T 1271/09 (Expression eines Gens/ALNYLAM) 19-05-2010
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Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens
Sirna Therapeutics
Silence Therapeutics AG
ABBOTT LABORATORIES
I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 31. März 2009 ein, mit der das europäische Patent 1 214 945 widerrufen wurde. Das Patent war für die europäische Anmeldung Nr. 02 003 683.6, die eine Teilanmeldung aus der europäischen Patentanmeldung Nr. 00 910 510.7 war, mit der Bezeichnung "Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens" erteilt worden. Die frühere Anmeldung (Stammanmeldung) war unter der internationalen Veröffentlichungsnummer WO 00/44895 veröffentlicht worden.
II. Gegen die Erteilung des Patents hatten vier Einsprechende wegen (i) mangelnder Neuheit (Artikel 100 a) und 54 EPÜ), (ii) mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) und 56 EPÜ), mangelnder Offenbarung (Artikel 100 b) und 83 EPÜ) und (iv) unzulässiger Erweiterung (Artikel 100 c) und 76(1) EPÜ (siehe Seite 21 der Einspruchsschrift der Einsprechenden 03) bzw. Artikel 100 b) und 123(2) EPÜ) Einspruch erhoben. Die Einsprechende 02 zog ihren Einspruch am 13. Mai 2008 zurück und ist somit keine Verfahrensbeteiligte in diesem Beschwerdeverfahren.
III. Die Grundlagen für die angefochtene Entscheidung über den Widerruf des Streitpatents waren der Hauptantrag, der mit Schreiben vom 20. November 2008 eingereicht wurde, und die vier Hilfsanträge, die in der mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 2009 eingereicht wurden. Es wurde befunden, dass die Anträge Änderungen enthielten, die unter Verstoß gegen Artikel 76(1) EPÜ über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Hauptantrag) bzw. unter Verstoß gegen Artikel 123(2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgingen (Hauptantrag sowie Hilfsanträge 1 und 2), oder unter Verstoß gegen Artikel 123(3) EPÜ über den Schutzbereich des Patents (Hilfsanträge 3 und 4) hinausgingen.
IV. Mit ihrer Beschwerde vom 9. Juni 2009 reichte die Beschwerdeführerin einen Hauptantrag und einen Hilfsantrag ein, auf deren Basis die Aufrechterhaltung des Patents beantragt wurde.
V. Der Hauptantrag (auf den es für die Entscheidung einzig ankommt) enthielt 75 Ansprüche, von denen Anspruch 1 wie folgt lautete:
"1. Verfahren zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in einer Säugerzelle in vitro, wobei ein 15 bis 49 Basenpaare aufweisendes Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA) in die Säugerzelle eingeführt wird, wobei ein Strang der dsRNA einen zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare aufweisenden Bereich I aufweist und ein innerhalb der doppelsträngigen Struktur komplementärer Bereich II aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildet wird."
Die Ansprüche 2 bis 24 waren auf besondere Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1 gerichtet.
Anspruch 25 war auf ein Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in Säugerzellen gerichtet, das mindestens ein solches Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur aufwies.
Die Ansprüche 26 bis 49 waren auf besondere Ausführungsformen des Medikaments gemäß Anspruch 25 gerichtet.
Anspruch 50 betraf die Verwendung eines Oligoribonukleotids mit doppelsträngiger Struktur zur Herstellung eines solchen Medikaments.
Die Ansprüche 51 bis 75 waren auf besondere Ausführungsformen der Verwendung gemäß Anspruch 50 gerichtet.
VI. Die Einsprechenden 01 (Beschwerdegegnerin I) und 03 (Beschwerdegegnerin II) erwiderten auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 23. bzw. 28. Dezember 2009. Sie erhoben Einwände unter den Artikeln 54, 56, 76(1), 83 und 123(2) EPÜ.
