T 0156/84 (Druckwechseladsorption) 09-04-1987
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1. Der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen (Art. 114(1) EPÜ) hat Vorrang vor der dem EPA eingeräumten Befugnis, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen. Dies ergibt sich aus der Verpflichtung des EPA gegenüber der Öffentlichkeit, keine Patente zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt ist, dass sie rechtlich keinen Bestand haben.
2. Das EPA muss die Relevanz von Entgegenhaltungen prüfen, die nachträglich in das Verfahren eingeführt werden, und den Beteiligten zumindest in seiner Entscheidung die Ergebnisse dieser Prüfung mitteilen. Eine endgültige Entscheidung über den Einspruch kann erst getroffen werden, wenn diese Prüfung durchgeführt worden ist.
3. Im Gegensatz zu rechtzeitig vorgebrachten Entgegenhaltungen können verspätet eingereichte Unterlagen vom EPA ohne ausführliche Begründung als unerheblich bezeichnet werden.
4. Nachgereichte Unterlagen gelten nicht schon deshalb als verspätet eingereicht, weil sie nicht während der Einspruchsfrist eingereicht worden sind; hätten die nachgereichten Unterlagen bei sorgfältiger Vorbereitung des Einspruchsverfahrens eher ermittelt werden können, so muss der Einsprechende darlegen, weshalb er sie nicht schon früher erwähnt hat.
Verpflichtung der Einspruchsabteilung zur Prüfung der Relevanz von Entgegenhaltungen, die nach Ablauf der Einspruchsfrist in das Verfahren eingeführt werden
Nichtberücksichtigung verspätet eingereichter Unterlagen
Verfahrensmangel/wesentlicher (verneint)
I. Das europäische Patent Nr. 8 882 wurde am 30. Dezember 1981 mit 17 Ansprüchen auf die am 7. August 1979 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 79 301 597.5 erteilt. Anspruch 1, der einzige unabhängige Anspruch, lautete wie folgt:
"1. Verfahren zur Trennung eines Mehrkomponentenspeisegasgemischs ..."
II. (...) Am 30. September 1982 wurde gegen das Patent von der Linde Aktiengesellschaft (Einsprechende 2) mit der Begründung Einspruch erhoben, daß es dem beanspruchten Verfahren im Hinblick auf die Druckschriften
DE-B-1 544 009 (1),
DE-A-2 258 299 (2) und
DE-A.2 604 305 (3)
an erfinderischer Tätigkeit mangle.
Auf die Bemerkungen des Patentinhabers hin verwies die Einsprechende 2 am 23. august 1983 auf eine weitere Entgegenhaltung, die Druckschrift DE-C-588 885 (4), und in einem späteren Schreiben, das am 2. Februar 1984 einging, auf die weitere Druckschrift DE-A-2 745 088 (5). In einem Bescheid nach Artikel 101 (2) und Regel 58 (1) bis (3) EPÜ vom 23. November 1983 erklärte die Einspruchsabteilung, daß sie den Hinweis auf die Entgegenhaltung DE-C-588 885 (4) gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nicht berücksichtigt habe.
III. Die Einspruchsabteilung wies den Einspruch mit Entscheidung vom 3. Mai 1984 zurück und erhielt das Patent in unveränderter Form aufrecht. In ihrer Entscheidung führte die Einspruchsabteilung aus, daß sie an ihrer Entscheidung festhalte, die Entgegenhaltung 4 nicht zu berücksichtigen, und daß sie die Entgegenhaltung 5 aus ähnlichen Gründen nicht berücksichtigen wolle. Entgegenhaltung 4 sei 1933 und die Entgegenhaltung 5 am 20. April 1978 veröffentlicht worden. Beide Druckschriften dürften deshalb ungehindert zugänglich sein. Da die Einspruchsfrist von 9 Monaten nach Auffassung der Einspruchsabteilung dem Einsprechenden genügend Zeit lasse, um sein Vorbringen auszuarbeiten, habe sie beschlossen, daß es dem Verfahren nicht dienlich sei, diese nachgereichten Unterlagen und Argumente zuzulassen; sie habe sie deshalb bei ihrer Entscheidung unberücksichtigt gelassen.
