezifischeren Frage 2.2 genannt. Auch zu dieser Frage führte die Kammer divergierende Entscheidungen an (Nrn. 65 bis 67 der Entscheidungsgründe). Der Wortlaut der Frage scheint zu implizieren, dass gemäß den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 ein Verbot durch den Grundsatz des (fehlenden) legitimen Interesses gerechtfertigt wäre. Somit geht die Große Beschwerdekammer davon aus, dass sie diese Frage nur dann gesondert beantworten muss, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass die Konstellationen der Frage 2.1 jeweils unterschiedlich zu behandeln sein könnten und dass ein Verbot der Doppelpatentierung tatsächlich aus dem Grundsatz eines legitimen Interesses am Verfahren abzuleiten ist.
19. Die Große Beschwerdekammer ist davon überzeugt, dass eine Entscheidung über die (eng ausgelegten) Vorlagefragen für die Entscheidung der Kammer über die Beschwerde notwendig ist. Ebenso hält sie die Strukturierung der Fragen für angemessen. Auch wenn die Kammer dies nicht ausdrücklich sagt, lässt sich aus der Vorlageentscheidung doch ableiten, dass die Kammer selbst der Ansicht ist, der ihr vorliegende Fall könne abhängig von den Antworten der Großen Beschwerdekammer entweder auf einer allgemeinen oder auf einer spezifischeren Ebene entschieden werden. Dies spiegelt sich in der Formulierung der Vorlagefragen wider.
20. Alles in allem gelangt die Große Beschwerdekammer zu der Überzeugung, dass die Vorlage zulässig ist. Insbesondere ist jede der Fragen zulässig, sofern die beantragte Klärung der Bedingungen für eine Zurückweisung auf diejenigen Bedingungen beschränkt ist, die untrennbar mit der Frage der Rechtsgrundlage für eine Zurückweisung verbunden sind. Eine Neuformulierung der Fragen ist nicht notwendig. Die Feststellungen unter den Nummern 9 und 10 über die von den Fragen 2.1 b) und c) abgedeckten Konstellationen können bei der Formulierung der Antworten berücksichtigt werden.
B. Materiellrechtliche Betrachtung der Vorlage: Frage 1
B.1 Artikel 125 EPÜ als vorgeschlagene Rechtsgrundlage
21. Die Kammer hat mehrere Bestimmungen des Übereinkommens im Hinblick auf ihre Eignung als Rechtsgrundlage für das Doppelpatentierungsverbot analysiert. Aus der Vorlage und der gesamten Rechtsprechung geht klar hervor, dass Artikel 125 EPÜ die am häufigsten diskutierte und zumindest prima facie vielversprechendste Bestimmung ist. Artikel 125 EPÜ wird auch in den Richtlinien für die Prüfung im EPA als Rechtsgrundlage für Zurückweisungen angegeben und wurde daher auch von der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung als solche herangezogen. Daher ist es angebracht, mit dieser Bestimmung zu beginnen.
B.1.1 Anwendbarkeit des Artikels 125 EPÜ auf die Frage der Doppelpatentierung
22. Artikel 125 EPÜ trägt den Titel "Heranziehung allgemeiner Grundsätze" und lautet wie folgt: "Soweit dieses Übereinkommen Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, berücksichtigt das Europäische Patentamt die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts."
23. Zunächst stellt sich die Frage, ob sich der Anwendungsbereich des Artikels 125 EPÜ bzw. genauer gesagt einer Vorschrift über das Verfahren, die im Übereinkommen nicht enthalten ist, aber mithilfe eines Grundsatzes des Verfahrensrechts ermittelt werden kann, auch auf materiellrechtliche Aspekte erstrecken kann. Im vorliegenden Fall gilt es zu ergründen, ob die fehlende und als solche hypothetische Vorschrift zur Regelung der Frage der Doppelpatentierung als Verfahrensvorschrift einzustufen ist. Anders ausgedrückt: der Begriff "Vorschrift über das Verfahren" bedarf einer Auslegung.
24. Die Entscheidung G 1/97 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 2000, 322) über die Auslegung des Artikels 125 EPÜ hilft hier nicht weiter. Die dort getroffene Feststellung, dass Artikel 125 EPÜ nicht die Einführung neuer Verfahren erlaubt (Nr. 3 der Entscheidungsgründe), beantwortet nicht die Frage, ob die Prüfung auf Doppelpatentierung unter diesen Artikel fallen kann. Zumindest schließt G 1/97 diese Möglichkeit nicht aus, denn es muss kein neues Verfahren eingeführt werden, sondern diese Prüfung kann als Teil der bestehenden Sachprüfung nach Artikel 94 EPÜ erfolgen (s. auch Nr. 71 der Stellungnahme des Amtspräsidenten).
25. Bei ihrer Behandlung der einschlägigen Entscheidungen tendierte die Kammer zu dem in einigen Entscheidungen vertretenen Ansatz, dass die Doppelpatentierung sowohl verfahrens- als auch materiellrechtliche Aspekte berühre (Nr. 63 der Entscheidungsgründe, unter Bezugnahme auf T 1423/07), ging aber nicht näher auf ihre Gründe dafür ein. Sie wies ferner darauf hin, dass in frühen Entscheidungen ausdrücklich verneint worden sei, dass Artikel 125 EPÜ Angelegenheiten des materiellen Rechts regeln könne (Nr. 43 der Entscheidungsgründe, unter Bezugnahme auf T 587/98, ABl. EPA 2000, 497, Nrn. 3.1, 3.2 und 3.5 der Entscheidungsgründe).
26. Laut der Entscheidung T 1423/07 berührt die Doppelpatentierung auch verfahrensrechtliche Aspekte; diese Feststellung werde gestützt durch die Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens (im Folgenden "R3"), Nummer 665. Diese Quelle bestätige die verfahrensrechtlichen Aspekte der Doppelpatentierung. Daraus zog die dortige Kammer den Schluss, dass die Zurückweisung einer europäischen Anmeldung wegen Doppelpatentierung verfahrensrechtliche wie auch materiellrechtliche Aspekte berühre und Artikel 125 EPÜ somit anwendbar sei. Des Weiteren kam die Kammer in T 1423/07 zu dem Ergebnis, dass das Verbot zwar von einigen Vertragsstaaten angewandt werde, jedoch nicht nachweisbar sei, dass es auch im speziellen Kontext der Phase vor der Erteilung allgemein anerkannt sei (Nrn. 2.2.1 und 2.2.2 der Entscheidungsgründe).
27. Auch aus Sicht der Großen Beschwerdekammer kann eine unter Artikel 125 EPÜ fallende Vorschrift durchaus Aspekte abdecken, die materiellrechtliche Fragen wie den Schutzumfang des beanspruchten Gegenstands berühren. Diese Auslegung kann auf das Übereinkommen selbst gestützt werden, ohne dass die vorbereitenden Dokumente herangezogen werden. So ist es nicht ausgeschlossen, dass bestimmte als "materiellrechtlich" einstufbare Fragen auf der Grundlage des Verfahrensrechts zu entscheiden sind.
28. Nach ständiger Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer ist das Wiener Übereinkommen zwar nicht formell bindend für die Beschwerdekammern, stellt aber eine geeignete Quelle des internationalen Rechts für die Auslegung des Übereinkommens dar. Dies wurde auch in der Vorlageentscheidung bei der dortigen Anwendung der Artikel 31 und 32 WÜRV anerkannt.
29. Diese Artikel sind in Teil III Abschnitt 3 (mit der Überschrift "Auslegung von Verträgen") des Wiener Übereinkommens enthalten und lauten wie folgt (unter Auslassung nicht relevanter Teile):
"Artikel 31 Allgemeine Auslegungsregel
(1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.
(2) Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen
a) jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde;
b) jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.
(3) ...
(4) ...
Artikel 32 Ergänzende Auslegungsmittel
Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31
a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder
b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt."
30. In Anbetracht des Artikels 177 EPÜ, wonach die drei Fassungen des Übereinkommens in Englisch, Französisch und Deutsch gleichermaßen verbindlich sind, ist zudem auf Artikel 33 WÜRV zu verweisen, der ebenfalls zu Teil III Abschnitt 3 gehört:
"Artikel 33 Auslegung von Verträgen mit zwei oder mehr authentischen Sprachen
(1) Ist ein Vertrag in zwei oder mehr Sprachen als authentisch festgelegt worden, so ist der Text in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern nicht der Vertrag vorsieht oder die Vertragsparteien vereinbaren, dass bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll.
(2)...
(3) Es wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben.
(4)..."
31. Normalerweise wird, wenn die gewöhnliche Bedeutung eines Begriffs nach grammatischer (wörtlicher) Auslegung unklar bleibt, als nächste Methode die systematische Auslegung angewendet. Eben dieser Grundsatz kommt in Artikel 31 (1) und (2) WÜRV darin zum Ausdruck, dass ein Vertrag in Übereinstimmung mit der seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung auszulegen ist, wobei der primäre Zusammenhang der Vertragswortlaut selbst ist.
