T 1177/04 14-03-2006
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Folie zur Abdeckung von Knochendefektstellen und Verfahren zur Herstellung der Folie
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat am 22. September 2004, unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr, gegen die am 27. Juli 2004 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung den Einspruch gegen das europäische Patents Nr. 0 809 979 zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung ist am 26. November 2004 eingegangen.
Mit dem Einspruch war das gesamte Patent auf der Grundlage des Artikels 100 a) EPÜ (Mangel an erfinderischer Tätigkeit) und des Artikels 100 b) EPÜ (mangelnde Ausführbarkeit) angegriffen worden.
II. Von den im Beschwerdeverfahren herangezogenen Entgegenhaltungen waren noch folgende Druckschriften für die vorliegende Entscheidung relevant:
D3 = FR - A - 2 713 090
D6 = Renato Celletti, MD, DDS et al., "Guided tissue regeneration ..." The International Journal of Periodontics & Restorative Dentistry, Volume 14, Number 3, 1994, page 243 to 252
D8 = Ulrich Zwicker, Titan und Titanlegierungen, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 1974, Seiten 444 bis 451, 468 bis 483.
III. Am 14. März 2006 wurde mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise das Verfahren an die erste Instanz zurückzuverweisen und äußerst hilfsweise das Patent auf der Grundlage des während der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
IV. Anspruch 1 gemäß Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Folie zur Abdeckung von Knochendefektstellen, z. B. von Defektfrakturen, Alveolen od. dgl. und zur geführten Knochenregeneration, wobei die Folie (5, 9, 14) aus unelastisch spannungsfreiem und bleibend verformbarem Titan besteht, dadurch gekennzeichnet, daß die Folie eine Dicke von weniger als 0,1 mm, insbesondere weniger als 0, 025 mm aufweist und mindestens eine der Oberflächen (24) aufgerauht bzw. geriffelt ausgebildet ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrags hat folgenden Wortlaut:
"Folie zur Abdeckung von Knochendefektstellen, z. B. von Defektfrakturen, Alveolen od. dgl. und zur geführten Knochenregeneration, wobei die Folie (5, 9, 14) aus bleibend verformbarem Titan besteht, dadurch gekennzeichnet, daß die Folie (5, 9, 14) dadurch hergestellt ist, daß nach dem Walzen eine chemische Behandlung, vorzugsweise mit Flußsäure, zum Abtragen der insbesondere beim Walzen vorgespannten Oberflächen und zur Reduzierung der Foliendicke, gegebenenfalls unter Beaufschlagung der Folie mit Ultraschall und Ausbildung einer stehenden Welle, erfolgt, sodaß die Folie unelastisch spannungsfrei ist und dass die Folie eine Dicke von weniger als 0,1 mm, insbesondere weniger als 0,025 mm aufweist und mindestens eine der Oberflächen (24) aufgerauht bzw. geriffelt ausgebildet ist."
V. Zur Stützung ihres Antrags hat die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach beiden Anträgen beruhe auf keiner erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf dem durch D6 im Verbindung mit D3 oder D8 nachgewiesenen Stand der Technik.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat die Behauptungen der Beschwerdeführerin bestritten und im wesentlichen folgendes vorgetragen:
Die Entgegenhaltung D6 sei nicht ins Verfahren einzuführen, da sie verspätet vorgebracht wurde. Die Beschwerdeführerin habe dieses Dokument absichtlich zurückgehalten und damit das Verfahren unnötig verschleppt. Die Beschwerdeführerin solle - entsprechend T 156/84, Leitsatz 4 - darlegen, weshalb sie diese Entgegenhaltungen nicht schon früher erwähnt habe.
Falls die neue Entgegenhaltung zugelassen würde, solle die Sache - entsprechend T 256/84 - an die erste Instanz zurückverwiesen werden, um der Patentinhaberin keine Rechtinstanz vorzuenthalten.
Anspruch 1 laut Hauptantrag sei nicht durch eine Kombination der Lehre von D6 mit D3 oder D8 nahegelegt. D6 lehre, eine steife Titanfolie anzuwenden (siehe Seite 251, mittlere Spalte), während die Erfindung auf eine unelastische, spannungsfrei und bleibend verformbare Folie gerichtet sei. Ebensowenig sei in D3 oder in D8 von einer solchen Folie die Rede.