IV. Am 3. Juli 1984 legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein und entrichtete die Beschwerdegebühr ordnungsgemäß. Die Beschwerdebegründung, in der auf ein weiteres Dokument (DE-B.1 259 844 (6) verweisen wurde, wurde am 25. August 1984 nachgereicht.
V. In ihrer Begründung behauptete die Beschwerdeführerin (Einsprechende 2) unter Hinweis auf Teil E, Kapitel VI der Prüfungsrichtlinien, daß bei der Entscheidung über die Zulässigkeit verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel deren Relevanz für die Entscheidung als einer von mehreren Faktoren berücksichtigt werden müsse; aus dem Wortlaut in den Prüfungsrichtlinien gehe eindeutig hervor, daß die Einspruchsabteilung verpflichtet sei, vor einer Entscheidung über den Einspruch die Beteiligten zu informieren, falls sie beabsichtige, verspätet eingereichte Tatsachen und Beweismittel aufgrund der ihr nach Artikel 114 (2) EPÜ eingräumten Befugnis nicht zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall habe die Einspruchsabteilung den Beteiligten nicht mitgeteilt, daß sie die Entgegenhaltung 5 nicht berücksichtigen werde; dies sei erst der Entscheidung zu entnehmen gewesen. Daher stelle sich die Frage, ob dieses Versäumnis der Einspruchsabteilung einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige. Außerdem dürfte die unter Nummer 6 der Entscheidung gegebene Begründung für die Nichtberücksichtigung der Entgegenhaltungen 4 und 5 nicht gültig sein, da sie sich nicht auf die sachliche Relevanz der beiden Entgegenhaltungen beziehe, obwohl die Einsprechende 2 (Beschwerdeführerin) nachdrücklich auf die erhebliche Relevanz der Entgegenhaltung 5 für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit hingewiesen habe. Die von der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Argumente im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit ergeben sich aus der Offenbarung in der verspätet vorgebrachten Entgegenhaltung 5 und stützen sich zusätzlich auf die Offenbarungen der Entgegenhaltungen 1 und 2 sowie auf die Entgegenhaltung 6, die unter Nummer IV genannt sind.
VI. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung wies die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) auf den Wortlaut der Absätze 1 und 2 des Artikels 114 EPÜ hin, die ihres Erachtens nur dann miteinander vereinbar seien, wenn Absatz 1 so auszulegen sei, daß das EPA nur die rechtzeitig vorgebrachten Tatsachen von Amts wegen zu berücksichtigen habe, und das Wort "braucht" in Absatz 2 als "sollte ... nur in Ausnahmefällen berücksichtigen" auszulegen sei; sie gab zu bedenken, daß sich für den Patentinhaber gegebenenfalls äußerst nachteilige Verfahrensverzögerungen ergeben könnten, wenn Artikel 114 (1) anders ausgelegt würde.
Die Einspruchsabteilung habe richtig gehandelt, da ihr Artikel 114 (2) das absolute Rechte einräume, die neuen Entgegenhaltungen unberücksichtigt zu lassen, und die Einsprechende nicht habe erwarten können, daß diese in das Verfahren eingeführt würden, da sie nach Ablauf der Frist eingereicht worden seien, obwohl sie auch schon zuvor öffentlich zugänglich gewesen seien, und da sie außerdem irrelevant seien. Auch habe sie bei Einführung der Entgegenhaltung 5 ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgezogen und dem EPA damit eindeutig zu verstehen gegeben, daß ihr Vorbringen abschlossen sei.