32. Artikel 125 EPÜ ist in Kapitel I des siebenten Teils (mit der Überschrift "Gemeinsame Vorschriften") des Übereinkommens enthalten. Das Kapitel ist überschrieben mit "Allgemeine Vorschriften für das Verfahren". Der Begriff "allgemein" bezieht sich auf den vierten bis sechsten Teil, d. h. das Erteilungs-, das Einspruchs- und das Beschwerdeverfahren. Auch diese Teile sind Vorschriften über das Verfahren gewidmet, und die meisten Artikel der Allgemeinen Vorschriften in Kapitel I des siebenten Teils sind insofern eindeutig verfahrensrechtlicher Art, als sie nicht die materiellrechtlichen Bestimmungen im zweiten Teil des Übereinkommens und insbesondere nicht die Bestimmungen in Kapitel I des zweiten Teils (Art. 52 bis 57 EPÜ) berühren.
33. Somit ist festzustellen, dass die Vorschriften von Kapitel I des siebenten Teils verfahrensrechtlicher Art sind. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass mit dem geringfügigen Unterschied in der englischen Fassung zwischen dem Begriff "procedural provisions" in Artikel 125 EPÜ von Kapitel I des siebenten Teils und der Formulierung "provisions governing procedure" in der Kapitelüberschrift keine wesentliche Unterscheidung bezweckt wird. Dasselbe gilt für den deutschen Wortlaut: "Vorschriften über das Verfahren" (Art. 125 EPÜ) und "Vorschriften für das Verfahren" (Überschrift Kapitel I). In der französischen Fassung wird der Begriff "disposition[s] de procédure" sowohl in Artikel 125 EPÜ als auch in der Überschrift von Kapitel I verwendet. Auf dieser Grundlage deuten sowohl der Wortlaut des Artikels 125 EPÜ als auch seine Stellung innerhalb des Übereinkommens darauf hin, dass es sich dabei um mit den vorangehenden Artikeln dieses Kapitels vergleichbare Verfahrensvorschriften handelt.
34. Kapitel I enthält jedoch auch Artikel 123 EPÜ, dessen Absätze 2 und 3 tagtäglich im Amt angewandt werden, ersterer auch als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung nach Artikel 97 (2) EPÜ. Formell betrachtet sind die Absätze 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ also Verfahrensvorschriften. Andererseits können sie nicht als rein verfahrensrechtlich betrachtet werden, weil sie, wenn sie im Prüfungs- oder Einspruchsverfahren angewandt werden, eine Bestimmung des Anspruchsgegenstands erforderlich machen. Insbesondere bezeichnete die Große Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 die Erfüllung des Artikels 123 (2) EPÜ als materiellrechtliche Voraussetzung, die von der Prüfungsabteilung zu beurteilen ist (Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe).
35. Die vorstehenden Ausführungen belegen, dass sich der Begriff "Vorschrift über das Verfahren" in der Systematik des EPÜ durchaus auf Vorschriften beziehen kann, die eine materiellrechtliche Prüfung des beanspruchten Gegenstands erfordern. Insbesondere können Vorschriften in Kapitel I des siebenten Teils es gestatten, dass eine Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ aus anderen Gründen als der Nichteinhaltung der materiellrechtlichen Patentierbarkeitserfordernisse von Kapitel I des zweiten Teils des Übereinkommens (Art. 52 bis 57 EPÜ) zurückgewiesen wird.
36. Somit gelangt die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass aus rein systematischer Sicht Artikel 125 EPÜ eine Rechtsgrundlage für die Regelung sei es die Zulassung oder das Verbot der Doppelpatentierung bieten kann, selbst wenn es dabei auch um materiellrechtliche Fragen wie "denselben Gegenstand" gehen kann.
B.1.2 Verbot oder Zulassung der Doppelpatentierung als allgemein anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts in der Praxis der Vertragsstaaten
37. Aufgrund der Feststellung, dass Artikel 125 EPÜ als Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung dienen kann, lautet die nächste Frage, ob ein solcher Grundsatz existiert und in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannt ist.
38. Der Großen Beschwerdekammer ist keine zuverlässige Quelle bekannt, die diese These direkt und faktisch belegen würde. Die in der Vorlageentscheidung (Nr. 60 der Entscheidungsgründe) oder in der Stellungnahme des Präsidenten des EPA genannten Quellen, z. B. die regelmäßig aktualisierten Zusammenstellungen der einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts durch das EPA (in der Vorlageentscheidung als N5 angeführt), dokumentieren nur die Praxis der Vertragsstaaten in Bezug auf die Umsetzung des Artikels 139 (3) EPÜ, können aber keine direkten Informationen zu deren Praxis hinsichtlich der Doppelpatentierung im engeren Sinne liefern, d. h. der Möglichkeit, analog zu der unter Nummer 2 erläuterten Doppelpatentierung bei europäischen Patenten zwei nationale Patente zu erteilen. Offenbar kann das Amt aus der allgemeinen Praxis bei der Auslegung des Artikels 139 (3) EPÜ lediglich schließen, dass das Verbot der Doppelpatentierung auch ein allgemein anerkannter Grundsatz ist (Nrn. 80 und 81 der Stellungnahme des Amtspräsidenten). Die genannten Tatsachen stehen jedenfalls im Einklang mit der Hypothese, dass das Verbot der Doppelpatentierung im engen Sinne auch in der Mehrheit der Vertragsstaaten anerkannt und angewandt wird. Dennoch bleibt es dabei, dass der Großen Beschwerdekammer keine Daten vorliegen, auf deren Grundlage sie die Praxis in allen oder zumindest in der Mehrheit der Vertragsstaaten mit Sicherheit ermitteln und somit die Anwendbarkeit des Verbots nach Artikel 125 EPÜ bestätigen könnte.
B.1.3 Das Verbot als Konkretisierung des Grundsatzes eines legitimen Interesses am Verfahren (Auswirkungen von G 1/05 und G 1/06)
39. Der Präsident des EPA brachte vor, dass mit dem obiter dictum der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 die Praxis des Amts gebilligt werde. Die Richtlinien für die Prüfung im EPA in ihrer aktuellen Fassung (März 2021) verweisen im Zusammenhang mit der Doppelpatentierung ebenfalls auf diese Entscheidungen (s. Richtlinien, G-IV, 5.4). Dieser spezielle Teil der Richtlinien wird zwar unter Nummer 93 der Stellungnahme des Präsidenten nicht genannt, doch werden unter Nummer 94 die Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 im Zusammenhang mit der These angeführt, dass die Notwendigkeit eines legitimen Interesses am Verfahren in den Vertragsstaaten ein allgemein anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts sei. Allerdings erläuterte die Große Beschwerdekammer in diesen Entscheidungen nicht, inwiefern das Verbot der Doppelpatentierung aus dem Grundsatz eines legitimen Interesses herleitbar sein sollte. Das ist verständlich, da G 1/05 und G 1/06 nicht auf diese spezifische Frage gerichtet waren. Auch schien sich die Große Beschwerdekammer nicht auf Artikel 125 EPÜ zu stützen, als sie anerkannte, "dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents ... führt", und daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden hatte (G 1/05 und G 1/06, Nr. 13.4 der Entscheidungsgründe). Die Große Beschwerdekammer hat noch nicht einmal erklärt, dass sie ein legitimes Interesse am Verfahren für einen allgemein anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts erachtet, was den Schluss zugelassen hätte, dass Artikel 125 EPÜ anzuwenden sei. Die einzige definitive Schlussfolgerung, die sich aus dem obiter dictum der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 ziehen lässt, ist, dass das Fehlen eines legitimen Interesses eine Erklärung für das Verbot liefern könnte.
40. Darüber hinaus ist die Erklärung der Großen Beschwerdekammer unter Nummer 13.4 der Entscheidungsgründe, dass sie die Existenz des Verbots "anerkennt" und nichts gegen die Praxis des Amts einzuwenden habe, im Zusammenhang insbesondere mit Nummer 13.5 der Entscheidungsgründe zu sehen. Dort erklärte die Große Beschwerdekammer in Bezug auf das Vorbringen des Präsidenten des EPA (G 1/05 und G 1/06, Nr. VIII d) des Sachverhalts und der Anträge), dass eine Anerkennung des Verbots nicht verhindern könne, dass ein Anmelder eine Kette von Teilanmeldungen mit demselben Gegenstand aufrechterhalte. Die Schlussfolgerung der Großen Beschwerdekammer unter Nummer 13.5 hätte erst recht gegolten, wenn das Amt das Verbot nicht angewandt hätte. Daher hatte die Große Beschwerdekammer keinen Grund, die Praxis des Amts infrage zu stellen, denn für ihre eigene Entscheidung war es nicht erforderlich, diese zu bestätigen. Ebenso wenig wurde die Praxis des Amts von der damaligen Rechtsprechung infrage gestellt, auch nicht von T 587/98 (s. o.), die in der Vorlageentscheidung (Nr. 43 der Entscheidungsgründe) als Entscheidung angeführt wurde, die die Anwendbarkeit des Artikels 125 EPÜ auf materiellrechtliche Fragen anzweifle. Tatsächlich beschränkte sich die Kammer in T 587/98 wohlweislich auf den bei Teilanmeldungen denkbaren Fall eines breiteren Anspruchs, der einen engeren Anspruch gänzlich umfasst (Leitsatz und Nr. 3.7 der Entscheidungsgründe), und ging nicht soweit, den allgemeinen Grundsatz eines Verbots der Doppelpatentierung in Zweifel zu ziehen.
