T 0037/00 (Streichen einer Papierbahn/VOITH) 06-06-2003
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Vorrichtung zum Streichen einer Papierbahn
Verspätetes Vorbringen einer eigenen offenkundigen Vorbenutzung durch die Einsprechende - nicht zulässig
Neuheit (ja) - ein aus einer Skizze ausgemessener Abstand gehört nicht zum Stand der Technik
Hauptantrag: Erfinderische Tätigkeit (nein) - fachmännische Optimierung eines Parameters
Hilfsantrag: Erfinderische Tätigkeit (nein) - zusätzliches Merkmal aus dem Stand der Technik bekannt
Antrag auf Gelegenheit zur Vorlage weiterer Beweismittel - nicht stattzugeben, wenn dafür bereits ein Anlaß vorhanden war und ausreichend Gelegenheit bestand.
I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 94 111 844.0 wurde das europäische Patent Nr. 0 643 168 mit 8 Ansprüchen erteilt. Der einzige unabhängige Anspruch hatte folgenden Wortlaut:
"1. Vorrichtung zum Streichen einer Papierbahn
1.1. mit zwei Walzen (10, 20), die parallel zueinander angeordnet sind und die einen Walzenspalt zum Hindurchführen der Papierbahn (10) miteinander bilden;
1.2. mit wenigstens einer Auftragsdüse (1.1, 5.1, 5.2, 8.1, 8.2, 10.1, 10.2) zum Aufbringen einer Streichfarbenschicht auf die Mantelflächen wenigstens einer der Walzen (10, 11) [sic!] zwecks Übertragens der Streichfarbenschicht im Walzenspalt von der Mantelfläche auf einer Seite der Papierbahn (11);
1.3. mit Leitorganen, die dem Walzenspalt nach-geschaltet sind, und die die Papierbahn leiten;
1.4. die Leitorgane sind Tragluftbalken (2, 3, 12, 14.1, 14.2, 14.3, 22, 23, 30, 31, 32, 40, 41, 42, 50, 60), die ein Tragluftpolster zwischen der Papierbahn (11) und der der Papierbahn zugewandten Fläche des Tragluftbalkens erzeugen;
1.5. die Tragluftbalken (2, 3, 12, 14.1, 14.2, 14.3, 22, 23, 30, 31, 32, 40, 41, 42, 50, 60) sind derart angeordnet, dass die Papierbahn (11) nach dem Walzenspalt wenigstens einmal umgelenkt wird;
gekennzeichnet durch die folgenden Merkmale:
1.6. wenigstens ein Tragluftbalken (2, 3, 12, 14.1, 14.2, 14.3, 22, 23, 30, 31, 32, 40, 41, 42, 50, 60) ist dem Walzenspalt unmittelbar nachge-schaltet;
1.7. der unmittelbar nachgeschaltete Tragluftbalken (2, 3, 12, 14.1, 14.2, 14.3, 22, 23, 30, 31, 32, 40, 41, 42, 50, 60) ist in einer Entfernung vom Walzenspalt der beiden Walzen (10, 20) angeordnet, die das 0,3- bis 1-fache des Walzendurchmessers beträgt, vorzugsweise das 0,5- bis 0,8-fache."
II. Gegen die Patenterteilung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) Einspruch eingelegt. Sie stützte sich dabei im wesentlichen auf folgende Engegenhaltungen:
D1 CA-A-1 221 569;
D2 R. Rantanen, Pigmentieren mit der Filmleimpresse, 15. PTS Streicherei-Symposium - 17.-20.09.91, München; und
D4 Valmet Sym-Sizer, 6.1994, Firmenbroschüre.
Ein Einwand unter Artikel 100 b) EPÜ wurde während des Einspruchsverfahrens zurückgezogen.