VII. (...)
VIII. Da die Beschwerdeführerin darauf bestand, zumindest Entgegenhaltung 5 im Verfahren zu berücksichtigen, wies der Vorsitzende der Kammer die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung an, sich zunächst dazu zu äußern, ob die Einspruchsabteilung nicht richtig gehandelt habe, als sie die Entgegenhaltungen 4 und 5 nicht im Verfahren zuließ, und wie diese Unterlagen nunmehr zu behandeln seien. Nach Anhörung des Vorbringens stellte die Kammer fest, daß die Einspruchsabteilung falsch gehandelt hat, als sie die Unterlagen unberücksichtigt ließ, ohne sie zuerst auf ihre Relevanz für die Streitfragen geprüft zu haben. Die Sache würde daher an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen, es sei denn die Kammer teile deren Auffassung, daß die von der Einsprechenden während der Einspruchsfrist vorgebrachten Entgegenhaltungen allein der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstünden. Die Beteiligten brachten dann ihre Argumente hierzu vor.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent entweder zu widerrufen (Hauptantrag) oder die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Hilfsantrag).
X. Die Beschwerdegegnerin beantragte entweder die Zurückweisung der Beschwerde und Aufrechterhaltung des Patents (Hauptantrag) oder die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung (Hilfsantrag).
1. Die Beschwerde entspricht den Artikel 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Neuheit und erfinderische Tätigkeit.
2.1. Nach sorgfältiger Prüfung der Entgegenhaltung 6, die in der Beschwerdebegründung zuerst genannt wird, hält die Kammer diese nicht für so relevant, daß sie sie zu einer anderen Entscheidung veranlassen würde; sie hat deshalb von der ihr nach Artikel 14 (2) EPÜ übertragenen Befugnis Gebrauch gemacht und beschlossen, sie unberücksichtigt zu lassen, da sie nicht rechtzeitig eingereicht worden ist.
2.2. Als nächstes muß die Kammer prüfen, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 neu ist und im Hinblick auf die Offenbarung in den Entgegenhaltungen 1 bis 3 erfinderische Tätigkeit aufweist.
(...)
2.5. In Anbetracht dessen hält die Kammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in unveränderter Form aufrecht zu erhalten, in Anbetracht der von ihr berücksichtigten Unterlagen für gerechtfertigt.
3. Zulässigkeit von Entgegenhaltungen, die nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereicht werden.
3.1. Die Einspruchsabteilung hat die Entgegenhaltungen 4 und 5 aufgrund der ihr nach Artikel 114 (2) EPÜ eingeräumten Befugnis bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt. Zur Stützung ihres Arguments, daß die nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereichten Entgegenhaltungen 4 und 5 nicht rechtzeitig vorgebracht worden seien, führte die Einspruchsabteilung aus, daß die neunmonatige Einspruchsfrist lang genug sei und die beiden Entgegenhaltungen seit langem, nämlich seit 1933 bzw. 1978, zugänglich gewesen seien. Die Kammer hält die Berücksichtigung der nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgebrachten Entgegenhaltungen für unzulässig und nicht mit Artikel 114 EPÜ vereinbar.
3.2. Die Absätze 1 und 2 des Artikels 114 EPÜ enthalten zwei verschiedene Bestimmungen: Nach Artikel 114 (1) EPÜ hat das EPA den Sachverhalt von Amts wegen zur ermitteln, ohne dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt zu sein; Artikel 114 (2) EPÜ hingegen ermächtigt das EPA, Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht rechtzeitig vorgebracht werden, unberücksichtigt zu lassen.
3.3. In gewisser Hinsicht stehen die beiden Absätze im Widerspruch zueinander. Wenn das EPA den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln muß, so muß es dabei alle für seine Entscheidung relevanten Umstände berücksichtigen. Artikel 114 (1) EPÜ sieht hierfür keine Frist vor, so daß dies für die gesamte Dauer des Verfahrens gilt. Artikel 114 (2) EPÜ hingegen ermöglicht es, daß Tatsachen, die von den Beteiligten nicht rechtzeitig vorgebracht werden, außer Betracht bleiben können. Dieser offensichtliche Widerspruch muß durch sorgfältige Auslegung der beiden Bestimmungen ausgeräumt werden.