41. Daher wäre es für die Zwecke der jetzigen Vorlage nicht angebracht, das Verbot der Doppelpatentierung auf der Grundlage des obiter dictum in G 1/05 und G 1/06 uneingeschränkt zu bejahen.
42. Alles in allem kann die Große Beschwerdekammer rein auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen (Nrn. 38 bis 41) nicht den Schluss ziehen, dass das Verbot der Doppelpatentierung ein in den Vertragsstaaten allgemein anerkannter Grundsatz ist. Es ist daher notwendig, andere Quellen heranzuziehen.
B.2 Heranziehen der vorbereitenden Dokumente zum Übereinkommen ("Travaux préparatoires")
43. In der Vorlageentscheidung wurde erörtert, ob es nach den Bestimmungen des Wiener Übereinkommens gerechtfertigt sein kann, die vorbereitenden Dokumente zum EPÜ als Richtschnur heranzuziehen. Die Kammer befand, dass dies nach Artikel 32 in Verbindung mit Artikel 31 WÜRV im vorliegenden Fall nicht möglich sei. Anscheinend erachtete sie keine der beiden Bedingungen des Artikels 32 WÜRV für erfüllt. In der Frage der Doppelpatentierung lasse eine Auslegung des Übereinkommens, hier des Artikels 125 EPÜ, gemäß den Auslegungsregeln in Artikel 31 WÜRV nämlich weder a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel noch führe sie b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen (d. h. absurden) oder unvernünftigen Ergebnis (Nr. 59 der Entscheidungsgründe). Keinen anderen Schluss lassen zumindest die dort getroffenen Feststellungen der Kammer zu, wonach "die unter Nummer 665 des Dokuments M/PR/I genannte Mehrheitsmeinung [nicht] als ergänzendes Auslegungsmittel herangezogen werden [kann]" und "keine dieser Alternativen [Bedingungen a) und b) des Artikels 32 des Wiener Übereinkommens] ... auf die zu entscheidende Rechtsfrage anwendbar [ist]".
44. In Bezug auf die Bedingung b) schließt sich die Große Beschwerdekammer den Feststellungen der Kammer an: wie aus dem gesamten Zusammenhang des zugrunde liegenden Falls deutlich wird, kann das EPÜ eine Doppelpatentierung entweder erlauben oder verbieten. Keine der beiden Möglichkeiten ist offensichtlich sinnwidrig oder unvernünftig. Ein und demselben Anmelder zwei oder mehr Patente auf dieselbe Erfindung zu erteilen, mag höchst unerwünscht erscheinen, doch kann es schwerlich als völlig sinnwidrig oder eindeutig unvernünftig betrachtet werden. Was die andere Option angeht, nämlich den Status quo gemäß den Richtlinien für die Prüfung, so wurde nie vorgebracht, dass die Praxis des Amts offensichtlich sinnwidrig oder unvernünftig sei, sondern lediglich, dass ihr eine geeignete Rechtsgrundlage fehle. Auch wurde nie vorgebracht, dass die bestehende Praxis in irgendeiner Weise offensichtlich ungerecht sei. Daher stimmt die Große Beschwerdekammer zu, dass die Bedingung b) nicht anwendbar ist.
45. Schwer nachvollziehbar ist jedoch, inwiefern die gewöhnlichen Auslegungsmittel gemäß Artikel 31 WÜRV die Bedeutung des Übereinkommens in Bezug auf die Doppelpatentierung nicht mehrdeutig oder zumindest dunkel lassen. Aus der Vorlage geht klar hervor, dass eine mehr als dreißigjährige Rechtsprechung nicht in der Lage gewesen ist, die Frage zu klären. Die Mehrdeutigkeit des Übereinkommens in Bezug auf die Doppelpatentierung wird implizit auch durch diejenigen Entscheidungen bestätigt, die die Fragen "desselben Anmelders" oder "derselben Erfindung" behandelt haben (s. z. B. T 1391/07, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe, T 1780/12, Nrn. 8 bis 10 der Entscheidungsgründe, T 879/12, Nr. 13 der Entscheidungsgründe, sowie die weiteren dort angeführten Entscheidungen). Dass diese Fragen untersucht wurden, deutet darauf hin, dass die zuständigen Kammern nicht vollständig davon überzeugt sein konnten, dass es nach dem EPÜ kein Doppelpatentierungsverbot gibt. Wären sie davon überzeugt gewesen, hätten sie keine Veranlassung gehabt, über die Fragen "derselben Erfindung" und "desselben Anmelders" zu entscheiden, da diese Fragen irrelevant gewesen wären.
46. Die Große Beschwerdekammer schließt sich nicht der Auffassung an, dass die Auslegung des Übereinkommens (als solchen) eine klare Antwort liefert. Vielmehr ist sie der Ansicht, dass Artikel 125 EPÜ so allgemein formuliert ist, dass sein möglicher Anwendungsbereich schon aus diesem Grund als mehrdeutig erachtet werden kann. Wie bereits unter Nummer 36 ausgeführt, scheint die Regelung der Doppelpatentierung bei systematischer Auslegung nicht vom Anwendungsbereich des Artikels 125 EPÜ ausgeschlossen zu sein. Somit ist das Übereinkommen in dieser Frage nicht klar, sondern enthält schlichtweg keine diesbezügliche Aussage. Das Ergebnis der systematischen Auslegung bedarf möglicherweise einer Bestätigung. Demzufolge ist überhaupt nicht offensichtlich, warum ergänzende Auslegungsmittel und insbesondere die vorbereitenden Dokumente zum EPÜ nicht herangezogen werden können oder sollten, um die Stellung des Artikels 125 EPÜ innerhalb des Übereinkommens oder seine Bedeutung in Bezug auf die Doppelpatentierung zu ermitteln. Es gibt im Gegenteil gute Gründe, darunter Artikel 32 WÜRV, für das Heranziehen der "Travaux préparatoires". Denn wie die angeführten Fälle zeigen, haben auch die Kammern und die Große Beschwerdekammer in der Vergangenheit ganz selbstverständlich die "Travaux préparatoires" als Hilfsmittel bei der Auslegung des Artikels 125 EPÜ herangezogen.
B.2.1 Doppelpatentierung im Lichte der "Travaux préparatoires"
47. Im Folgenden wird auf bestimmte vorbereitende Dokumente zum Übereinkommen verwiesen. Die verwendeten Bezugszeichen sind nachstehend aufgeführt. Sie ersetzen der Kürze halber die üblichen vollständigen Verweisungen und auch die von der Beschwerdeführerin und in der Vorlageentscheidung verwendete Nummerierung N1 bis N4, weil auch auf Teile der "Travaux préparatoires" verwiesen wird, die nicht in den von der R1: Sammlung der Stellungnahmen der teilnehmenden Regierungen und anderer Gremien zu den Entwürfen der Bestimmungen des künftigen Patentübereinkommens, die auf der 6. Tagung der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 19. bis 30. Juni 1972 in Luxemburg (kurz: 6. Tagung) erstellt wurden. Die Stellungnahmen sind in der Dokumentation des Europäischen Patentamts zu den "Travaux préparatoires" als "M9 - M29" geführt. R1 enthält auch den im Vorlageverfahren als N2 eingereichten Auszug.
R2: Bericht über die 6. Tagung der Regierungskonferenz, vom EPA als BR/219 d/72 geführt. Dieser umfasst N4.
R3: Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, in der EPA-Dokumentation als "Berichte MUCDK 1973" geführt (deutsche Fassung). Diese umfassen N1.
R4: Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz, vom EPA als BR/144 d/71 geführt. Dieser umfasst N3.
Diese Dokumente sind auch der Öffentlichkeit über die Website des EPA zugänglich (s. epo.org/law-practice/legal-texts/epc/archive/epc-1973/traveaux/documents_de.html zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments).
48. Es scheint unbestritten, dass die letzte aktenkundige Erklärung des zuständigen Gesetzgebers, der Diplomatischen Konferenz, zur vorliegenden Thematik die Übereinkunft unter Nummer 665 von R3 ist. Die Bedeutung dieser Übereinkunft muss im Lichte der gesetzgeberischen Arbeiten sowohl während als auch vor der Diplomatischen Konferenz bewertet werden. Bevor die noch früheren vorbereitenden Arbeiten zum Übereinkommen herangezogen werden, reicht es für die Beantwortung der Frage 1 aus, mit der 6. Tagung zu beginnen.
49. Zum Zeitpunkt der 6. und letzten Tagung im Juni 1972 hatte Artikel 125 bereits seinen jetzigen Wortlaut und seine jetzige Nummerierung und war daher auch Teil des Übereinkommensentwurfs nach Abschluss der Regierungskonferenz, die nach der 6. Tagung folgte. Es war klar, dass die von der Regierungskonferenz angenommenen Dokumente die Grundlage für die Arbeiten der geplanten Diplomatischen Konferenz bilden würden (R1, Einleitung, Nr. 4, letzter Absatz).