VII. Eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK), die einige vorläufige und nicht-bindende Ansichten der Kammer enthielt, wurde den Beteiligten am 26. Februar 2010 zugesandt.
VIII. In Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer haben die Beschwerdegegnerinnen I und II mit einem Schreiben vom 16. bzw. 18. April 2010 Stellung genommen.
IX. Am 19. Mai 2010 fand die mündliche Verhandlung statt, an der die Einsprechende 04 (Beschwerdegegnerin III), wie in ihrem Schreiben vom 8. März angekündigt, nicht teilnahm.
X. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Schriftstücke Bezug genommen:
(D19) A. Fire et al., Nature, Bd. 391, 19. Februar 1998, Seiten 806 bis 811
(D74) Beschwerdeerwiderung der Patentinhaberin für die Stammanmeldung vom 25. Juni 2007 in Rahmen des Beschwerdeverfahrens T 1790/06
XI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag
Der Hauptantrag erfülle die Erfordernisse der Artikel 76(1) und 123(2) EPÜ, da der beanspruchte Gegenstand eine Basis sowohl in der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (siehe u.a. Seiten 3 und 4) als auch in der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (siehe Seite 3) finde. Unter Anspruch 1 fielen nur solche Oligoribonukleotide, die mindestens 15 und höchstens 49 Basenpaare aufwiesen. Es möchten an dem Molekül durchaus noch andere Elemente rechts und links angehängt sein, die allerdings keine Basenpaare seien. Eine Unterscheidung zwischen dem in Zusammenhang mit dem Oligoribonukleotid verwendeten Ausdruck "Basenpaare" und dem in Zusammenhang mit dem Bereich I verwendeten Ausdruck "Nukleotidpaare" könne nicht gemacht werden. "Abschnittsweise komplementär" beziehe sich auf Komplementarität zum Zielgen. Der Bereich II könne dem gesamten Bereich des basengepaarten Strangs bzw. dem doppelsträngigen Teil des Moleküls entsprechen. Die zwei separaten RNA-Einzelstränge seien jene, die das Oligoribonukleotid ausmachten. Bereich II definiere die Komplementarität innerhalb des Oligoribonukleotids, Bereich I die Komplementarität zum Zielgen. Was den Begriff "aufweisen" betreffe, so entspreche dieser dem englischen "having" und sei im Hinblick auf einen bestimmten Bereich abschließend gemeint (siehe Entscheidung T 21/05 vom 13. Juli 2006). Dem stehe die Entscheidung T 1072/00 vom 3. Juli 2003 nicht entgegen, da der dort genannte Anspruch einen nach oben offenen Bereich aufgewiesen habe. Der Begriff "(dsRNA)" in Anspruch 1 werde als Synonym für "Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur" verwendet. Bereich I müsse im basengepaarten Bereich liegen, und die dsRNA müsse zum Zielgen komplementär sein. Anspruchsgemäß seien nur die drei in der Skizze 1 auf Seite 6 des Protokolls über die mündliche Verhandlung dargestellten Aufbauschemata.
XII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin I, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag
Die 15 bis 49 Basenpaare bezögen sich auf die dsRNA, nicht aber auf das gesamte Oligoribonukleotid. Dieses könne noch weitere Basenpaare umfassen. Damit sei die Länge des gesamten Moleküls nicht definiert, nicht zuletzt, weil der Wortlaut "aufweisen" auch noch das Vorhandensein weiterer doppelsträngiger Elemente zulasse. Die Diskussion zeige, dass es an einer klaren und eindeutigen Offenbarung fehle, die aber Voraussetzung dafür sei, dass der Hauptantrag die Artikel 76(1) und 123(2) EPÜ erfülle. Dies zeige sich auch bei einem Vergleich der Ansprüche 1 und 5 der ursprünglichen Stammanmeldung. Der Mangel an Klarheit lasse sich insoweit mit einem Verstoß gegen Artikel 76(1) bzw. Artikel 123(2) EPÜ gleichsetzen. Wie von der Beschwerdeführerin in dem Schriftstück D74 (siehe Seite 52, Absatz 2) zugestanden, sei das Oligoribonukleotid nicht auf die dsRNA beschränkt. Bei der dsRNA handele es sich um ein zusätzliches Ausgestaltungsmerkmal innerhalb des Oligoribonukleotids.
XIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin II, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag
Die Beschwerdegegnerin II hat sich dem Vorbringen der Beschwerdegegnerin I angeschlossen.
Ferner war sie der Auffassung, dass der anspruchsgemäße Bereich I nicht notwendigerweise innerhalb der 15 bis 49 Basenpaare (siehe Skizze 2 auf Seite 6 des Protokolls über die mündliche Verhandlung) liegen müsse.
XIV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags oder des Hilfsantrags, die mit der Beschwerde vom 9. Juni 2009 eingereicht wurden.
XV. Die Beschwerdegegnerinnen I und II (Einsprechende 01 und 03) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
Hauptantrag
Zulässigkeit von Änderungen - Artikel 76(1) und 123(2) EPÜ
1. Die Einspruchsabteilung has das vorliegende Patent wiederrufen, weil das Merkmal "ein aus 15 bis 49 Basenpaaren bestehendes Oligonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA)" gegen die Artikel 76 und 123(2) EPÜ verstoße.
2. Das besagte Merkmal lautet in dem vorliegenden Anspruch 1 des Hauptantrages "ein 15 bis 49 Basenpaare aufweisendes Oligonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA)" (Hervorhebung durch die Kammer), und wird von den Beschwerdegegnerinnen nach wie vor aus denselben Gründen angegriffen. Sie sind der Meinung, die 15 bis 49 Basenpaare würden in der Stammanmeldung und in der Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nur in Zusammenhang mit der dsRNA, nicht aber mit dem gesamten Oligoribonukleotid beschrieben.
3. Anspruch 5 der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (siehe die internationale Patentanmeldung WO 00/44895) bezieht sich auf eine Ausführungsform des "Oligoribonukleotids mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA)" des Anspruchs 1, "wobei die dsRNA [...] vorzugsweise 15 bis 49 Basenpaare aufweist" (siehe auch Seite 4, Zeilen 11 bis 12 der Beschreibung). Die maßgebende Frage ist, ob sich die in Klammern stehende Abkürzung "dsRNA" ausschließlich auf die "doppelsträngige Struktur" bezieht, oder auf das gesamte Oligonukleotid.
4. In der Stammanmeldung ist die Abkürzung "dsRNA" nur unmittelbar nach dem Begriff "doppelsträngige Struktur" zu finden, wenn dieser Begriff Teil des Ausdruckes "ein Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur" ist (siehe Seite 8, Zeilen 10 bis 11 und 24 bis 25; Seite 9, Zeilen 7 bis 8 und Zeilen 22 bis 23; sowie Ansprüche 1, 2, 37, 38, 74 und 75 im Vergleich zu Seite 5, Zeile 3 und Zeile 25 bis 26; sowie Ansprüche 13, 14, 49, 52, 86 und 88). Nach Meinung der Kammer weist dies deutlich darauf hin, dass der Verfasser der Anmeldung unter der Abkürzung "dsRNA" das gesamte Oligoribonukleotid verstanden hat. Dies wird auch durch den zweiten Abschnitt der Seite 8 (siehe Zeilen 9 bis 20) bestätigt, worin ein Medikament mit mindestens 'einem Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA)' mit der zusätzlichen Bemerkung beschrieben wird: "es hat sich überraschend gezeigt, daß eine solche dsRNA sich als Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens in Säugerzellen eignet" (Hervorhebung durch die Kammer). Diese Ansicht ist nicht realitätsfremd, da sie sich im Einklang mit dem Stand der Technik befindet. Zum Bespiel werden in Dokument D19 Hunderte von Basenpaaren aufweisende doppelsträngige RNAs als dsRNA bezeichnet, worin ein Strang abschnittsweise komplementär zu einem zu hemmenden Gen eines Fadenwurms ist, verwendet, um mit der Genexpression in C. elegantis zu interferieren.