3.4. Die Kammer ist der Auffassung, daß der in Artikel 114 (1) EPÜ verankerte Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen Vorrang vor der in Artikel 114 (2) EPÜ vorgesehenen Möglichkeit hat, nicht rechtzeitig vorgebrachte Tatsachen oder Beweismittel nicht zu berücksichtigen. Dies ergibt sich ganz klar aus dem Wortlaut beider Bestimmungen. In Artikel 114 (1) EPÜ drücken die Worte "ermittelt" in der deutschen, "shall examine" in der englischen und "procède" in der französischen Fassung eine Verpflichtung aus, während Artikel 114 (2) EPÜ ein Ermessen beeinhaltet - die deutsche Fassung gebraucht hier die Worte "braucht nicht zu berücksichtigen", die englische "may disregard" und die französische "peut ne pas tenir compte". Somit macht schon der Wortlaut deutlich, daß die Bestimmung in Absatz 1 Vorrang vor der in Absatz 2 hat.
3.5. Auch im mehrseitigen Verfahren vor dem EPA, wie es beim Einspruchsverfahren der Fall ist, muß nicht nur den Interessen der Beteiligten Rechnung getragen werden; das EPA hat auch gegenüber der Öffentlichkeit eine Pflicht, nämlich nur solche Patente zu erteilen oder aufrecht zu erhalten, von deren Rechtsgültigkeit es überzeugt ist. Dies ist der wahre Grund für die Einführung des Grundsatzes der Ermittlung von Amts wegen in Artikel 114 (1) EPÜ und der Bestimmung in Artikel 115 EPÜ, wonach jeder Dritte Einwendungen gegen die Patentierbarkeit der angemeldeten Erfindung erheben kann. Die Öffentlichkeit muß sich nach Möglichkeit auf die Rechtsgültigkeit eines vom EPA erteilten Patents verlassen können. Zieht man die logische Schlußfolgerung aus diesem Grundsatz, so darf das EPA keine der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen, die für eine Würdigung der Rechtsgültigkeit des Patents relevant sind, unberücksichtigt lassen; dies bedeutet wiederum, daß das EPA in seiner Entscheidung alle Umstände berücksichtigen muß, wie und wann es davon auch immer Kenntnis erhalten hat.
3.6. Der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen erlaubt es daher nicht, daß wesentliche Tatsachen, Beweismittel und Argumente nur deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie von den Beteiligten nicht fristgerecht vorgebracht worden sind. Daß Sachverhalte, die gegen die Aufrechterhaltung eines Patents sprechen und von der Einspruchsabteilung oder der Kammer selbst ermittelt worden sind, bis zur Beschlußfassung jederzeit berücksichtigt werden müssen, ergibt sich eindeutig daraus, daß in Artikel 114 (1) EPÜ zwischen "Sachverhalt" einerseits und "Tatsachen ... die von den Beteiligten ... vorgebracht werden" andererseits unterschieden wird und daß Artikel 114 (2) EPÜ nur auf diese letzteren Tatsachen anzuwenden ist.