B.2.1.1 Bericht über die 6. Tagung (R2)
50. Wie schon in der Vorlageentscheidung anerkannt (Nr. 56 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf N4), wurde bereits während der Beratungen über Artikel 125 auf der 6. Tagung Einvernehmen darüber erzielt, dass eine Doppelpatentierung nicht möglich ist. Niedergelegt wurde dieses Einvernehmen in R2 unter Nummer 49. Die genaue Formulierung lautet wie folgt:
"Artikel 125
49. Anlässlich der Erörterung dieses Artikels stellte die Konferenz fest, dass das Europäische Patentamt ein und derselben Person für dieselbe Erfindung, für die Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum vorliegen, nur ein europäisches Patent erteilen kann.
Die Konferenz stellte ferner fest, dass das Europäische Patentamt das Recht hat, alle Irrtümer, die ihm versehentlich unterlaufen, zu berichtigen."
Abgesehen von diesen beiden Punkten (d. h. dem Doppelpatentierungsverbot und der Fehlerberichtigung von Amts wegen) sind in R2 keine weiteren Einzelheiten der Beratungen über Artikel 125 niedergelegt.
51. Die teilnehmenden Regierungen und Gremien waren aufgefordert, zu den Entwürfen, einschließlich des Übereinkommensentwurfs, Stellungnahmen einzureichen (R1, Einleitung, Nrn. 4 und 6). Die Stellungnahmen, die vor dem 15. Mai 1973 eingingen, wurden von der deutschen Bundesregierung in Vorbereitung der Diplomatischen Konferenz veröffentlicht (R1, Einleitung, Nr. 6). Der Großen Beschwerdekammer sind Stellungnahmen von zwei teilnehmenden Regierungen zu Artikel 125 bekannt.
B.2.1.2 M/28 Stellungnahme der norwegischen Regierung in R1
52. Norwegen nahm an der Regierungskonferenz von Anfang an teil (R1, Einleitung, Nr. 2) und gab eine Stellungnahme ab. Die vollständige Stellungnahme der norwegischen Regierung ist als M/28 auf den Seiten 341 bis 349 von R1 wiedergegeben; sie ging beim Sekretariat am 5. Mai 1973 ein. Die Äußerungen zu Artikel 125 finden sich unter Nummer 11 von M/28 (R1, S. 346). In der deutschen Fassung lauten sie wie folgt:
"Im Zusammenhang mit Artikel 125 wurde auf der 6. Tagung der Regierungskonferenz 'festgestellt, dass das Europäische Patentamt ein und derselben Person für dieselbe Erfindung, für die Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum vorliegen, nur ein europäisches Patent erteilen kann' (Nr. 49 des Berichts). Nach Meinung Norwegens ergibt sich jedoch aus Artikel 52 Absatz 3, dass am gleichen Tag eingereichte Anmeldungen im Verhältnis zueinander keineswegs neuheitsschädlich sind und dass ein Anmelder somit ohne Nachteil für sich selbst mehrere Anmeldungen am selben Tag einreichen kann. Unter diesen Umständen sollte eine mögliche Beschränkung, wie sie auf der 6. Tagung festgelegt wurde, im Übereinkommen ausdrücklich vorgesehen werden."
B.2.1.3 M/10 Stellungnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs in R1
53. In der vom Sekretariat der Diplomatischen Konferenz erstellten tabellarischen Zusammenfassung der Stellungnahmen in R1 (S. 12 bis 14) ist im Zusammenhang mit Artikel 125 nur Norwegen aufgeführt (R1, S. 13, rechte Spalte unten). Tatsächlich behandelt auch die Stellungnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs im selben Zusammenhang die Frage der Doppelpatentierung. Es wird verwiesen auf das Dokument M/10 (S. 41 bis 49 in R1). Diese Stellungnahme der britischen Delegation in M/10 wurde in der tabellarischen Zusammenfassung in R1 nicht aufgeführt, weil Artikel 125 darin nicht erwähnt ist. M/10 wurde beim Sekretariat vor M/28 eingereicht, nämlich am 29. März 1973.
54. Nummer 2 von M/10 ist überschrieben mit "ALLGEMEINES" und lautet in der deutschen Fassung wie folgt:
"Wir würden es für zweckmäßiger halten, dass die unter Nummer 49 des Berichts über die Konferenz vom Juni 1972 enthaltenen Feststellungen auch in den Bericht über die Diplomatische Konferenz aufgenommen werden."
B.2.1.4 Berichte der Diplomatischen Konferenz (R3), Nummer 665
55. Die Arbeiten der Diplomatischen Konferenz wurden durch die Verfahrensordnung geregelt (M/34). Diese wurde zu Beginn der Konferenz einstimmig angenommen (R3, Nr. 10, S. 13). In der Verfahrensordnung wurden die Organe der Konferenz festgelegt: die Vollversammlung, verschiedene Ausschüsse, Arbeitsgruppen und Berichterstatter (M/34, Regel 3 (2) bis (4)). Die Hauptausschüsse erstellten die Entwürfe, die dem Gesamtausschuss zugeleitet wurden (M/34, Regel 12 (5)). Der Gesamtausschuss nahm die Entwürfe an und leitete sie an die Vollversammlung weiter (M/34, Regeln 3 (2) und 36 (2)). Der Hauptausschuss I war zuständig für die Prüfung von Teil VII des Übereinkommensentwurfs (M/34, Regel 12 (2)), der Artikel 125 einschloss. Alle Regierungsdelegationen waren berechtigt, an allen drei Hauptausschüssen und am Gesamtausschuss teilzunehmen (M/34, Regeln 12 (6) und 14 (2)). Die Entscheidungen der verschiedenen Organe bedurften einer qualifizierten Mehrheit (von zwei Dritteln) bzw. einer einfachen Mehrheit, wobei Stimmenthaltungen als nicht abgegebene Stimmen gewertet wurden (M/34, Regeln 36 und 37). Entscheidungen in den Hauptausschüssen und Arbeitsgruppen bedurften einer einfachen Mehrheit (außer zur Wiederaufnahme der Erörterung von Vorschlägen nach Regel 34).
56. Artikel 125 wird im Sitzungsbericht des Hauptausschusses I unter den Nummern 665 bis 669 behandelt, wobei die Nummern 665 bis 668 der Frage der Doppelpatentierung gewidmet sind, während unter Nummer 669 die übereinstimmende Auffassung festgehalten wird, dass das EPA das Recht hat, alle Irrtümer, die ihm versehentlich unterlaufen, zu berichtigen. Nummer 665 lautet in der deutschen Fassung wie folgt:
"Im Zusammenhang mit Artikel 125 wird auf Wunsch der britischen Delegation festgestellt, dass sich die Mehrheit des Hauptausschusses über Folgendes einig ist: Aus den allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts der Vertragsstaaten ergibt sich, dass einer Person für dieselbe Erfindung, für welche Anmeldungen mit demselben Anmeldedatum vorliegen, nur ein einziges europäisches Patent erteilt werden kann."
57. Bei genauerer Prüfung erscheint die Aussage in der englischen Fassung "it was established ... that it was a ... principle ... in the Contracting States that ... only one European patent [can be granted]" (Hervorhebung durch die Große Beschwerdekammer) etwas verwirrend. Ein Vergleich mit der deutschen und der französischen Fassung (s. nachstehende Nr. 58) zeigt, dass es sich um eine Fehlübersetzung handeln könnte. Eine alternative Erklärung könnte sein, dass in dem zur Abstimmung stehenden ursprünglichen englischen Wortlaut zunächst die Erteilung nur eines (nationalen) Patents als anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts genannt war, aus dem sich ergebe, dass nicht mehr als ein europäisches Patent für dieselbe Erfindung erteilt werden sollte, dies dann aber gekürzt und somit für die englische Fassung des Berichts falsch redigiert wurde.
58. Wie dem auch sei, in korrekter Auslegung müsste die Aussage wie folgt lauten: "it ... followed from the ... principles of procedural law in the Contracting States that only one European patent [can be granted]". Dies geht aus der entsprechenden deutschen Fassung des Berichts ("BerichteMUCDK" in der Dokumentation des EPA) eindeutig hervor: "Aus den allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts der Vertragsstaaten ergibt sich, dass ...". Die französische Fassung ("M-PR" in der Dokumentation des EPA) enthält dieselbe Aussage: "il découle des principes de procédure généralement admis dans les Etats contractants qu'il ... ".