Auch das zusätzliche Merkmal des Anspruchs 1 des Hilfsantrags sei weder bekannt noch nahegelegt. Die chemische Abtragung der beim Walzen vorgespannten Oberschichten der Folien sei ausreichend, um den Gegenstand der Erfindung deutlich vom Stand der Technik abzugrenzen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit von D6
D6 ist mit der Beschwerdebegründung als direkte Reaktion auf die Entscheidung vorgelegt worden und ist insofern relevant, als sie die Dicke der beanspruchten Folie angibt. In der Entscheidung wurde nämlich darauf hingewiesen, dass der damals vorliegende Stand der Technik den entscheidenden Hinweis auf die Dicke der Folie nicht enthielt (siehe Punkt 3 der Entscheidung).
Die Beschwerdegegnerin behauptet, dass D6 absichtlich verspätet vorgelegt worden sei. Dieser Meinung vermag die Kammer aus folgenden Gründen sich nicht anschließen. Es ist als normales Verhalten einer unterlegenen Partei zu werten und stellt keinen Verfahrensmissbrauch dar, zusammen mit der Beschwerdebegründung neue Dokumente einzureichen, die die bereits in der ersten Instanz gegen das Patent vorgebrachten Argumente untermauern (siehe T 113/96).
Die Kammer sieht daher keinen Grund, die Entgegenhaltung D6 nicht in das Beschwerdeverfahren einzuführen.
3. Zurückverweisung an die erste Instanz
Da das Recht auf zwei Instanzen kein absolutes Recht darstellt, hat die Kammer entschieden, insbesondere in Anbetracht der langen Verfahrensdauer, nach Artikel 111 EPÜ im Rahmen der ersten Instanz tätig zu werden und die Frage der erfinderischen Tätigkeit selbst zu entscheiden.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Hauptantrag
4.1.1 Das in Anspruch 1 enthaltene Merkmal, wonach die Folie aus unelastisch spannungsfreiem Titan besteht, ist nicht ausreichend klar, da selbst die Beschwerdegegnerin zugestanden hat, dass eine vollständig unelastische und spannungsfreie Titanfolie nicht zu erreichen ist. Daher hat die Beschwerdekammer die Bedeutung dieses Merkmals entsprechend der Beschreibung der Patentschrift (siehe Spalte 2, Zeilen 51 bis 54) so interpretiert, dass damit eine Titanfolie definiert wird, die leicht und irreversibel in die gewünschte Form gebracht werden kann.
4.1.2 Unter Berücksichtigung der vorangehenden Ausführungen ist aus D6 eine Folie bekannt, die zur Abdeckung von Knochendefektstellen und zur geführten Knochenregeneration angewendet wird, wobei die Folie aus unelastisch spannungsfreiem und bleibend verformbarem Titan besteht und eine Dicke von weniger als 0,1 mm aufweist (siehe Seite 245, linke Spalte, erster Satz).
Die Kammer ist zur Überzeugung gelangt, dass die nach D6 bekannte Titanfolie spannungsfrei ist, da Figur 2 zeigt wie die Titanfolie über die Defektstelle eines Zahns positioniert werden kann. Es gibt kein Grund auf der Basis dieser Figur zu zweifeln, dass die Positionierung nicht leicht und irreversibel erfolgt, wie es nach dem angefochtenen Patent vorgesehen ist.
4.1.3 Die Kammer geht ferner davon aus, dass die in D6 beschrieben Folie auch aus folgenden Gründen unelastisch und bleibend verformbar im Sinne der Erfindung ist.
Im Abschnitt [0004] der Beschreibung der Patentschrift ist unter anderem ausgeführt, dass die Erfindung darauf abzielt, eine Folie zur Abdeckung von Knochendefektstellen zu verbessern, insbesondere praxisgerecht auszubilden. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass die Folie eine Dicke von weniger als 0,1 mm aufweist, da die Titanfolie für die genannten Zwecke dann noch fest genug ist und keine Federwirkung hat, die ein Positionierung am Knochen erschwert.
