T 0473/00 04-09-2001
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Fahrzeugluftreifen
Neuheit (nein)
Widerruf (ja) - kein Interesse an der Weiterverfolgung für die verbleibenden Staaten
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 0 798 142 (Anmeldenummer: 96 105 047.3).
Der erteilte Patentanspruch 1 lautet:
"Fahrzeugluftreifen (1) mit einer Karkasse (2), die vom Zenitbereich des Reifens bis in die Wulstbereiche (14 reicht, weiterhin mit einem Laufstreifen (8) und einem zwischen Laufstreifen (8) und Karkasse (2) angeordneten Gürtelpaket (4), wobei der Laufstreifen (8) aus zumindest zwei Gummimischungen aufgebaut ist und die mit der Fahrbahn in Berührung kommende Fläche (13) des Laufstreifens (8) zu über die Hälfte von einer ersten Gummimischung (Cap) (10) mit einem spezifischen elektrischen Widerstand größer 1010 Ohm x cm eingenommen wird, dadurch gekennzeichnet, daß die übrige mit der Fahrbahn in Berührung kommende Fläche (13) von einer zweiten Gummimischung (Base) (9), deren spezifischer elektrischer Widerstand kleiner 108 Ohm x cm ist, eingenommen wird, daß die erste Gummimischung (10) in radialer Richtung mindestens 40 % der gesamten Laufstreifendicke einnimmt, daß die zweite Gummimischung (9) bis an das Gürtelpaket (4) heranreicht und unterhalb der ersten Gummimischung (10) den gesamten Raum zwischen dieser und dem Gürtelpaket (4) einnimmt und weiterhin an ihren beiden axialen Begrenzungen zu den Seiten des Reifens mit zumindest einer weiteren Gummimischung in Kontakt steht, die einen spezifischen elektrischen Widerstand kleiner 108 Ohm x cm aufweist."
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte gegen das Patent Einspruch ein und beantragte, das Patent wegen fehlender Patentfähigkeit zu widerrufen.
Sie berief sich dabei u. a. auf
D4: EP-A-718 127 (Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ).
III. Mit am 3. März 2000 zur Post gegebener Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch zurück.
IV. Gegen diese Entscheidung legte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) am 12. Mai 2000 unter Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein.
Die Beschwerdebegründung wurde am 12. Juli 2000 eingereicht.
In ihrer Eingabe vom 6. August 2001 wurden u. a. die Dokumente
D13: Dubbel, Taschenbuch für den Maschinenbau, Seite V13
D14: Fachlexikon ABC Physik, 1982, Seite 241
genannt.
V. Es wurde am 4. September 2001 vor der Kammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Sie macht im wesentlichen geltend, daß die ältere europäische Anmeldung D4 dem Gegenstand des Patentanspruchs 1 neuheitsschädlich entgegenstehe. Zwar seien dort die spezifischen elektrischen Widerstände der zwei Gummimischungen nicht ausdrücklich genannt, jedoch seien die Gummimischungen als "electrically insulating" bzw. "electrically good conducting" bezeichnet; diese Angaben seien aus der Sicht des fachmännischen Lesers dahingehend zu interpretieren, daß die zwei Gummimischungen Widerstandswerte aufweisen, die in den beanspruchten Bereichen liegen.
VI. Die Patentinhaberin trat dem Vorbringen der Beschwerdeführerin in allen Punkten entgegen und vertrat die Auffassung, daß die ältere Anmeldung D4 schon deshalb nicht neuheitsschädlich sein könne, weil sie weder bezüglich der spezifischen Widerstände der zwei Gummimischungen, noch bezüglich der Laufstreifendicke, die die jeweiligen Gummimischungen einnehmen, Angaben enthalte.
Sie beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Neuheit
Die ältere europäische Anmeldung D4 (Anmeldenummer: 95. 309 276.4) kann gemäß Artikel 54 (4) EPÜ insoweit als Stand der Technik bezüglich der Frage der Neuheit entgegengehalten werden, als die Vertragsstaaten DE, FR, GB, IT zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung wirksam benannt sind.