3.7. Eine weitere Kategorie von Sachverhalten, auf die Artikel 114 (2) EPÜ offensichtlich nicht anzuwenden ist, sind diejenigen, die mit den Einwendungen Dritter gegen die Patentierbarkeit der Erfindung gemäß Artikel 115 (1) EPÜ vorgebracht werden, da der Satz "Der Dritte ist am Verfahren vor dem Europäischen Patentamt nicht beteiligt." klar zu verstehen gibt, daß dieser Dritte nicht zu den in Artikel 114 (2) genannten Beteiligten gehört. Außerdem findet sich weder in Artikel 115 noch sonst wo im Übereinkommen eine Bestimmung, die für diese Einwendungen eine Frist setzt oder das EPA ermächtigt, Tatsachen, die ihm in dieser Weise zur Kenntnis gebracht werden, zu irgendeinem Zeitpunkt außer Betracht zu lassen. Dies verstärkt den Eindruck, daß Artikel 114 (2) EPÜ auf solche Tatsachen nicht angewandt werden kann, da der Ausdruck "verspätet" im Zusammenhang mit Tatsachen, die nicht innerhalb einer bestimmten Frist vorgebracht werden müssen, keine Bedeutung hat. Daß Artikel 115 EPÜ nicht nur für die Zeit vor der Erteilung, sondern auch für die Zeit danach gilt, ergibt sich aus dem Hinweis in Absatz 2, daß die Einwendungen dem Anmelder oder Patentinhaber mitgeteilt werden. Nach Auffassung der Kammer wäre es kaum zu rechtfertigen, daß Tatsachen, die von einem Dritten vorgebracht werden, der noch nicht einmal Verfahrensbeteiligter ist, vom EPA unabhängig vom Zeitpunkt ihres Vorbringens berücksichtigt werden müssen, die vom Einsprechenden nach Ablauf einer bestimmten Frist vorgebrachten jedoch nicht. Es wäre lächerlich, wenn der Einsprechende verspätet ermittelte Unterlagen gemäß Artikel 115 EPÜ über einen Dritten einreichen müßte, um sicherzustellen, daß sie nicht aufgrund von Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt bleiben.
Objektiv gesehen liegt es außerdem im Interesse aller einschließlich des Patentinhabers, daß das Patent im Einspruchsverfahren vor dem Hintergrund des gesamten bekannten Stands der Technik geprüft wird, da dies die rechtliche Position des Patentsinhabers in einem etwaigen Verletzungsverfahren stärken würde, indem der Verletzer sich möglicherweise darauf beruft, daß das Patent rechtsungültig ist.
3.8. Auch wenn deshalb des EPA nach Artikel 114 (1) EPÜ alle für seine Entscheidung relevanten Umstände die ihm auf welche Weise auch immer zur Kenntnis gebracht werden, ohne zeitliche Begrenzung berücksichtigen muß, so folgt daraus nicht, daß Artikel 114 (2) EPÜ bedeutungslos ist. Diese Bestimmung gibt der Einspruchsabteilung oder der Beschwerdekammer die Möglichkeit, vom Einsprechenden nach Fristablauf vorgebrachte Entgegenhaltungen in ihrer Entscheidung als unerheblich, das heißt als für die Entscheidung unbedeutsam, zu bezeichnen, ohnedies wie bei rechtzeitig vorgebrachten Entgegenhaltungen ausführlich begründen zu müssen. Die Einspruchsabteilung und die Kammer müssen jedoch die Relevanz der verspätet in das Verfahren eingeführten Entgegenhaltung objektiv prüfen und das Ergebnis dann den Beteiligten zumindest in ihrer Entscheidung mitteilen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung die Entgegenhaltungen 4 und 5 nur deshalb nicht berücksichtigt, weil sie nicht innerhalb der Einspruchsfrist genannt worden sind. Aus der Entscheidung geht nirgendwo hervor, daß die Einspruchsabteilung den Inhalt der verspätet eingeführten Unterlagen für nicht relevant hält.
Der Einspruch kann nicht endgültig entschieden werden, solange diese Prüfung aussteht. Unter den gegebenen Umständen hält es die Kammer für richtig, daß diese Prüfung von der Einspruchsabteilung vorgenommen werden sollte, damit beide Beteiligte in den Genuß einer vollen Prüfung des Einspruchs in zwei Instanzen kommen.
3.9. Deshalb kann trotz des Ergebnisses, zu dem die Kammer unter Nummer 2.5 gelangt ist, weder dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin noch dem der Beschwerdegegnerin stattgegeben werden.