5. Was die Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung betrifft, ist die Schlussfolgerung identisch, da die Abkürzung "dsRNA" nach dem Begriff "doppelsträngige Struktur" immer in Zusammenhang mit dem Ausdruck "ein Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur" zu finden ist. Ansprüche 1, 25 und 50 des Hauptantrags unterscheiden sich nicht von Ansprüchen 1, 32 und 63 der Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung.
6. Die von den Beschwerdegegnerinnen geführte Diskussion über die Bedeutung des im Anspruch 1 des Hauptantrags dreimal benutzten Verbs "ausweisen" hat nach Meinung der Kammer für die Frage der Zulässigkeit der Änderungen im vorliegenden Fall keine Relevanz, weil das Verb im gleichen Kontext in der Stammanmeldung und in Anspruch 1 benutzt wird.
7. Nach der Meinung der Kammer ist auch die Textstelle auf Seite 52 des Schriftstücks D74 (siehe Absatz 2, insbesondere Satz 2) nicht relevant, um zu entscheiden, ob der Begriff "dsRNA" in der Stammanmeldung für das Oligoribonukleotid oder ihre doppelsträngige Struktur steht, weil dieser Absatz nur einen neutralen Kommentar ("Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass das Oligoribonukleotid nicht als auf nur die dsRNA beschränkt erscheint ("the oligonucleotide does not appear to be limited only to dsRNA")") darstellt, dem die Beschwerdeführerin nicht unbedingt zugestimmt hat.
8. Die Kammer akzeptiert die von der Beschwerdeführerin vertretene Ansicht, dass nur solche Oligoribonukleotide unter Anspruch 1 fallen, die mindestens 15 und höchstens 49 Basenpaare aufweisen, wie in der Skizze 1 der Aufbauschemata auf der Seite 5 des Protokolls der mündlichen Verhandlung dargestellt. An dieser doppelsträngigen Struktur können andere Elemente links und rechts angehängt sein, die allerdings keine Basenpaare sind. Mit diesen anderen Elementen können die Enden des Moleküls modifiziert werden, um einem Abbau in der Zelle oder einer Dissoziation in die Einzelstränge entgegenzuwirken (siehe Abschnitt 0021 Seite 3 der Patentschrift). In der doppelsträngigen Struktur sind zwei Bereiche zu erkennen: Bereich I, der die Komplementarität zum Zielgen definiert, besteht aus zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären, höchstens 49 aufeinanderfolgenden Nukleotiden eines Strangs; Bereich II, der die Komplementarität innerhalb der doppelsträngigen Struktur definiert, kann maximal dem gesamten Bereich I entsprechen. Die zwei separaten RNA-Einzelstränge des Bereichs II sind jene, die die doppelsträngige Struktur ausmachen.
Schlußfolgerungen
9. Nach Meinung der Kammer sind die Erfordernisse des Artikels 76(1) EPÜ sowie die des Artikels 123(2) EPÜ durch Anspruch 1 erfüllt. Dies gilt auch für die unabhängigen Ansprüche 25 und 50, die sich auf das gleiche Oligoribonukleotid beziehen, und selbstverständlich für alle anderen Ansprüche, die von Ansprüchen 1, 25 oder 50 abhängig sind.
10. Da die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung nur zur Frage der Zulässigkeit der Änderungen Stellung genommen hat, macht die Kammer von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch und beschließt, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, um die Prüfung des Einspruchs hinsichtlich der weiteren Erfordernisse des EPÜ auf der Grundlage des Hauptantrags fortzusetzen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Verhandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.