T 1716/13 (Expression eines Gens II/ALNYLAM) 01-10-2015
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Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens
Sirna Therapeutics
Quark Biotech, Inc.
Silence Therapeutics AG
Abbott Laboratories
Hauptantrag - Neuheit (nein)
1. Hilfsantrag - Klarheit (ja)
Neuheit (ja)
Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
I. Das europäische Patent Nr. 1 214 945 (Anmeldenummer 02003683.6) mit der Bezeichnung "Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens" ist eine Teilanmeldung der europäischen Patentanmeldung Nr. 00910510.7, die als internationale Patentanmeldung nach dem PCT eingereicht und als WO 00/44895 veröffentlicht wurde.
II. Das Patent wurde mit 84 Patentansprüchen erteilt. Die unabhängigen Ansprüche 1, 28 und 56 lauteten wie folgt:
"1. Verfahren zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in einer Säugerzelle in vitro, wobei ein 15 bis 49 Basenpaare aufweisendes Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA) in die Säugerzelle eingeführt wird, wobei ein Strang der dsRNA einen zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare aufweisenden Bereich I aufweist und ein innerhalb der doppelsträngigen Struktur komplementärer Bereich II aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildet wird.
28. Medikament mit mindestens einem 15 bis 49 Basenpaare aufweisenden Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA) zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in Säugerzellen, wobei ein Strang der dsRNA einen zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare aufweisenden Bereich I aufweist und ein innerhalb der doppelsträngigen Struktur komplementärer Bereich II aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildet ist.
56. Verwendung eines 15 bis 49 Basenpaare aufweisenden Oligoribonukleotids mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA) zur Herstellung eines Medikaments, wobei ein Strang der dsRNA einen zu einem vorgegebenen Zielgen in Säugerzellen zumindest abschnittsweise komplementären höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare aufweisenden Bereich I aufweist und ein innerhalb der doppelsträngigen Struktur komplementärer Bereich II aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildet ist."
Die Ansprüche 2 bis 27 bzw. 29 bis 55 waren auf verschiedene Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1 bzw. des Medikaments gemäß Anspruch 28 gerichtet. Die vom Anspruch 56 abhängigen Ansprüche 57 bis 84 richteten sich auf verschiedene Verwendungen.
III. Gegen die Erteilung des Patents wurden vier auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikeln 54 und 56, 100 b) und 100 c) EPÜ gestützte Einsprüche eingelegt. Die Einsprechenden 02 und 04 zogen ihren jeweiligen Einspruch während des Einspruchsverfahrens zurück.
IV. Mit einer am 21. März 2009 zur Post gegebenen Entscheidung widerrief eine Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts das Patent gemäß Artikel 101(3)(b) EPÜ wegen Verstößen gegen Artikel 76(1) bzw. 123(2) EPÜ. Auf die Beschwerde der Patentinhaberin hin wurde die Entscheidung der Einspruchsabteilung von der Beschwerdekammer 3.3.08 (in einer anderen Zusammensetzung) aufgehoben und die Sache wurde an die Einspruchsabteilung zur weiteren Behandlung auf der Grundlage der im Beschwerdeverfahren geänderten Patentansprüche 1 bis 75 gemäß Hauptantrag zurückverwiesen (siehe Entscheidung T 1271/09 vom 19. Mai 2010).
V. Mit einer am 23. Mai 2013 zur Post gegebenen Entscheidung widerrief die Einspruchsabteilung das Patent erneut, weil sie feststellte, dass der Gegenstand der geänderten Ansprüche 1, 25 und 30[sic] gemäß Hauptantrag vom Inhalt der Entgegenhaltung (22) (siehe Punkt XIV unten) neuheitsschädlich vorweggenommen werde (Artikel 54(2) EPÜ). Bei den Ansprüchen gemäß erstem Hilfsantrag wurde einen Verstoß gegen Artikel 123(2) und 84 EPÜ festgestellt. Ferner befand die Einspruchsabteilung, dass die in den Ansprüchen gemäß zweitem Hilfsantrag vorgenommenen Änderungen die Voraussetzungen der Regel 80 EPÜ nicht erfüllten und dass die Ansprüche gemäß drittem Hilfsantrag den Anforderungen des Artikels 84 EPÜ nicht genügten. Ein in der mündlichen Verhandlung eingereichter vierter Hilfsantrag wurde unter Verweis auf Regel 116 EPÜ nicht berücksichtigt. Als obiter dictum wies die Einspruchsabteilung auf die Entgegenhaltung (7) hin, die ihrer Ansicht nach als Stand der Technik gemäß Artikel 54(3) EPÜ 1973 den Gegenstand der Ansprüche 1, 25 und 30[sic] gemäß Hauptantrag neuheitsschädlich vorwegnehme.