2.1. Der Patentanspruch 1 läßt sich in Anlehnung an die Merkmalsanalyse in der Beschwerdebegründung in folgende Einzelmerkmale aufteilen:
- Oberbegriff -
a) Fahrzeugluftreifen (1) mit
b) einer Karkasse (2), die vom Zenitbereich des Reifens bis in die Wulstbereiche (14 reicht
c) einem Laufstreifen (8)
d) einem zwischen Laufstreifen (8) und Karkasse (2) angeordneten Gürtelpaket (4),
e) wobei der Laufstreifen (8) aus zumindest zwei Gummimischungen aufgebaut ist;
f1) die mit der Fahrbahn in Berührung kommende Fläche (13) des Laufstreifens wird zu über die Hälfte von einer ersten Gummimischung (Cap) (10) eingenommen,
f2) deren spezifischer elektrischer Widerstand größer ist als 1010 Ohm x cm.
- Kennzeichen -
g) die übrige mit der Fahrbahn in Berührung kommende Fläche wird von einer zweiten Gummimischung (Base) (9) eingenommen;
h) der spezifische elektrische Widerstand der zweiten Gummimischung ist kleiner 108 Ohm x cm;
i) die erste Gummimischung (10) nimmt in radialer Richtung mindestens 40 % der gesamten Laufstreifendicke ein;
j) die zweite Gummimischung (9) reicht bis an das Gürtelpaket (4) heran und nimmt unterhalb der ersten Gummimischung (10) den gesamten Raum zwischen dieser und dem Gürtelpaket (4) ein;
k) die zweite Gummimischung steht weiterhin an ihren beiden axialen Begrenzungen zu den Seiten des Reifens mit zumindest einer weiteren Gummimischung in Kontakt, die einen spezifischen elektrischen Widerstand kleiner 108 Ohm x cm aufweist.
2.2. Im Einspruchsbeschwerdeverfahren trug die Patentinhaberin vor, der Erfindung liege das technische Problem zugrunde, daß zunehmend Reifen produziert werden, deren Gummimischungen in den Aufstandsflächen des Reifens eine zu geringe elektrische Leitfähigkeit besitzen, als daß sie die während des Fahrbetriebes entstehende elektrische Aufladung hinreichend ableiten könnten. Dadurch könnten unerwünschte Stoßentladungen auftreten. Durch den im Patentanspruch 1 definierten Aufbau des Fahrzeugluftreifens solle dem Problem der elektrostatischen Aufladung entgegengewirkt werden, ohne die Fahreigenschaften des Reifens zu beeinträchtigen.
Ein gleiches oder zumindest ähnliches Problem ist bei den Reifen nach der älteren Anmeldung D4 gelöst: Sie betrifft nämlich einen Fahrzeugluftreifen mit einem Laufstreifen, der die mit der Fahrbahn in Berührung kommende Fläche bildet und aus einer ersten elektrisch isolierenden oder schwach leitenden Gummimischung hergestellt ist; des weiteren ist unter dem Laufstreifen eine zweite Gummimischung angeordnet, die elektrisch gut leitfähig ist. Die zweite elektrisch gut leitende Gummimischung dehnt sich an zumindest einer Stelle so weit radial vorspringend aus, daß ein Kontakt dieser Gummimischung zur Fahrbahnoberfläche entstehen kann, um dadurch eine ausreichende elektrische Leitung vom Fahrzeug zur Fahrbahn sicherzustellen, so daß die elektrostatische Aufladung des Fahrzeugs verhindert wird.
2.3. Wie nachstehend ausgeführt wird, sind sämtliche Merkmale des beanspruchten Gegenstands in der älteren Anmeldung D4 zumindest implizit enthalten:
2.3.1. Zunächst bestand unter den Beteiligten Einigkeit darüber, daß die ältere Anmeldung einen Fahrzeugluftreifen mit den Merkmalen a) bis e), g) und j) der vorstehenden Merkmalsanalyse offenbart.
Wie aus den Figuren 4, 6, 11 und insbesondere aus Figur 8 und der entsprechenden Passage der älteren Anmeldung D4 (Spalte 6, Zeilen 22 bis 28) zu entnehmen ist, bestehen nur geringe Teile der Reifenlauffläche aus der zweiten elektrisch gut leitenden Gummimischung. Bei der Ausführungsform der Figur 8 sind sogar diese geringen Teile als quasi punktförmige Bereiche ("quasi point-like regions") bezeichnet. Die Reifenlauffläche besteht mithin überwiegend aus der ersten elektrisch isolierenden oder schlecht leitenden Gummimischung. Das heißt eindeutig, daß das Merkmal f1) der Merkmalsanalyse, wonach mehr als die Hälfte der Reifenlauffläche aus der ersten Gummimischung besteht, bei der älteren Anmeldung D4 zweifelsohne verwirklicht ist.