59. Offensichtlich ist auch, dass der britische Antrag unter Nummer 665 von R3 direkt auf die Stellungnahme des Vereinigten Königreichs in M/10 zurückgeht. Der Großen Beschwerdekammer ist nicht bekannt, dass dieses Thema irgendwo anders in den Berichten der Diplomatischen Konferenz behandelt worden wäre. Aus dem Wortlaut der Nummern 665 und 666 (zu letzterer siehe nachstehende Erörterung) ergibt sich lediglich, dass die Mehrheitsposition festgestellt und niedergelegt wurde. Diese mehrheitliche Übereinkunft scheint ohne vorherige Aussprache zustande gekommen zu sein, da keine Erörterung verzeichnet oder auch nur angedeutet ist. Dies lässt sich auch aus der Tatsache ableiten, dass die Frage der FICPI und die Antwort des Vereinigten Königreichs bezüglich der Definition "derselben Erfindung" detailliert vermerkt wurden (R3, Nrn. 667 und 668). In der Vorlageentscheidung wurde festgehalten, dass das Thema vom Berichterstatter des Hauptausschusses I in seinem Bericht an den Gesamtausschuss nicht mehr erwähnt wurde (Nr. 58 der Entscheidungsgründe).
B.2.1.5 Berichte der Diplomatischen Konferenz (R3), Nummer 666
60. Dem Sitzungsbericht zufolge gab die norwegische Delegation nach der Abstimmung über die unter Nummer 665 genannte Übereinkunft eine Erklärung ab. Unter Nummer 666 ist die Erklärung wie folgt wiedergegeben:
"Die norwegische Delegation erklärt hierzu, sie könne diesem Grundsatz in so allgemeiner Form nicht zustimmen, da nach skandinavischem Recht es theoretisch möglich sei, einem Anmelder für dieselbe Erfindung zwei Patente zu erteilen."
61. Diese Erklärung steht mit der Tatsache in Einklang, dass die unter Nummer 665 genannte Übereinkunft eine mehrheitliche war. Ansonsten gibt es, wie weiter oben erwähnt, weder in den Sitzungsberichten noch an anderer Stelle in den "Travaux préparatoires" einen Hinweis darauf, dass die Doppelpatentierung oder Artikel 125 Gegenstand weiterer Debatten war. Somit ist diese Übereinkunft nicht nur die letzte aktenkundige Erklärung des zuständigen Gesetzgebers zur Frage der Doppelpatentierung, sondern darf auch als Ausdruck seiner endgültigen und unveränderten Absicht in dieser Angelegenheit betrachtet werden.
B.2.2 Auslegung der Übereinkunft unter Nummer 665
62. Welche Bedeutung es für die Frage der Doppelpatentierung hat, dass eine mehrheitliche Übereinkunft erzielt und im Sitzungsbericht vermerkt wurde, ist leicht nachvollziehbar. Aus dem Wortlaut des Artikels 125 EPÜ und der ausdrücklichen Verknüpfung der Übereinkunft mit diesem Artikel im Sitzungsbericht lässt sich eindeutig ableiten, dass die (potenziellen) Vertragsstaaten übereinkamen, dass das Verbot der Doppelpatentierung ein allgemein anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts in den Vertragsstaaten und als solcher nach Artikel 125 EPÜ anwendbar ist.
63. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer kann kaum daran gezweifelt werden, dass eine Übereinkunft zwischen den Delegationen zu einem bestimmten Zweck in den Bericht aufgenommen wurde und dass dies allen Delegationen klar sein musste. Die Arbeit einer diplomatischen Konferenz zum Abschluss eines internationalen Vertrags ist eine gewichtige Angelegenheit, bei der im Bericht niedergelegte Übereinkünfte von Belang sind. Der Zweck der unter Nummer 655 von R3 verzeichneten Übereinkunft ist klar: es galt, Artikel 125 EPÜ auszulegen und die Vorschrift gemäß dieser Auslegung anzuwenden. Wie aus der Literatur (und aus den vorbereitenden Dokumenten zum Wiener Übereinkommen selbst) eindeutig hervorgeht, war es im Völkerrecht schon lange gängige Praxis, die vorbereitenden Materialien heranzuziehen, um die den Vertragsbestimmungen zugrunde liegende gesetzgeberische Absicht zu ermitteln, auch wenn diese Praxis nicht immer vorbehaltlos akzeptiert wurde.
B.2.3 In der Vorlageentscheidung zum Ausdruck gebrachte Vorbehalte
64. Die Kammer merkte an, dass die Frage der Doppelpatentierung während der Beratungen über Artikel 125 des Übereinkommens aufkam und dass es bis zur Diplomatischen Konferenz unstrittig war, dass eine Doppelpatentierung nicht möglich sein sollte. Dennoch könne, so befand die Kammer abschließend, nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass das Doppelpatentierungsverbot tatsächlich unter Artikel 125 EPÜ falle oder dass eine entsprechende Übereinkunft erzielt worden sei. Sie kam zu folgendem Schluss: "Aus den Dokumenten der Münchner Diplomatischen Konferenz ist jedoch nicht ersichtlich, dass noch Einigkeit über den Grundsatz bestand ..." (Nr. 58 der Entscheidungsgründe). Die Zweifel der Kammer gründeten sich offenbar auf verschiedene Faktoren, die aus den Sitzungsberichten hervorgehen: dass eine Erklärung auf der Diplomatischen Konferenz ursprünglich geplant gewesen (Nr. 57 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf N3 und N4), aber nicht zustande gekommen sei, dass die Übereinkunft nicht an den Gesamtausschuss berichtet worden sei und dass keine einstimmige, sondern nur eine mehrheitliche Übereinkunft erzielt worden sei (Nr. 58 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf N1, d. h. Nrn. 665 und 666 von R3).
65. Die Große Beschwerdekammer teilt die Vorbehalte der Kammer nicht. Die verschiedenen Faktoren, die diese in Zusammenhang mit der unter Nummer 665 niedergelegten Übereinkunft genannt hat und die auch von der Beschwerdeführerin vorgebracht wurden, lassen keinen Zweifel an der Gültigkeit der Übereinkunft oder ihrer Anwendbarkeit für die Auslegung des Übereinkommens aufkommen. Im Gegenteil erfüllte die im Bericht niedergelegte Übereinkunft ihren Zweck, sie erforderte keine Weiterverfolgung, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie an Unterstützung eingebüßt hätte.
B.2.3.1 Keine einstimmige Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien
66. Die vorlegende Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die unter den Nummern 665 und 666 niedergelegten Umstände weder belegen könnten, dass es zwischen allen Vertragsstaaten Einvernehmen oder eine Übereinkunft im Sinne des Artikels 31 WÜRV gegeben habe, noch gemäß Artikel 32 WÜRV anstelle einer ausdrücklichen Bestimmung im Übereinkommen herangezogen werden könnten, um das Verbot zu begründen (Nr. 59 der Entscheidungsgründe). Diese Auffassung mag richtig sein, wenn sie auf der Prämisse beruht, dass die unter den Nummern 665 und 666 niedergelegten Umstände lediglich einen noch dazu erfolglosen Versuch bezeugen, Einvernehmen zu erreichen. Im Lichte des Dokuments M/10 wird jedoch deutlich, dass die "Feststellung einer mehrheitlichen Übereinkunft" kein bloßer Versuch war, sondern das Ergebnis eines erfolgreichen Antrags der britischen Delegation, dessen Hauptzweck darin bestand, die "Aufnahme in den Bericht" der vorangegangenen Einigung über den Grundsatz des Verbots sicherzustellen.
67. Dass die Übereinkunft nicht einhellig unterstützt wurde, schließt nicht aus, dass sie als Mittel zur Auslegung des Übereinkommens herangezogen wird. Auch die vereinbarten Vertragstexte wurden mit Stimmenmehrheit verabschiedet, und sogar die Annahme des Übereinkommens als Ganzes bedurfte nur einer Zweidrittelmehrheit der Vollversammlung (M/34, Regel 36 (1) und (2)). Jeder an der Konferenz teilnehmende Staat hatte auch das Recht, das Übereinkommen nicht oder mit bestimmten Vorbehalten (Art. 167 EPÜ 1973) zu unterzeichnen. Artikel 125 konnte jedoch nicht Gegenstand eines Vorbehalts sein. Dies belegt eindeutig, dass die Annahme des Übereinkommens durch einen Vertragsstaat nicht bedeutete, dass bereits in der Phase der Verhandlungen während der Diplomatischen Konferenz jeder Vertragsstaat jedem einzelnen Artikel und jeder einzelnen Regel ausdrücklich zustimmen musste. Die Übereinkunft aller Parteien über den Anwendungsbereich des Übereinkommens als Ganzes wurde erst durch ihre Unterschriften erreicht und bezeugt, gefolgt von der jeweiligen Ratifizierung (Art. 165 (1) und (2) EPÜ 1973, Art. 11, 12 und 14 WÜRV), bzw. durch Beitritt (Art. 166 EPÜ 1973, Art. 11 und 15 WÜRV).