III. In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass die beanspruchten Prioritäten aus zwei früheren deutschen Anmeldungen nicht wirksam seien, weil keine dieser Anmeldungen das Merkmal 1.7 gemäß Anspruch 1 offenbare. Demzufolge sei Dokument D4 Stand der Technik und unter Artikel 54 (2) EPÜ zu berücksichtigen. Die Einspruchsabteilung hat die Neuheit des Streitgegenstandes indes anerkannt, weil - in Anlehnung an die Kammerentscheidung T 204/83 - Merkmal 1.7. aus den diesbezüglich zitierten Skizzen des vorgelegten Stands der Technik nicht eindeutig ableitbar sei. Sie hat auch erfinderische Tätigkeit für den Streitgegenstand anerkannt, weil dem zitierten Stand der Technik nicht zu entnehmen sei, dass Merkmal 1.7 für den Orangenschalen-Effekt, dessen Verringerung dem Streitpatent als technische Aufgabe zugrunde liege, eine Rolle spiele.
IV. Mit ihrer Beschwerdebegründung machte die Beschwerde-führerin erstmals offenkundige Vorbenutzung des Streit-gegenstandes durch die Pilotanlage ihres eigenen Valmet-Sym-Sizers in Rautpojha, Finnland geltend, welche ab 1. April 1992 in verschiedenen Veranstaltungen bzw. Präsentationen und ohne jede Geheimhaltungsverpflichtung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gewesen sei. Die Beschwerdeführerin bot hierzu Zeugenbeweis an.
V. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2002 wies die Beschwerde-kammer darauf hin, dass der Einwand der offenkundigen Vorbenutzung möglicherweise als verspätet nicht zu berücksichtigen sei.
Mit Schreiben vom 4. Juni 2003 reichte die Beschwerde-führerin als Dokument D5 Kopien aus einem Buch aus dem Jahre 1983 mit dem Titel "Paperin Valmistus", Seiten 756 bis 759 ein sowie, als Dokument D6, eine englische Übersetzung einer Textpassage daraus.
VI. Am 6. Juni 2003 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt, in deren Verlauf die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) einen geänderten Satz von sieben Patentansprüchen gemäß Hilfsantrag I vorlegte. Ein zweiter Hilfsantrag wurde während der mündliche Verhandlung wieder zurückgezogen.
Anspruch 1 des somit einzigen Hilfsantrages enthält gegenüber dem erteilten folgendes zusätzliche Merkmal:
"1.8 der auf den Walzenspalt folgende Tragluftbalken (12.1) ist derart angeordnet, daß die Papierbahn die eine der beiden Walzen nach dem Walzenspalt umschlingt."
VII. Die Beschwerdeführerin hat - schriftlich und mündlich - folgende Argumente vorgetragen:
- Der Streitgegenstand sei durch die offenkundige Vorbenutzung neuheitsschädlich vorweggenommen. Deren Einführung als Beweismaterial sei nicht von Anfang an notwendig gewesen, weil Merkmal 1.7 ursprünglich nicht relevant gewesen wäre. Erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wäre erkenn-bar geworden, dass der Einwand der Neuheitsschädlich-keit von Dokument D4 von der Einspruchsabteilung nicht akzeptiert werde, als diese erstmals geltend gemacht habe, dass ein aus einer Skizze ausgemessener Abstand nicht Stand der Technik sei.
- Die von der Einspruchsabteilung hierzu zitierte Entscheidung T 204/83 sei irrelevant, weil es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Skizze handle.
- Ausgehend von D4 als nächstliegendem Stand der Technik, sei es für den Fachmann zwingend erforderlich, den Tragluftbalken so nahe wie möglich am Walzenspalt anzuordnen, weil bei den hohen Papierlaufgeschwindigkeiten solcher Maschinen lange freie Bahnläufe, d. h. lange freie Züge, vermieden werden müßten, um ein Flattern oder Reißen des feuchten Papiers zu verhindern.
- Die im Streitpatent genannte technische Aufgabe, den Orangenschalen-Effekt zu verringern, habe mit dem Abstand zwischen Tragluftbalken und Walzenspalt gemäß Merkmal 1.7 nichts zu tun. Es sei von der Beschwerdegegnerin nicht gezeigt worden, dass dieser Abstand eine besondere Bedeutung für die Lösung der gestellten Aufgabe habe.