Wie aus den Figuren 2, 3, 5, 7, 9, 12 bis 15 der älteren Anmeldung D4 deutlich abzuleiten ist, ist die erste elektrisch isolierende oder schwach leitende Gummimischung selbst relativ dick im Verhältnis zur zweiten Gummimischung. Es ist mithin unmittelbar und eindeutig zu erkennen, daß das Merkmal i) der vorstehenden Merkmalsanalyse, wonach die Dicke der ersten Gummimischung mindestens 40 % der gesamten Laufstreifendicke beträgt, auch bei dem Fahrzeugluftreifen gemäß der älteren Anmeldung D4 vorliegt.
2.3.2. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin sind die verbleibenden Merkmale f2), h) und k) der Merkmalsanalyse für den Fachmann unmittelbar und eindeutig aus der älteren Anmeldung D4 herleitbar. Als Fachmann ist hier ein in der Entwicklung und in der Konstruktion von Fahrzeugluftreifen der in Rede stehenden Art tätiger Techniker oder Ingenieur anzusehen, der über Kenntnisse bezüglich der elektrischen Leitfähigkeit von Materialien, insbesondere von Gummimischungen für Fahrzeugluftreifen, verfügt. Durch seine langjährige Berufserfahrung kennt er das Problem der elektrostatischen Aufladung, die während des Fahrbetriebes entsteht.
Wie schon vorstehend angegeben, ist die zweite Gummimischung (Base) gemäß der älteren Anmeldung, die unterhalb der ersten Gummimischung (Cap) den gesamten Raum zwischen dieser und dem Gürtelpaket einnimmt, als elektrisch gut leitfähig ("good electrical conductor") bezeichnet. Sie ist ebenfalls in der Beschreibung der Streitpatentschrift als "leitfähig" bzw. als "elektrisch gut leitende Base" definiert (siehe Seite 2, letzte Zeile der Streitpatentschrift). Im Patentanspruch 1 der Streitpatentschrift ist diese Eigenschaft genauer definiert: laut Merkmal h) der vorstehend genannten Merkmalsanalyse soll der spezifische elektrische Widerstand kleiner 108 Ohm x cm betragen.
Wie aus dem von der Beschwerdeführerin zitierten "Dubbel Taschenbuch" (D13) hervorgeht, weisen elektrisch leitende Materialien einen spezifischen Widerstand auf, der kleiner ist als 108 Ohm x cm. Der beanspruchte breite nach unten offene Bereich spezifischer elektrischer Widerstände gemäß Merkmal h), der mathematisch von > 0 bis < 108 Ohm x cm reicht, umfaßt somit die Werte der "elektrisch gut leitenden" Gummimischung, die deutlich kleiner sind als 108 Ohm.
Es ist somit festzustellen, daß die Leitfähigkeit der zweiten Gummimischung nach der älteren Anmeldung D4 zwangsläufig in dem nach unten offenen Bereich der Leitfähigkeit der zweiten Gummimischung nach dem Streitpatent liegen muß. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann eine vorbeschriebene technische Lehre durch eine allein nach dem Wortlaut unterschiedliche Definition nicht neu gemacht werden.
Gemäß den Ausführungen der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) können leitfähige Materialien in Fachbüchern anders definiert werden als in dem "Dubbel Taschenbuch". Insbesondere könnte die obere Grenze des in Rede stehenden Bereiches unterschiedliche Werte aufweisen, die anders sind als 108 Ohm x cm.
Es mag zutreffen, daß die obere Grenze des Bereichs je nach dem verwendeten Fachbuch verschiedene Werte haben kann. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die Werte der "elektrisch gut leitenden" Gummimischung nach der älteren Anmeldung D4, die deutlich kleiner sein müssen als 108 Ohm x cm, zwangsläufig innerhalb eines solchen Bereichs liegen würden.
Es folgt daraus, daß das Merkmal h) der Merkmalsanalyse der älteren Anmeldung D4 zwar nicht wortwörtlich, jedoch implizit zu entnehmen ist.
2.3.3. Dies gilt auch für das Merkmal k) der Merkmalsanalyse: Bei dem Fahrzeugluftreifen gemäß der älteren Anmeldung D4 steht die zweite Gummimischung (Base) an ihren beiden axialen Begrenzungen im Schulterbereich des Reifens in Kontakt mit elektrisch leitenden Seitenteilen des Reifens. Mit den in Figur 1 gezeigten Pfeilen (17) ist nämlich der Abfluß einer elektrischen Ladung von dem Felgenabschnitt über die Seitenteile des Reifens zu der Reifenlauffläche schematisch dargestellt. Hieraus geht hervor, daß die Seitenteile aus einer elektrisch leitenden Gummimischung hergestellt sind, wie dies allgemein üblich ist.