B.2.3.2 Beabsichtigte Erklärung laut R4
68. Es wurde von der Beschwerdeführerin vorgebracht und auch in der Vorlageentscheidung (Nr. 57 der Entscheidungsgründe) erwähnt, dass in früheren Dokumenten vorgeschlagen worden sei, anstelle einer ausdrücklichen Bestimmung im Übereinkommen eine Erklärung zur Doppelpatentierung vorzusehen. Wie unter Nummer 119 von R4 festgehalten, wurde beschlossen, eine solche Erklärung in die Berichte über die Diplomatische Konferenz aufzunehmen. Diese Passage von R4 wird auch in der Vorlageentscheidung zitiert (Nr. 55 der Entscheidungsgründe). Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass die unter Nummer 665 von R3 niedergelegte Übereinkunft nicht die beabsichtigte Erklärung sei, weil sie zusätzlich die Bedingung desselben Anmeldedatums enthalte. Dieser Begründung schloss sich die Vorlageentscheidung zwar nicht an, schien aber mit der Beschwerdeführerin darin übereinzustimmen, dass die Übereinkunft unter Nummer 665 nicht als die vorgenannte Erklärung angesehen werden könne (Nrn. 57 und 58 der Entscheidungsgründe), vermutlich wegen der fehlenden Einstimmigkeit und der ausgebliebenen Weiterverfolgung.
69. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer gibt es abgesehen davon, dass in R3 unter Nummer 665 nicht das Wort "Erklärung", sondern das Wort "Übereinkunft" verwendet wird, keinen ersichtlichen Grund, warum die Übereinkunft nicht als die beabsichtigte auslegende Erklärung angesehen werden sollte. Die Stellungnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs in M/10 macht deutlich, dass der Antrag ihrer Delegation demselben Zweck wie die vorgesehene Erklärung diente und letztlich auch das gleiche Ergebnis erzielte. Das Vereinigte Königreich hatte vorgeschlagen, dass "die [auf der 6. Tagung getroffenen] Feststellungen auch in den Bericht über die Diplomatische Konferenz aufgenommen werden". Dies war eindeutig der Fall, und nachdem die Übereinkunft unter Nummer 665 niedergelegt war, erübrigte sich jede weitere Erklärung.
B.2.3.3 Keine Erwähnung der Übereinkunft durch den Berichterstatter des Hauptausschusses I
70. Die vorangegangene Schlussfolgerung steht auch im Einklang damit, dass das Thema vom Berichterstatter des Hauptausschusses I in seinem Bericht an den Gesamtausschuss nicht mehr erwähnt wurde. Die Frage der Doppelpatentierung war auf mehreren Ebenen und bei mehreren Gelegenheiten erörtert worden, und der Wortlaut des Artikels 125 unverändert geblieben. Die mehrheitliche Übereinkunft festzustellen erforderte keine Änderung des Vertragstextes und war auch nicht als Entschließung oder Empfehlung zu betrachten, deren Annahme in der Zuständigkeit der Vollversammlung gelegen hätte (M/34, Regel 3 (2)).
71. Dass der Berichterstatter dieses Thema in seinem Bericht an den Gesamtausschuss nicht erwähnte, bestätigt, dass es nicht kontrovers war und keine eingehende Diskussion nach sich zog, wie unter Nummer 59 erläutert. Hier sei verwiesen auf die folgende Anmerkung in R3 (Seite 199, Kapitel C, I. Vorbemerkung): "Der Berichterstatter erachtet es als seine Aufgabe, dem Gesamtausschuss der Konferenz einen möglichst umfassenden Überblick über die Erörterungen und die daraus hervorgegangenen Beschlüsse des Hauptausschusses I zu geben. In diesem Bestreben werden Diskussionspunkte untergeordneter oder mehr redaktioneller Natur, auch wenn sie zu Textänderungen geführt haben, bewusst vernachlässigt." Auch die aus Nummer 669 von R3 hervorgehende übereinstimmende Auffassung bezüglich der Fehlerberichtigung wurde vom Berichterstatter nicht erwähnt. Sein Bericht konzentriert sich vielmehr auf die wirklich strittigen Punkte. Da die Übereinkunft unter Nummer 665 nichts am Wortlaut des Artikels 125 änderte, bestand umso weniger Grund, sie zu erwähnen.
B.2.3.4 Fehlender Nachweis einer endgültigen Übereinkunft
72. Die Große Beschwerdekammer kann keinen Umstand erkennen, der auf das Fehlen einer endgültigen Übereinkunft oder eine Meinungsänderung hindeutet. Es ist nicht plausibel, dass eine Meinungsänderung in der Frage der Doppelpatentierung stattgefunden haben könnte, ohne dass dies Eingang in die Sitzungsberichte gefunden hätte. Als einzige abweichende Meinung in diesem Zusammenhang ist die erst nach Feststellung der mehrheitlichen Übereinkunft abgegebene Erklärung der norwegischen Delegation unter Nummer 666 von R3 (s. vorstehende Nr. 60) verzeichnet, warum sie den britischen Vorschlag nicht unterstützen könne. Die Verfahrensordnung sah ausdrücklich vor, dass Delegationen auch noch nach dem Wahlvorgang ihre Stimmabgabe erläutern konnten (M/34, Regel 39). Die abweichende Meinung Norwegens impliziert demnach nicht, dass die Frage noch offen war. Die Wiederaufnahme der Erörterung wäre zwar möglich, aber schwierig gewesen: hätte eine Delegation ihre Ansicht durchsetzen wollen, dass der Grundsatz des Verbots oder dessen Anwendung nach Artikel 125 falsch sei, so hätte sie die Wiederaufnahme der Erörterung beantragen müssen, für die es einer Zweidrittelmehrheit bedurft hätte (M/34, Regel 34).
73. Darüber hinaus hätte es der Berichterstatter des Hauptausschusses I einer Erwähnung würdig befunden, wenn das auf der 6. Tagung erzielte und unter Nummer 665 von R3 bestätigte Einvernehmen über das Doppelpatentierungsverbot an Unterstützung eingebüßt hätte. Den Delegationen im Gesamtausschuss wäre dies bei der Weiterleitung der Texte an die Vollversammlung bekannt gewesen, ebenso wie den Delegationen in der Vollversammlung bei der Abstimmung über das Übereinkommen als Ganzes einschließlich Artikel 125 in unveränderter Form. Ähnlich argumentiert der Präsident des EPA, wenn er (unter Nr. 40 seiner Stellungnahme) anmerkt, dass eine nachträgliche Meinungsänderung in einem so späten Stadium in den Sitzungsberichten niedergelegt worden wäre.
B.2.4 Übereinkunft unter Nummer 665 von R3 als ergänzendes Auslegungsmittel nach Artikel 32 WÜRV
74. In Artikel 32 WÜRV sind sowohl die vorbereitenden Arbeiten als auch die Umstände eines Vertragsabschlusses als ergänzende Auslegungsmittel genannt. Die unter Nummer 665 von R3 niedergelegte Übereinkunft ist als Bestandteil des Gesetzgebungsprozesses zu betrachten und war nicht als gesonderte Übereinkunft oder Urkunde der Vertragsparteien beabsichtigt, die gegebenenfalls unter Artikel 31 (2) a) oder b) WÜRV fallen und die Zustimmung aller Vertragsparteien erfordern würde. Wenn die Vertragstexte mit Zweidrittelmehrheit angenommen und Artikelentwürfe mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden konnten, wäre es widersinnig gewesen, bei der Annahme von erläuternden Erklärungen Einstimmigkeit zu verlangen. Da die Vollversammlung der Diplomatischen Konferenz vereinbart hatte, den Hauptausschuss I damit zu betrauen, in ihrem Namen den Wortlaut von Artikel 125 auszuarbeiten (auch der Gesamtausschuss ist ein Organ der Vollversammlung, s. M/34, Regel 3 (2)), war es nur folgerichtig, dass jedwede Auslegung des Artikels 125 ebenfalls im Hauptausschuss I erörtert werden sollte. Vor diesem Hintergrund wurde die unter Nummer 665 von R3 niedergelegte Übereinkunft gemäß den Beschlussfassungsregeln festgestellt, die sich die Diplomatische Konferenz gegeben hatte, und ist insoweit als Mittel zur Bestimmung der gemeinsamen Absicht der Vertragsstaaten nicht weniger geeignet als eine der ausdrücklichen Vorschriften des Übereinkommens.
75. Es trifft zu, dass die unter Nummer 665 von R3 vermerkte Übereinkunft weder eine Übereinkunft nach Artikel 31 (2) a) WÜRV noch eine Urkunde nach Artikel 31 (2) b) WÜRV ist, wie auch in der Stellungnahme des Präsidenten des EPA (unter Nr. 42) konstatiert wurde. Dennoch ist sie ein geeignetes und zulässiges Mittel zur Bestimmung der Absicht der Vertragsparteien im Hinblick auf Geltungsbereich und Bedeutung von Artikel 125 EPÜ und des Übereinkommens generell. Da eine Auslegung nach Artikel 31 WÜRV für sich genommen oder in Verbindung mit der Rechtsprechung die Unklarheiten im Zusammenhang mit der Frage der Doppelpatentierung nicht ausräumen kann, ist die Bedeutung des Übereinkommens durch die Feststellung der Absicht der Vertragsparteien zu bestimmen. Nach Artikel 32 a) WÜRV können zu diesem Zweck die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses herangezogen werden.