VIII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefaßt werden:
- Auf die Bedeutung der besonderen Anordnung der Tragluftbalken im Hinblick auf den Walzenspalt werde im Streitpatent mehrfach hingewiesen. Die Beschwerdeführerin habe dagegen die Bedeutung von Merkmal 1.7 offenbar selbst im Einspruchsverfahren noch nicht erkannt. Infolgedessen wäre ihr und etwaigen Besuchern der Pilotanlage in Rautpojha ein solches Merkmal bei ihrem eigenen Prototyp des Valmet Sym-Sizers verborgen geblieben.
- Es sei richtig, dass das Flattern der Papierbahn hinter dem Walzenspalt von verschiedenen Faktoren abhängig sei. Unbestritten sei auch, dass in D2 der Orangenschalen-Effekt erwähnt werde. Zu seiner Beseitigung seien aber keine Lösungen mit den Merkmalen des Streitgegenstandes vorgeschlagen worden. Außerdem sei ein Zusammenhang zwischen dem Flattern der Papierbahn und dem Orangenschalen-Effekt nicht bekannt. Vielmehr habe dieser mit einem Pendeln bzw. Vagabundieren des Ablösepunktes der Papierbahn von der Walze hinter dem Walzenspalt zu tun.
- Die Erfindung bestehe einerseits darin, dass dieser Zusammenhang erkannt worden sei und andererseits in der Erkenntnis, dass sich innerhalb eines definierten Abstandes des Tragluftbalkens vom Walzenspalt, nämlich innerhalb des Bereiches der dem 0.3 bis 1.0-fachen des Walzendurchmessers entspricht, ein Pendeln des Ablösepunktes und damit der Orangenschalen-Effekt optimal unterbinden ließe. Falls nötig, wolle die Beschwerdegegnerin experimentell nachweisen, dass es hierbei auf die in Merkmal 1.7 angegebenen Grenzen des Abstandes des Tragluftbalkens vom Walzenspalt ankomme.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtene Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise die Beschwerde zurückzuweisen soweit sie sich gegen die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Patentansprüche 1 bis 7 gemäß dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag I richtet.
1. Verspätetes Vorbringen
1.1. Offenkundige Vorbenutzung
Obwohl die Beschwerde aus anderen Gründen erfolgreich ist (Punkt 3), scheint im vorliegenden Fall eine Stellungnahme zum verspäteten Vortrag der offenkundigen Vorbenutzung angebracht.
1.1.1. Die Beschwerdeführerin gab an, sie habe darauf verzichtet, den Einspruch auf Material "über zahlreiche vorgenommene offenkundige Vorbenutzungen" zu stützen, weil sie der Überzeugung gewesen sei, daß der rechtzeitig geltend gemachte Stand der Technik dem Streitgegenstand eindeutig entgegenstehe. Darüber hinaus sei das Merkmal 1.7, wonach "der unmittelbar nachgeschaltete Tragluftbalken in einer Entfernung vom Walzenspalt der beiden Walzen angeordnet ist, die das 0,3- bis 1-fache des Walzendurchmessers beträgt", bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung von keiner Seite als besonders relevant angesehen worden. Das Material über die offenkundigen Vorbenutzungen sei ihr daher als unnötige Belastung des Verfahrens erschienen.
1.1.2. Gemäß Artikel 114 (2) EPÜ liegt es im Ermessen der Beschwerdekammern verspätetes Vorbringen zu berück-sichtigen. Hierbei sind strenge Maßstäbe insbesondere dann anzuwenden, wenn es sich - wie im vorliegenden Fall - um eine offenkundige Vorbenutzung durch die Einspechende selbst handelt, und wenn die Einsprechende diesen Einwand ohne triftigen Grund erst nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgebracht hat (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 4. Auflage 2001, Kapitel VI. F. 3.1.4). In diesem Zusammenhang einschlägig sind die Kammerentscheidungen T 17/91 (unveröffentlicht im Abl. EPA) und T 534/89 (Abl. EPA, 1994, 464), in denen unter solchen Umständen der Einwand der offenkundigen Vorbenutzung - ungeachtet seiner möglichen Relevanz - als verfahrensmissbräuchlich nicht zugelassen worden ist.
1.1.3. Auch im vorliegenden Fall rechtfertigen die von der Einsprechenden vorgetragenen Gründe (vgl. Punkt 1.1.1) nicht die Verspätung.