VI. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein und reichte mit der Beschwerdebegründung drei Anspruchssätze als Hauptantrag bzw. ersten und zweiten Hilfsantrag ein. Hilfsweise beantragte sie mündliche Verhandlung.
VII. Die Ansprüche 1, 25 und 50 gemäß Hauptantrag sind mit den Ansprüchen 1, 28 und 56 des Patents in der erteilten Fassung (siehe Punkt II oben) identisch. Die Ansprüche 2 bis 24, 26 bis 49 und 51 bis 75 entsprechen den Ansprüchen 5 bis 27, 32 bis 55 bzw. 60 bis 84 des erteilten Patents, wobei die Rückbezüge angepasst wurden.
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende 03) nahm zu der Beschwerdebegründung Stellung und reichte ein weiteres Beweisstück ein. Auch sie beantragte hilfsweise mündliche Verhandlung.
IX. Die Einsprechende 01 erwiderte nicht auf die Beschwerdebegründung und nahm ihren Einspruch am 11. März 2014 zurück.
X. Die Beteiligten wurden zur mündlichen Verhandlung geladen. In einer der Ladung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zu einigen Verfahrens- und Sachfragen mit, die von besonderer Bedeutung zu sein schienen. Hinsichtlich der im Beschwerdeverfahren eingereichten Anträge und Beweismittel machte die Kammer die Beteiligten auf Artikel 12(4) VOBK aufmerksam. Die Kammer machte auch Bemerkungen bezüglich Artikel 84 und 54 EPÜ.
XI. Mit Schriftsatz vom 1. September 2015 zog die Beschwerdeführerin ihre bisherigen Hilfsanträge zurück und reichte zwei geänderte Anspruchssätze als 1. bzw. 2. Hilfsantrag ein.
XII. Während der mündlichen Verhandlung, die am 1. Oktober 2015 stattfand, zog die Beschwerdeführerin ihren bisherigen 1. Hilfsantrag zurück und reichte den am 1. September 2015 als 2. Hilfsantrag eingereichten Anspruchssatz als ihren neuen 1. Hilfsantrag ein.
XIII. Der Anspruchssatz gemäß 1. Hilfsantrag besteht aus 72 Ansprüchen. Die unabhängigen Ansprüche 1, 24 und 48 unterscheiden sich von den Ansprüchen 1, 28 und 56 des Patents in der erteilten Fassung (siehe Punkt II oben) durch die Hinzufügung folgender Merkmale:
"..., wobei der durch die Nukleotidpaare bewirkte Zusammenhalt des komplementären Bereichs II durch eine weitere chemische Verknüpfung erhöht wird, und wobei die chemische Verknüpfung an einem Ende des komplementären Bereichs II hergestellt wird."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 8 und 10 bis 23 sind auf Verfahren zur Hemmung der Expression eines Zielgens gerichtet und entsprechen den Ansprüchen 5 bis 11, 13 und 15 bis 27 des Patents in der erteilten Fassung. Die abhängigen Ansprüche 25 bis 32 und 34 bis 47 sind auf verschiedene Ausführungsformen des Medikaments gemäß Anspruch 24 gerichtet und entsprechen den Ansprüchen 32 bis 39 und 41 bis 55 des Patents in der erteilten Fassung. Die vom Anspruch 48 abhängigen Ansprüche 49 bis 56 und 58 bis 72 entsprechen den Ansprüchen 60 bis 67 und 69 bis 84 des Patents in der erteilten Fassung. Die abhängigen Ansprüche 9 (Verfahren), 33 (Medikament) und 57 (Verwendung) unterscheiden sich von den Ansprüchen 12, 40 und 68 des Patents in der erteilten Fassung ("... durch mindestens eine, vorzugsweise zwei, weitere chemische Verknüpfung/en ...") durch die Einschränkung auf eine weitere chemische Verknüpfung.