B.3 Andere mögliche Rechtsgrundlagen
77. Angesichts dieser Feststellungen erübrigt es sich, die anderen als geeignete Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung vorgeschlagenen Bestimmungen zu prüfen, d. h. die Artikel 60 (1), 63 (1) und 76 (1) EPÜ. Auch ist es nicht notwendig, die Voraussetzungen für ein legitimes Interesse am Verfahren zu bestimmen oder zu prüfen, ob eine Regelungslücke im Übereinkommen geschlossen werden muss. Die vorstehende Analyse zeigt, dass das Verbot aus der dem Übereinkommen zugrunde liegenden gesetzgeberischen Absicht abzuleiten ist und dass keine Regelungslücke besteht.
B.4 Folge der festgestellten gesetzgeberischen Absicht für Artikel 125 EPÜ
78. Durch Artikel 125 EPÜ wird das Europäische Patentamt ausdrücklich ermächtigt, wenn nicht sogar angewiesen oder verpflichtet, allgemein anerkannte Grundsätze des Verfahrensrechts zu berücksichtigen ("take into account", "prend en considération"), wenn das Übereinkommen keine entsprechende Aussage enthält. Nachdem der zuständige Gesetzgeber, hier die Diplomatische Konferenz, festgestellt hat, dass das Verbot der Doppelpatentierung faktisch ein allgemein anerkannter Grundsatz ist, und darüber hinaus klargestellt hat, dass es sich was die Rechtsauslegung anbelangt um einen unter Artikel 125 EPÜ fallenden Grundsatz handelt, war das Amt also nicht nur ermächtigt, diesen Grundsatz anzuwenden, sondern de facto auch dazu verpflichtet.
79. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Übereinkommens war die Erklärung der Delegationen unter Nummer 665 von R3 als Beleg dafür zu werten, dass das Verbot der Doppelpatentierung ein allgemein anerkannter Grundsatz in den Vertragsstaaten war, sodass das Amt es zu Recht von Anfang an angewandt hat. Es wurde weder der Großen Beschwerdekammer zur Kenntnis gebracht noch argumentiert, dass sich diese Sachlage geändert haben könnte, beispielsweise durch den Beitritt neuer Vertragsstaaten oder aufgrund neuerer Gesetzgebung in den Vertragsstaaten. Nichts lässt also den Schluss zu, dass dieser Grundsatz vom EPA nicht mehr anzuwenden wäre.
80. Sich überschneidende Benennungen nach Artikel 79 EPÜ sind eine zusätzliche Voraussetzung für die Anwendung des Verbots. Weder die Kernaussage unter Nummer 665 von R3 noch die vorangegangene Übereinkunft unter Nummer 49 von R2 liefern eine Erklärung, warum das EPA dies berücksichtigen muss. Es war jedoch nicht erforderlich, die Voraussetzung der sich überschneidenden territorialen Wirkung in diesem Zusammenhang ausdrücklich in den Bericht über die Beratungen auf der Diplomatischen Konferenz aufzunehmen, denn dieser Grundsatz stammt dem Bericht zufolge aus den Vertragsstaaten und ist ein inhärentes Merkmal nationaler Patente. Andererseits war dem Gesetzgeber bewusst, wie die Erklärungen der Arbeitsgruppe I im zweiten und vierten Absatz der Nummer 118 von R4 (nachstehend unter Nr. 90 zitiert) zeigen, dass es nur bei sich überschneidenden Benennungen zu einer Doppelpatentierung kommt. Würde das Amt diese zusätzliche Voraussetzung nicht berücksichtigen, d. h. unabhängig vom Status der jeweiligen Benennungen ein zweites europäisches Patent verweigern, so ginge die Wirkung eines solch strengen Verbots über den Anwendungsbereich des ursprünglichen nationalen Grundsatzes hinaus und würde das Verbot somit seiner Rechtsgrundlage berauben.
81. Aus all diesen Gründen ist Frage 1 zu bejahen.
C. Fragen 2.1 und 2.2
C.1.1 Frage 2.1
82. Die vorstehenden Feststellungen der Großen Beschwerdekammer bestätigen, dass in der Frage der Doppelpatentierung nach dem EPÜ im engeren Sinne die Absicht des Gesetzgebers aus den vorbereitenden Dokumenten zum Übereinkommen ableitbar ist. Dieser gesetzgeberischen Absicht zufolge gilt das Verbot "für dieselbe Erfindung, für welche Anmeldungen mit demselben Anmeldedatum vorliegen". In Anbetracht der allgemeinen Wortwahl ist es wahrscheinlich, dass für die in Frage 2.1 genannten Konstellationen keine anderen Bedingungen vorgesehen waren.
83. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass die Übereinkunft auf Anmeldungen mit demselben Anmeldedatum beschränkt und aus diesem Grund auf die Konstellation aus Frage 2.1 c) nicht anwendbar sei. Wie die vorbereitenden Dokumente jedoch zeigen, war die unter Nummer 665 von R3 angeführte Übereinkunft eine Bestätigung der früheren auf der 6. Tagung getroffenen Übereinkunft (Nr. 49 von R2). In der Vorlageentscheidung wurde darauf hingewiesen, dass die frühere Übereinkunft auch die Bedingung desselben Anmeldedatums enthielt, dass dies aber wahrscheinlich eine unbeabsichtigte Ungenauigkeit gewesen sein dürfte (Nr. 56 der Entscheidungsgründe). Die Annahme scheint berechtigt, dass diese Ungenauigkeit übernommen wurde, als die Übereinkunft unter Nummer 665 von R3 getroffen und niedergelegt wurde. Wie unter vorstehender Nummer 80 ausgeführt, war auch das vom Amt konsequent angewandte zusätzliche Erfordernis, nämlich dass das Verbot nur gilt, wenn die zu prüfende Anmeldung und das bereits erteilte Patent gemeinsame benannte Staaten haben, nicht in der Übereinkunft unter Nummer 665 von R3 enthalten.
84. Des Weiteren ist die Übereinkunft unter Nummer 665 von R3 nicht als Rechtsvorschrift im üblichen Sinne zu verstehen, sondern wie beabsichtigt als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes. Deshalb kann nicht erwartet werden, dass sie mit der Genauigkeit einer Rechtsvorschrift abgefasst wäre. Vor diesem Hintergrund ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass das Erfordernis desselben Datums unter Nummer 665 von R3 im Sinne desselben "wirksamen Datums" zu verstehen ist, wie unter Nummer 18 der Gründe der Vorlageentscheidung erläutert, sodass Anmeldungen mit einer gemeinsamen Priorität auch unter das Verbot fallen.
C.1.2 Schlussfolgerungen aus dem Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz (R4)
85. Dass das Doppelpatentierungsverbot für alle drei in der Vorlagefrage 2.1 genannten Konstellationen gilt, wird durch die Teile der vorbereitenden Arbeiten bestätigt, die der endgültigen Schlussfolgerung unter Nummer 655 von R3 vorangingen. Weder kann die Große Beschwerdekammer einen Grund erkennen, noch wurde in der Vorlageentscheidung ein Grund angegeben, warum die Teile der "Travaux préparatoires", die die verschiedenen Aspekte dieser Frage behandeln, d. h. die Anwendbarkeit des Verbots auf die einzelnen Konstellationen der Frage 2.1, keine zuverlässige Quelle für die Ermittlung der gesetzgeberischen Absicht sein oder die dort dokumentierten Positionen später durch gegenteilige ersetzt worden sein sollten. Es gibt zudem weder in den "Travaux préparatoires" noch anderswo einen Hinweis, dass die abschließende ausdrückliche Erklärung des Gesetzgebers, d. h. die unter Nummer 665 von R3 niedergelegte Übereinkunft ohne dass irgendwelche besondere Bedingungen genannt wären aus einem anderen Grund nicht als allgemein anwendbar gedacht gewesen sein sollte. Tatsächlich äußerte die Kammer die Auffassung (Nr. 55 der Entscheidungsgründe), dass sich in den "Travaux préparatoires" keine Stützung für eine Ausnahme für europäische Anmeldungen mit unterschiedlichen Anmeldedaten, aber gemeinsamer Priorität findet, weil das Doppelpatentierungsverbot wie durch R4 belegt (s. Nrn. 117 bis 120) auch für solche Anmeldungen und nicht nur für Teilanmeldungen diskutiert wurde. Andere in der Vorlageentscheidung angeführte Entscheidungen, z. B. T 2461/10 (s. o., Nr. 14 der Entscheidungsgründe), gelangten zu demselben Schluss.
86. Die Große Beschwerdekammer schließt sich diesen Feststellungen aus der Vorlageentscheidung und aus T 2461/10 an. Die Nummern 117 und 118 von R4 geben einen eindeutigen Hinweis darauf, dass sich die Absicht des Gesetzgebers, den Schutz desselben Gegenstands auszuschließen, nicht nur auf Paare von Stamm- und Teilanmeldung bezog, sondern auch auf Anmeldungen mit einer gemeinsamen Priorität, denn jede dieser Passagen enthält die gleiche diesbezügliche Aussage (s. auch die Vorlageentscheidung, Nr. 55 der Entscheidungsgründe, wo diese Aussagen zitiert werden). Formell bezieht sich Nummer 117 auf Teilanmeldungen (Art. 137a des damaligen Entwurfs des Übereinkommens), doch bereits ihr erster Absatz macht deutlich, dass sich die Überlegungen auch auf parallele Anmeldungen (Konstellation a der Frage 2.1) erstrecken sollten. Nummer 118 betrifft ausdrücklich Anmeldungen mit einer gemeinsamen Priorität und zeigt damit, dass das Verbot auch auf diese anwendbar ist.