1.1.4. Wenn nämlich eine Partei, wie hier die Einsprechende, davon absieht, das gesamte ihr bekannte Beweismaterial rechtzeitig vorzulegen, geht sie bewusst das Risiko ein, daß das tatsächlich vorgelegte Beweismaterial möglicherweise von der Einspruchsabteilung oder der Beschwerdekammer nicht als patenthindernd beurteilt wird.
1.1.5. Auch war das in Frage stehende Merkmal 1.7 bereits Bestandteil des Gegenstands gemäß Anspruch 1 in der erteilten Fassung und die Einsprechende wie auch die Patentinhaberin haben dieses Merkmal in allen Schriftsätzen im Einspruchsverfahren diskutiert. Dabei ging die Beschwerdeführerin bereits im Einspruchs-schriftsatz sogar davon aus, dass laut Streitpatent die darin genannte Aufgabe durch dieses Merkmal in Verbindung mit Merkmal 1.6 gelöst werden solle (Einspruchsschriftsatz Seiten 3 und 4). Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass die Relevanz von Merkmal 1.7 bis zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht erkannt worden sei.
1.1.6. Hinzu kommt, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin, sie habe im Einspruchsverfahren absichtlich auf die Einführung der Vorbenutzung als Beweismaterial verzichtet, um das Verfahren nicht zu belasten, nicht nur bestätigt, dass ihr dessen mögliche Relevanz im Hinblick auf die Patentfähigkeit des Streitgegenstands von Anfang an bewußt war, sondern auch, dass sie ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, dieses Beweismittel rechtzeitig anzubieten.
1.1.7. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die von der Beschwerdeführerin erstmals mit der Beschwerdebegründung geltend gemachte eigene offenkundige Vorbenutzung in ungerechtfertigter Weise verspätet und daher nicht zu berücksichtigen ist.
1.2. Dokumente D5 und D6
1.2.1. D5 und D6 wurden von der Beschwerdeführerin vorsorglich eingereicht, um die Existenz allgemeinen Fachwissens zu belegen, falls dieses von der Beschwerdegegnerin bestritten werden sollte. Das in Rede stehende Fachwissen betraf die Problematik einer flatterfreien Führung der Papierbahn. Maßgeblich ist hierbei nur die in englischer Übersetzung vorliegende Textpassage (D6), aus der sinngemäß hervorgeht, dass es wegen der Schwierigkeiten mit den aus der Auftragspresse kommenden feuchten, flatternden und klebrigen Papierbahnen notwendig sei, die Bahn direkt nach der Auftragspresse zu stabilisieren, um Bahnbrüche insbesondere bei höheren Geschwindigkeiten zu vermeiden.
1.2.2. Diese Problematik wurde bereits im Einspruchsschriftsatz angesprochen und von der Einsprechenden in späteren Schriftsätzen mehrfach als allgemeines Fachwissen des Fachmanns unterstellt. Danach werde im Papiermaschinen-bau als übergeordnete Aufgabe stets angestrebt, das allgemein bekannte, vor allem bei hohen Bahngeschwindig-keiten auftretende, Problem des Flatterns und Reißens der Papierbahnen durch Vermeidung freier Bahnläufe zu verhindern.
1.2.3. Eine Verpflichtung für die Vorlage von Beweismitteln für die Existenz geltend gemachten allgemeinen Fachwissens entsteht erst dann, wenn diese Existenz von der Gegenpartei bestritten wird (siehe z. B. die unveröffentlichte T 919/97, Gründe Nr. 4.4). Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin die Existenz des von der Beschwerdeführerin behaupteten Fachwissens nicht bestritten, so dass die Vorlage der D5 und D6 als Beleg für ein solches allgemeines Fachwissen nicht als verspätet betrachtet werden kann.
2. Neuheit (Haupt- und Hilfsantrag)
2.1. Strittig ist, ob Merkmal 1.7 des Streitgegenstandes, nämlich der besondere Abstand zwischen Walzenspalt und Tragluftbalken aus Abbildung 3 in D2 sowie der letzten Abbildung in D4 entnehmbar ist.