Daraus folgt, dass das angestrebte Niveau von Unelastizität und Verformbarkeit lediglich durch die beanspruchte Obergrenze der Foliendicke erreicht wird. Da diese auch aus D6 bekannt ist, ist auch die Folie nach D6 zwangsläufig unelastisch und bleibend verformbar im Sinne der Erfindung.
4.1.4 Aus D6 ist jedoch das Merkmal nicht bekannt, wonach mindestens eine der Oberflächen der Titanfolie aufgerauht bzw. geriffelt ausgebildet ist.
Folglich kann die dem Gegenstand des Hauptantrags unterliegende Aufgabe darin gesehen werden, das Einwachsen der Folie - etwa im Zahnfleischbereich - zu begünstigen (siehe Spalte 2, Zeilen 11 bis 13).
Das Vorsehen einer aufgerauhten bzw. geriffelten Oberfläche ist aber eine übliche Maßnahme auf dem Gebiet der Abdeckfolien aus Titan, wie es z. B. aus D3, Seite 4, Zeilen 31 bis 33 zu entnehmen ist. Auch hier wird erwähnt, dass damit dem Gewebe ein guter Halt verliehen wird (siehe Spalte 2, Zeile 11).
4.1.5 Daher beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag auf keiner erfinderischen Tätigkeit.
4.2 Hilfsantrag
4.2.1 Aus D6 ist eine Folie bekannt, die zur Abdeckung von Knochendefektstellen und zur geführten Knochenregeneration angewendet ist, wobei die Folie aus bleibend verformbarem Titan besteht und eine Dicke von weniger als 0,1 mm aufweist (siehe Seite 245, linke Spalte, erster Satz).
4.2.2 D6 offenbart jedoch nicht, dass die Folie dadurch hergestellt ist, dass nach dem Walzen eine chemische Behandlung, vorzugsweise mit Flusssäure, zum Abtragen der insbesondere beim Walzen vorgespannten Oberflächen und zur Reduzierung der Foliendicke, gegebenenfalls unter Beaufschlagung der Folie mit Ultraschall und Ausbildung einer stehenden Welle, erfolgt, so dass die Folie unelastisch spannungsfrei ist und dass mindestens eine der Oberflächen (24) aufgerauht bzw. geriffelt ausgebildet ist.
4.2.3 Aus keiner der vorliegenden Druckschriften ist ein Hinweis darauf zu entnehmen, die Titanfolie zum Abtragen der beim Walzen vorgespannten Oberflächen chemisch zu behandeln. Dieses Verfahrensmerkmal ist nach der Auffassung der Kammer durchaus dazu geeignet, die erfindungsgemäße Titanfolie zu definieren, da es strukturelle Eigenschaften der Folie (wie z. B. das Fehlen der durch Walzen bedingten verdichteten Oberflächenschichten, oder eine bestimmte Oberflächenrauhigkeit) impliziert.
Aus D8 ist es zwar an sich bekannt, dass die Oberfläche von Titanprodukten durch eine chemische Behandlung abgetragen werden kann (siehe Seiten 450, 451, 15.1.4 Ätzen, Glanzbeizen, elektrolytisches Polieren). Außerdem geht aus dieser Druckschrift hervor, dass Titanfolien durch Walzen hergestellt werden. D8 gibt aber keinerlei Anregung dazu, eine Titanfolie nach dem Walzen derart chemisch abzutragen, dass die Folie so unelastisch spannungsfrei ist, dass sie leicht und irreversibel in eine gewünschte Form gebracht werden kann. Vielmehr kann D8 bestenfalls nahelegen, eine chemische Behandlung vorzusehen, um die Oberflächengüte zu verbessern (siehe Seite 450, Abschnitt 15.1.4, erster Satz).
4.2.4 Daher ist zu folgern, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 nach dem Hilfsantrag auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
- Patentansprüche: 1 bis 3 gemäß dem am 14. März 2006 eingereichten Hilfsantrag,
- Beschreibung: Seiten 1 bis 7 gemäß dem am 14. März 2006 eingereichten Hilfsantrag,
- Figuren: 1 bis 3 wie erteilt.