87. Ferner wird verwiesen auf Nummer 27 der Stellungnahme des Präsidenten des EPA und auf die Entscheidung T 2563/11 (s. o., Nrn. 2.4 und 2.5 der Entscheidungsgründe), in der die zuständige Kammer anmerkte, dass Nummer 120 von R4 eine ausführlichere Erklärung enthalte, warum im Zusammenhang mit Teilanmeldungen eine Bestimmung zum Verbot von auf denselben Gegenstand gerichteten Ansprüchen gestrichen worden sei und warum dies die These stütze, dass das Verbot allgemeineren Charakter habe. Denselben Schluss zog die Kammer in der Vorlageentscheidung unter Nummer 69 der Entscheidungsgründe in Zusammenhang mit ihrer Analyse des Artikels 76 (1) EPÜ. Ein Vergleich des ursprünglichen und des geänderten Wortlauts von Artikel 137a (Europäische Teilanmeldungen) verdeutlicht dies.
Artikel 137a (2) lautet in der Fassung, die in der 9. Sitzung der Arbeitsgruppe I (im Oktober 1971) gebilligt wurde, wie folgt:
"(1)...
(2) Die Patentansprüche der früheren Anmeldung und der Teilanmeldung dürfen keinen Gegenstand enthalten, für den jeweils in der anderen Anmeldung Schutz begehrt wird. Die Beschreibung und die Zeichnungen sollen sich nach Möglichkeit nur auf den Gegenstand beziehen, für den in der Anmeldung Schutz begehrt wird. Ist es erforderlich, in einer Anmeldung einen Gegenstand zu beschreiben, für den in einer anderen Anmeldung Schutz begehrt wird, so ist auf diese zu verweisen."
(Quelle: BR/134 d/71, vgl. Vorbemerkungen, Nr. 2 mit dem Hinweis, dass dieser Entwurf das Ergebnis der 9. Sitzung der Arbeitsgruppe I sei und auf der 10. Sitzung erörtert werde; auch zitiert in der Vorlageentscheidung unter Nr. 54 der Entscheidungsgründe)
Nach den in der 10. Sitzung vorgenommenen Streichungen lautete Artikel 137a (2) wie folgt:
"(2) Die Beschreibung und die Zeichnungen der früheren Anmeldung und einer Teilanmeldung sollen sich nach Möglichkeit nur auf den Gegenstand beziehen, für den in der betreffenden Anmeldung Schutz begehrt wird. Ist es erforderlich, in einer Anmeldung einen Gegenstand zu beschreiben, für den in einer anderen Anmeldung Schutz begehrt wird, so ist auf diese zu verweisen."
(Quelle: BR/139 d/71, vgl. R4, Nummer 4)
88. Für sich genommen deuten die Streichungen im Wortlaut des Artikels 137a des Übereinkommensentwurfs möglicherweise nicht auf ein allgemeines Verbot der Doppelpatentierung hin, sondern könnten im Gegenteil den Eindruck erwecken, dass die Möglichkeit, denselben Gegenstand zu beanspruchen, gebilligt werde. Die richtige Erklärung findet sich jedoch unter der vorgenannten Nummer 120 von R4, und aufschlussreicher als die (vom Präsidenten des EPA unter Nummer 27 seiner Stellungnahme zitierte) englische Fassung ist in dieser Hinsicht die deutsche Fassung (BR/144 d/71): "Um einem Umkehrschluss aus Artikel 137 a Absatz 2 vorzubeugen, der dahin gehen könnte, dass außer bei Teilanmeldungen die Patentansprüche späterer Anmeldungen denselben Gegenstand enthalten dürfen wie die Ansprüche früherer Anmeldungen, beschloss die Arbeitsgruppe, Satz 1 dieser Bestimmung zu streichen." Die deutsche Fassung macht also deutlicher, dass die Streichung den Umkehrschluss verhindern sollte, nur Teilanmeldungen müssten auf unterschiedliche Gegenstände gerichtet sein, während andere Anmeldungen ein und desselben Anmelders dieselbe Erfindung beanspruchen dürften. Die französische Fassung (BR/144 f/71) enthält dieselbe Aussage wie die deutsche. Somit steht Nummer 120 von R4 im Einklang mit der vorstehenden Schlussfolgerung der Großen Beschwerdekammer, dass das Doppelpatentierungsverbot allgemeinen Charakter hat und für alle Konstellationen der Frage 2.1 gilt.
89. Die Große Beschwerdekammer ist daher der Auffassung, dass die "Travaux préparatoires" auf keine besonderen, den genannten Konstellationen eigenen Umstände oder Bedingungen hinweisen, die den Schluss zulassen würden, dass eine der drei Konstellationen im Hinblick auf das Doppelpatentierungsverbot anders behandelt werden sollte als die anderen. Dies beantwortet Frage 2.1.
90. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, Nummer 118 von R4 (Absatz 4 letzter Satz) lege nahe, dass der Gesetzgeber in Fällen einer inneren Priorität eine längere Schutzdauer für Staaten akzeptiere, die sowohl in der Prioritätsanmeldung als auch in der späteren Anmeldung benannt seien. Dort heißt es: "Die Arbeitsgruppe kam abschließend zu dem Ergebnis, dass auch dann, wenn der Anmelder die Priorität einer früheren europäischen Anmeldung in Anspruch nehme, er für dieselbe Erfindung nicht zweimal dasselbe Patent für denselben benannten Staat erhalten könne. Dies brauche aber im Übereinkommen nicht geregelt zu werden. Nach der gegenwärtigen Fassung der Pariser Verbandsübereinkunft müsse eine verlängerte Laufzeit für den doppelt benannten Staat in Kauf genommen werden."
91. Diese Aussage ist jedoch zusammen mit der am Ende des zweiten Absatzes von Nummer 118 von R4 genannten Voraussetzung zu lesen, dass nämlich die frühere Anmeldung zwischenzeitlich zurückgenommen worden wäre: "Die meisten Delegationen waren der Auffassung, Artikel 73 des Übereinkommens [Prioritätsrecht, entspricht im Wesentlichen Artikel 87 EPÜ 1973 und Artikel 87 EPÜ 2000] hindere grundsätzlich den Anmelder nicht daran, für eine europäische Patentanmeldung die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung in Anspruch zu nehmen, zumal Artikel 8 PCT diese Möglichkeit für internationale Anmeldungen vorsehe. Zweifelhaft erschien ihnen nur, ob in der späteren europäischen Anmeldung nochmals ein schon früher benannter Staat benannt werden darf, weil dies dazu führen könne, dass sich in Bezug auf diesen Staat die Laufzeit des Patents um den Zeitraum verlängert, der zwischen der Einreichung der früheren und der späteren Anmeldung liegt, falls inzwischen die erste Anmeldung zurückgenommen wird" (Hervorhebung durch die Große Beschwerdekammer). Im dritten Absatz von Nummer 118 merkte die Arbeitsgruppe an, dass das Problem einer verlängerten Laufzeit durch erwartete Änderungen der Pariser Verbandsübereinkunft (als "Pariser Verbandsunion" bezeichnet) voraussichtlich gelöst würde. Die erwähnte verlängerte Laufzeit kann daher als Kombination der Schutzdauer nach Artikel 64 (1) EPÜ und dem einstweiligen Schutz nach Artikel 67 (1) EPÜ (damals Artikel 18 und 19, die im Wesentlichen den Artikeln des EPÜ 1973 und den geltenden Artikeln entsprechen) verstanden werden. In Anbetracht dessen betrifft die von der Beschwerdeführerin herangezogene Aussage der Arbeitsgruppe nicht die Doppelpatentierung im engeren Sinne und widerspricht auch nicht der früheren ausdrücklichen Erklärung der Arbeitsgruppe, dass nicht einmal im Fall einer inneren Priorität ein zweites Patent für dieselbe Erfindung erteilt werden könne.
C.2 Frage 2.2
92. Angesichts der vorstehenden Feststellungen ist klar, dass sich die Absicht des Gesetzgebers hinsichtlich des Verbots der Doppelpatentierung auch auf Anmeldungen mit einer gemeinsamen Priorität erstreckt. Wie erwähnt, lautet die Antwort auf Frage 2.1, dass das Verbot für alle drei ermittelten Konstellationen gilt. Daraus folgt, dass Frage 2.2 nicht gesondert beantwortet werden muss.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden, dass die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wie folgt zu beantworten sind:
1. Eine europäische Patentanmeldung kann nach den Artikeln 97 (2) und 125 EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört.
2.1 Die Anmeldung kann auf dieser Rechtsgrundlage zurückgewiesen werden, unabhängig davon, ob sie
a) am Anmeldetag oder
b) als frühere Anmeldung oder Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder
c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden ist, die zu dem bereits erteilten europäischen Patent geführt hat.
2.2 In Anbetracht der Antwort auf Frage 2.1 ist keine gesonderte Antwort erforderlich.