2.2. Dies wurde von der Einspruchsabteilung unter Verweis auf die Kammerentscheidung T 204/83 (Abl. EPA, 1985, 310, gründe Nr. 6 und 7) zurecht verneint; denn beide Abbildungen zeigen nur eine Skizze. Nach ständiger Rechtsprechung lassen solche Skizzen Raum für Variationen, z. B. im Hinblick auf Abmessungen und Größenverhältnisse, insbesondere dann, wenn keinerlei nähere Angaben zu dem in Frage stehenden zeichnerisch dargestellten Detail vorliegen (siehe auch die unveröffentlichte T 896/92, Gründe Nr. 2). Dies ist hier der Fall. Daher enthalten die genannten Abbildungen in D2 und D4 nicht den Offenbarungsgehalt einer technischen Zeichnung oder naturgetreuen Abbildung.
2.3. Die Meinung der Einsprechenden, es handle sich im vorliegenden Fall nicht um eine Skizze, weil D2 auch einen entsprechenden öffentlichen Vortrag im Rahmen eines Symposiums umfasse, bei welchem die Abbildung in wesentlich größerem Format als Dia gezeigt wurde, überzeugt die Kammer nicht; denn eine Skizze verliert nicht ihren Charakter allein durch Vergrößerung.
2.4. Die Kammer folgert daraus, dass der Streitgegenstand im Hinblick auf den Stand der Technik neu ist.
3. Erfinderische Tätigkeit (Hauptantrag)
3.1. Technisches Gebiet
3.1.1. Das Streitpatent betrifft eine Vorrichtung zum Streichen von Papier gemäß Oberbegriff von Anspruch 1. Eine solche Vorrichtung ist aus dem Stand der Technik grundsätzlich bekannt, beispielsweise aus der in der Patentschrift erwähnten EP-A-0 507 218 (Spalte 1, Zeilen 3 bis 40).
3.1.2. Ein bisher nicht befriedigend gelöstes Problem bei solchen, an sich bewährten Streichvorrichtungen besteht laut Patentschrift aber darin, dass der Strich auf der Papierbahn nach Verlassen des Walzenspaltes nicht eben ist, sondern das Aussehen einer Orangenschale hat (Orangenschalen-Effekt) (Spalte 1, Zeilen 42 bis 55).
3.1.3. Die dem Streitpatent zugrundeliegende Aufgabe besteht daher darin, eine Streichvorrichtung gemäß Oberbegriff von Anspruch 1 derart zu gestalten, daß der Orangenschalen-Effekt ohne nennenswerten Mehraufwand, z. B. ohne dass ein Glättwerk benötigt wird, verringert oder völlig beseitigt wird (Spalte 1, Zeile 49 bis Spalte 2, Zeile 2). Laut Streitpatent wird diese Aufgabe dadurch gelöst, dass wenigstens ein Tragluftbalken dem Walzenspalt unmittelbar nachgeschaltet ist, und zwar in einer Entfernung vom Walzenspalt, die das 0.3 bis 1.0-fache des Walzendurchmessers beträgt (Spalte 2, Zeilen 18 bis 45).
3.2. Nächstliegender Stand der Technik
3.2.1. Beide Parteien gehen von D4 als nächstliegendem Stand der Technik aus.
3.2.2. D4 ist ein Prospekt der Firma Valmet, in dem verschiedene Ausführungsformen ihrer als Sym-Sizer bezeichneten Streichvorrichtung vorgestellt sind. Auf der letzten Seite des Prospektes ist das Pilotprojekt "Sym-Sizer R&D" schematisch abgebildet. Es ist unbestritten, dass diese Ausführungsform alle Merkmale gemäß Obergriff von Anspruch 1 umfaßt sowie außerdem Merkmal 1.6, d. h. einen Tragluftbalken, der dem Walzenspalt unmittelbar nachgeschaltet ist.
3.2.3. Die Kammer stimmt daher mit den Parteien überein, dass sich D4 als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eignet.
3.3. Technische Aufgabe
3.3.1. Nach Meinung der Beschwerdeführerin gelte es in der Papierstreicherei grundsätzlich, sozusagen als stets gegebene "Oberaufgabe", ein Flattern der Papierbahn hinter dem Walzenspalt zu vermeiden.