Es ist somit für den Fachmann offensichtlich, daß diese elektrisch leitenden Seitenteile Widerstandswerte aufweisen müssen, die viel niedriger sind als 108 Ohm x cm; sie müssen deshalb in den breiten beanspruchten Bereich von > 0 bis < 108 Ohm x cm hineinreichen.
2.3.4. Bezugnehmend auf das verbleibende Merkmal f2) (der spezifische elektrische Widerstand der ersten Gummimischung ist größer als 1010 Ohm x cm) ist folgendes auszuführen: Bei dem in der Streitpatentschrift beschriebenen Ausführungsbeispiel handelt es sich um eine Kautschukmischung mit einem hohen Anteil an Kieselsäure (oder Silika) (siehe Tabelle auf Seite 4), deren spezifischer elektrischer Widerstand > 1010 Ohm x cm beträgt. Des weiteren sagt der abhängige Patentanspruch 4, daß die erste Gummimischung aus einer Silika enthaltenden Gummimischung besteht.
Mit anderen Worten entnimmt der fachmännische Leser unter Berücksichtigung der Tabelle und des abhängigen Patentanspruchs 4, daß innerhalb des beanspruchten einseitig offenen Bereichs gemäß Merkmal f2), der im Prinzip jeden beliebigen Wert über 1010 Ohm x cm umfaßt, die spezifischen elektrischen Widerstände von Gummimischungen mit einem hohen Anteil an Silika bevorzugt sind.
Die erste Gummimischung gemäß der älteren Anmeldung D4 ist ebenfalls eine sogenannte "Silika-Mischung". Hierbei handelt es sich um eine Kautschukmischung mit einem hohen Anteil an Kieselsäure (siehe Spalte 1, Zeilen 13 bis 17 und Spalte 8, Zeilen 18 bis 24). Diese erste Gummimischung mit einem hohen Anteil an Silika ist in dem Patentanspruch 1 der älteren Anmeldung D4 als elektrisch isolierendes oder schlecht leitendes Material breiter definiert. Wie von der Beschwerdeführerin aus "Fachlexikon ABC Physik" (D14) zitiert wurde, beträgt der spezifische elektrische Widerstand von elektrisch isolierenden Materialien 1016 Ohm x cm oder darüber.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß die aus der älteren Anmeldung D4 bekannten Gummimischungen mit einem hohen Anteil an Silika, die auch in der Streitpatentschrift als bevorzugt gelten, bezüglich des spezifischen Widerstandes in den beanspruchten, nach oben offenen Bereich gemäß Merkmal f2) hineinreichen müssen und somit dessen Neuheit zerstören.
2.3.5. Aus alledem folgt, daß bei der älteren Anmeldung D4 sämtliche Merkmale a) bis k) der vorstehenden Merkmalsanalyse explizit bzw. für den Fachmann implizit verwirklicht sind, weshalb der Fahrzeugluftreifen nach Patentanspruch 1 gegenüber diesem Stand der Technik gemäß Artikel 54 (3) EPÜ nicht neu ist.
3. Die ältere Anmeldung D4 gilt im Sinne des Artikels 54 (3) EPÜ nur insoweit als Stand der Technik, als die Staaten DE, FR, GB, IT zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung wirksam benannt sind (Artikel 54 (4) EPÜ). Für die verbleibenden Staaten AT und SE, die in der älteren Anmeldung nicht benannt sind, kann diese ältere Anmeldung nicht entgegengehalten werden.
Die Patentinhaberin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß sie an der Weiterverfolgung des europäischen Patents für die beiden Vertragsstaaten AT und SE kein Interesse habe. Diese Erklärung wird von der Kammer als ein Antrag auf Widerruf des Streitpatents bezüglich dieser Staaten seitens der Patentinhaberin interpretiert.
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist ein Patent ohne Sachprüfung zu widerrufen, wenn die Patentinhaberin im Einspruchsbeschwerdeverfahren den Widerruf ihres Patents beantragt (siehe insbesondere Entscheidung T 459/88, ABl. EPA 1990, 425).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent 0 798 142 wird widerrufen.