Die Kammer hat beschlossen, von der ihr in Artikel 111 EPÜ übertragenen Befugnis Gebrauch zu machen und die Angelegenheit entsprechend dem Hilfsantrag beider Beteiligter zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
3.10. Sollte die Einspruchsabteilung bei objektiver Prüfung der Relevanz der Entgegenhaltungen 4 und 5 zu der Auffassung gelangen, daß sie einzeln oder in Verbindung mit dem während der Einspruchsfrist genannten Stand der Technik einer Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegenstehen, so muß sie ihre Entscheidung auf diese Entgegenhaltungen stützen. Gelangt sie zu der Auffassung, daß die verspätete vorgebrachten Entgegenhaltungen der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstehen, so braucht sie den Beteiligten in ihrer Entscheidung nur das Ergebnis ihrer objektiven Prüfung mit einem Hinweis auf deren verspätete Einführung mitzuteilen.
3.11. Dies setzt voraus, daß die Einsprechende die Entgegenhaltungen 4 und 5 nicht rechtzeitig vorgelegt hat. Tatsachen und Beweismittel gelten nicht schon allein deshalb als verspätet vorgebracht ("not submitted in due time", "n'pas été produites en temps utile"), weil sie nicht während der Einspruchsfrist vorgelegt worden sind. Andererseits ist auch die Einsprechende dafür zu tadeln, daß sie die Entgegenhaltungen 4 und 5 nicht innerhalb der Einspruchsfrist erwähnt hat. Obwohl der Einspruchsabteilung dies bekannt war, begründet sie ihre Feststellung, daß die Unterlagen nicht rechtzeitig eingreicht wurden, nicht angemessen, sondern verweist nur auf die lange Einspruchsfrist von 9 Monaten sowie darauf, daß die Unterlagen seit 1933 bzw. 1978 bestehen. Die Unterlagen gelten jedoch nur dann als verspätet vorgebracht, wenn die Einsprechende im vorliegenden Fall die Entgegenhaltungen 4 und 5 innerhalb der Einspruchsfrist oder jedenfalls vor ihrer tatsächlichen Einreichung hätte erwähnen können. Darauf deutet jedoch nichts hin. Falls anzunehmen wäre, daß die Einsprechende bei sorgfältiger Vorbereitung des Einspruchsverfahrens die Entgegenhaltungen 4 und 5 aufgefunden hätte - was die Einspruchsabteilung bei der Berufung auf die verspätete Einführung zu unterstellen scheint -, so wäre es ihre Aufgabe gewesen darzulegen, weshalb sie die beiden Entgegenhaltungen nicht schon früher erwähnt hat.
3.12. Die Kammer vertritt außerdem den Standpunkt, daß bei der Entscheidung darüber, ob nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgelegte Entgegenhaltungen zugelassen werden sollen oder nicht, kein allzu strenger Maßstab angelegt werden sollte. Es besteht natürlich die große Gefahr, daß sich das Verfahren ungebührlich verzögert, wenn die erste Instanz verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel berücksichtigt, die Beschwerdekammer dies anficht und die Sache dann an die erste Instanz zurückverwiesen wird. Deshalb sollte die erste Instanz von ihrer Befugnis nach Artikel 114 (2) EPÜ nur dann Gebrauch machen, wenn eindeutig feststeht, daß die Unterlagen verspätet vorgebracht worden sind.
3.13. Die Kammer hält eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr im vorliegenden Fall für nicht möglich, da kein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ vorliegt. Auch wenn die Kammer der Ansicht ist, daß sich die Einspruchsabteilung verfahrensrechtlich nicht richtig verhalten hat, so kann sie doch nicht eines wesentlichen Verfahrensmangels bezichtigt werden, weil es nach dem Wissen der Kammer noch kein feststehendes Verfahren dafür gibt, wie Unterlagen zu behandeln sind, die im Verfahren vor der ersten Instanz verspätet vorgebracht werden; in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt heißt es nur, daß bei der Entscheidung über die Zulassung der verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ihre Bedeutung für die Entscheidung, der Stand des Verfahrens und die Gründe für die verspätete Vorlage zu berücksichtigen sind (vgl. Teil E-VI, 2.).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.