Die Beschwerdegegnerin hat dagegen argumentiert, die Erfindung beruhe auf der erstmaligen Erkenntnis, der Orangenschalen-Effekt sei darauf zurückzuführen, dass der Ablösepunkt der Papierbahn von der Walze nicht konstant sei, sondern auf dieser hin- und hervagabundiere. Ein Zusammenhang zwischen dem Phänomen des Flatterns und dem Orangenschalen-Effekt sei der Beschwerdegegnerin hingegen nicht bekannt. Es sei das Verdienst der Erfinder, gefunden zu habe, dass sich das unerwünschte Pendeln des Ablösepunktes der Papierbahn von der Walze und damit der Orangenschalen-Effekt optimal unterbinden ließen, wenn sich der Tragluftbalken innerhalb des engen, in Merkmal 1.7 definierten, Abstandsbereiches vom Walzenspalt befinde.
3.3.2. D4 erwähnt weder den Orangenschalen-Effekt noch das Flattern der Papierbahn. Es nennt aber als Hauptaufgabe auf dem Gebiet der Papierstreicherei die effiziente Herstellung hochqualitativer Striche auch mit den neuen Hochgeschwindigkeits-Maschinen (letzte Seite, rechte Spalte, Zeilen 3 bis 7). Es muß daher unterstellt werden, dass auch in D4 unebene Striche unerwünscht sind. Von der Konstruktionsseite als optimales Layout für Hochgeschwindigkeitsbetrieb wird unter anderem die Einhaltung kurzer freier Züge (short draws) genannt (Seite 2, rechte Spalte, Zeilen 1 bis 3).
3.3.3. Diese Empfehlung kurzer freier Züge in D4 bezieht sich aus Gründen der Logik auch auf den Sym-Sizer R&D, sofern dieser bei hoher Geschwindigkeit betrieben werden soll, und somit auch auf den Abstand des in der Abbildung gezeigten Tragluftbalkens vom Walzenspalt. Da unter gegebenen konstruktiven Voraussetzungen aus geometrischen Gründen für die Länge des freien Zuges nicht viel Spielraum zu kürzeren Abständen bleibt als dem 0.3-fachen des Walzendurchmessers entspricht, stellt der in Merkmal 1.7 des Streitpatents definierte Abstand eine Art Auswahl aus dem undefinierten Bereich "kurzer Abstand" (= kurze freie Züge) in D4 dar.
3.3.4. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (4. Auflage, Kapitel I.D.4.4) müssen Vorteile, auf die sich der Patentinhaber gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik beruft, hinreichend belegt sein, um bei der Ermittlung der für die Beurteilung der der Erfindung zugrundeliegenden technischen Aufgabe und damit für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Betracht zu kommen (vgl. z. B. in der unveröffentlichten T 152/93, Gründe Nr. 4).
3.3.5. Es gilt daher zu untersuchen, ob der von der Beschwerde-gegnerin geltend gemachte Vorteil hinsichtlich der Qualität des Striches, nämlich des unerwünschten Orangenschalen-Effektes, gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik glaubhaft durch die Merkmale gelöst wird, die den Streitgegenstand vom Sym-Sizer R&D in D4 unterscheiden. Im vorliegenden Fall besteht dieser Unterschied in dem in Merkmal 1.7 definierten Bereich für den Abstand des Tragluftbalkens vom Walzenspalt. Dabei kommt es, im Falle einer Auswahl eines kleinen Bereiches aus einem größeren, nicht nur darauf an, dass der Vorteil oder Effekt innerhalb des Bereiches glaubhaft auftritt, sondern auch darauf, dass hinreichende Indizien dafür vorhanden sind, dass der Effekt außerhalb des beanspruchten Bereiches nicht oder nur in vermindertem Maße auftritt. Andernfalls ist die Auswahl aus dem Bereich der vorbekannten technischen Lehre willkürlich und nicht technisch bedingt. Sie kann dann nicht als unvorhersehbare Bereicherung des Standes der Technik angesehen werden.
3.3.6. Zwar wird im Streitpatent sinngemäß die Behauptung aufgestellt, dass ohne die ganz besondere Anordnung der Tragluftbalken der Ablösepunkt nicht eindeutig definiert sei (Spalte 3, Zeilen 2 bis 7) und die in Figur 6 gezeigte erfindungsgemäße Anordnung mit sehr geringem Abstand E einen eindeutig definierten Ablösepunkt der Bahn von der Walze sichere (Spalte 5, Zeilen 48 bis 52). Andererseits hat die Beschwerdegegnerin nicht gezeigt, dass eben diese besondere Anordnung, d. h. die Anordnung des Tragluftbalkens in einer Entfernung vom Walzenspalt, die das 0.3 bis 1.0-fache des Walzendurchmessers beträgt, die behaupteten Vorteile auch gegenüber dem in D4 konkret dargestellten Sym-Sizer R&D bringt. Bei diesem ist der kurze Abstand des Tragluftbalkens vom Walzenspalt nicht eindeutig definiert und kann auch außerhalb der in Merkmal 1.7 angegebenen Grenzen liegen; die Beschwerdegegnerin hat jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass ein Pendeln des Ablösepunktes der Papierbahn von der Walze und damit der Orangenschalen-Effekt im Gegensatz zum Stand der Technik gemäß D4, gerade und ausschließlich durch Einhalten eines Abstandes in den Grenzen gemäß Merkmal 1.7 unterbunden wird.
3.3.7. Auf diesen Umstand hat die Beschwerdeführerin bereits in ihrem Schriftsatz vom 13. Juli 2001 hingewiesen (Seite 2, Zeilen 3 bis 9), in dem sie ausführt, dass nicht ersichtlich sei, weshalb ein Effekt nur innerhalb des beanspruchten Bereiches auftreten solle.
3.3.8. Die Beschwerdegegnerin, die sich für die Patentfähigkeit der Auswahl auf das Vorliegen des gewünschten Effektes gerade in dem kritischen Bereich beruft und hierfür beweispflichtig ist, suchte in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer um Gelegenheit an zur Vorlage von Experimenten zum Zwecke des Beweises eines Effektes innerhalb des beanspruchten Bereichs. Es gilt aber der Grundsatz, dass alle Tatsachen, Beweismittel und Anträge zu Beginn des Verfahrens bzw. zum frühest möglichen Zeitpunkt vorzulegen sind, um unnötige Verfahrens-verzögerungen zu vermeiden. Im vorliegenden Fall hatte die Beschwerdegegnerin annähernd zwei Jahre Zeit um, im Hinblick auf den genannten Einwand im gegnerischen Schriftsatz, entweder überhaupt zu reagieren oder, gegebenenfalls, Beweismittel für einen besonderen Effekt innerhalb des beanspruchten Bereiches vorzulegen bzw. wenigstens anzubieten. Dies hat sie nicht getan. Daher trägt sie selbst das Risiko, wenn solche Beweismittel als verspätet nicht mehr zum Verfahren zugelassen werden. Sie unterliegt dabei den gleichen Kriterien, die von der Kammer in Ausübung ihres Ermessens angewandt werden (Artikel 114 (2) EPÜ), wie die Beschwerdeführerin mit ihrem verspäteten Vortrag einer eigenen offen-kundigen Vorbenutzung (Punkt 1.1). Darüber hinaus war zu berücksichtigen, dass die neuen Beweismittel erst zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt eingereicht werden sollten. Dies hätte zu einer unabsehbaren Verfahrensverzögerung geführt, da auch der Beschwerde-führerin eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen gewesen wäre. Dem Ersuchen der Beschwerde-gegnerin war daher in diesem späten Verfahrensstadium nicht stattzugeben.
3.3.9. Nachdem der behauptete Vorteil der Verringerung des Orangenschalen-Effektes mangels Nachweis (Punkt 3.3.6 oben) zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden kann, ist die gegenüber dem Sym-Sizer R&D in D4 zu lösende Aufgabe neu zu definieren. Da spezielle Effekte objektiv nicht erkennbar sind, geht die Kammer davon aus, dass die durch den Streitgegen-stand gelöste technische Aufgabe darin besteht, den freien Zug zwischen Tragluftbalken und Walzenspalt in D4, z. B. für bestimmte Betriebsweisen der Streich-vorrichtung, zu optimieren.
3.4. Naheliegen der Lösung
3.4.1. Nach allgemeinem Fachwissen auf dem technischen Gebiet der Papierstreicherei (vgl. Punkt 1.2), unterliegt eine Papierbahn hinter der Leimpresse einem unerwünschten Flattern, wenn sie nicht unterstützt wird. Dieses Flattern ist ferner abhängig ist von weiteren Parametern, wie z. B. der Feuchtigkeit und Laufgeschwindigkeit der Papierbahn. Deshalb wurde im Stand der Technik vorgeschlagen, die Papierbahn "unmittelbar" nach der Leimpresse zu unterstützen (vgl. D6) bzw. einen "ungebührlich langen freien Zug" zwischen Tragluftbalken und Walzenspalt zu vermeiden (D1, Seite 8, Absatz 2 und Seite 12, Absatz 1).
3.4.2. Einen solchen, im Stand der Technik nicht näher definierten, Abstand als einzigen Parameter zu optimieren, gehört nach gängiger Rechtsprechung (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 4. Auflage, Kapitel I.D.6.16) aber zu den Aufgaben des Fachmannes, insbesondere dann, wenn die Richtung der Optimierung, nämlich kurze Abstände zu wählen, bereits vorgegeben ist.
3.4.3. Dies steht nicht im Widerspruch zum Einwand der Beschwerdegegnerin, wonach es technisch auch möglich sei, mit speziell geformten Tragluftbalken noch näher an den Walzenspalt heranzurücken als in Merkmal 1.7 definiert.
4. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass, ausgehend von dem aus D4 bekannten Sym-Sizer R&D, der Gegenstand nach Anspruch 1 einer fachüblichen Optimierung eines Parameters entspricht, nicht aber auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
5. Hilfsantrag
5.1. Gemäß Anspruch 1 des einzigen Hilfsantrages ist der auf den Walzenspalt folgende Tragluftbalken derart angeordnet, dass die Papierbahn die eine der beiden Walzen umschlingt. Unter "umschlingt" ist dabei eine geringfügige, als Umschlingungswinkel bezeichnete, Abweichung der Papierbahn von einem mittigen Austritt aus dem Walzenspalt zu verstehen (Figur 3, Spalte 4, Zeilen 37 bis 40 und Spalte 5, Zeilen 15 bis 20).
5.2. Die Umschlingung einer Walze durch die Papierbahn ist aber aus dem Stand der Technik bekannt (D1, Seite 16, vorletzte Zeile bis Seite 17, Zeile 6 sowie Figur 1). Die Kammer hat hierbei nicht übersehen, dass in D1 die Stützwalze umschlungen wird, während gemäß Streitpatent (Spalte 5, Zeile 52 bis Spalte 6, Zeile 1) bei einseitigem Auftrag der Streichmasse eine Umschlingung der Auftragswalze beabsichtigt ist. Gemäß Streitpatent könne durch diesen Umstand die Auftragswalze eine weichere Oberfläche haben als die Stützwalze, obwohl normalerweise die Bahn der härteren Walze folge. Die Vorrichtung nach Anspruch 1 ist aber nicht auf eine Betriebsweise zum einseitigen Auftrag beschränkt, sondern umfasst auch die Möglichkeit des gleichzeitigen Auftrags von Streichmasse auf beiden Papierseiten. Daher kann eine eventuelle Besonderheit beim einseitigen Auftrag erfinderische Tätigkeit nicht stützen, selbst wenn - was nicht der Fall ist - dafür ein vorteilhafter Effekt nachgewiesen worden wäre.
5.3. Aus diesen Gründen kann ein Vorliegen von erfinderischer Tätigkeit nicht auf das zusätzliche Merkmal in Anspruch 1. des Hilfsantrages gestützt werden.
6. Somit bietet keiner der gestellten Anträge eine Basis zur Aufrechterhaltung des Patents.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent Nr. 643 168 wird widerrufen.