XIV. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(7): WO 01/36646 A1, veröffentlicht am 25. Mai 2001;
(11): L. Manche et al., November 1992, Molecular and Cellular Biology, Band 12, Nr. 11, Seiten 5238 bis 5248;
(22): WO 99/32619, veröffentlicht am 1. Juli 1999;
(54): T. Tuschl et al., 1999, Genes & Development, Band 13, Seiten 3191 bis 3197;
(55): H. Ngô et al., Dezember 1998, Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Band 95, Seiten 14687 bis 14692;
(57): WO 94/01550, veröffentlicht am 20. Januar 1994;
(76): A.Z. Fire, 8. Dezember 2006, Vortrag anlässlich der Verleihung des Nobelpreises, Seiten 198 bis 233.
XV. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Hauptantrag - Artikel 54(2) EPÜ
Entgegenhaltung (22)
Der Meinung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, der Gegenstand der Ansprüche 1, 25 und 50 würde vom Inhalt der Entgegenhaltung (22) neuheitsschädlich vorweggenommen, könne nicht gefolgt werden. Die Entgegenhaltung (22) enthalte zwar Angaben zur Länge des zum Zielgen komplementären Bereichs I, jedoch keine explizite Aussage zu der Länge der gesamten dsRNA in Basenpaaren. Eine dsRNA, die 15 bis 49 Basenpaare aufweist, erschließe sich aus dieser Entgegenhaltung auch nicht implizit, insbesondere nicht aus den Angaben auf Seite 11, Zeilen 22 bis 24 bzw. dem Anspruch 10, die sich nur auf den Umfang der Identität des Bereichs I mit dem Zielgen bezogen. Die Offenbarung einer 25 Basenpaare langen dsRNA könne nur als "verborgen" im Sinne der Entscheidung T 666/89 (OJ EPO 1993, 495) betrachtet werden.
Zum Prioritätsdatum sei die Fachwelt auf dem Gebiet der RNA-Interferenz der Ansicht gewesen, dass nur dsRNAs mit einer Länge von mehreren Hunderten Basenpaaren RNA-Interferenzeffekte zeigen könnten. Daher hätte ein Fachmann auf diesem Gebiet die Verwendung einer kurzen dsRNA mit 25 Basenpaaren zur Hemmung der Expression eines Gens nicht ernsthaft in Betracht gezogen. So sei das kürzeste Konstrukt in der Tabelle 1 der Entgegenhaltung (22) 299 Basen lang. Den Entgegenhaltungen (54) und (55) sei zu entnehmen, dass 49 bzw. 59 Nukleotide lange Konstrukte keinerlei Interferenzeffekte zeigten.
Obwohl bereits bekannt war, z.B. aus der Entgegenhaltung (11), dass kürzere dsRNAs die als "Panik-Reaktion" bekannten Mechanismen in Säugerzellen in geringerem Maße auslösen als längere dsRNAs, sei die im Streitpatent vorgeschlagene Lösung von den Autoren der Entgegenhaltung (22) nicht in Betracht gezogen worden. Die führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der RNA-Interferenz seien skeptisch gewesen, ob in Säugerzellen RNA-Interferenz überhaupt funktionieren könne.
Um fehlende Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber der Entgegenhaltung (22) erkennen zu können, müsse ein Fachmann aus diesem Dokument alle Anspruchsmerkmale eindeutig und unmittelbar herleiten können. Im vorliegenden Fall müsse der Fachmann eine der auf Seite 11, Zeilen 27 und 28 der Entgegenhaltung (22) vorgeschlagenen Längen der dsRNA mit einem der zahlreichen, auf Seite 12, Zeilen 3 bis 30 vorgeschlagenen Organismen kombinieren. Die Kombination einer Auswahl aus zwei Listen könne nicht als eindeutige und unmittelbare Offenbarung angesehen werden. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei daher gegenüber der Entgegenhaltung (22) neu. Dasselbe gelte für den Gegenstand der Ansprüche 25 und 50.
1. Hilfsantrag
Artikel 84 EPÜ
Die Feststellung der mangelnden Klarheit in der angefochtenen Entscheidung beruhe auf einer falschen Auslegung der Anspruchsmerkmale, die die weitere chemische Verknüpfung definieren.
Artikel 54(2) EPÜ bzw. Artikel 54(3) EPÜ 1973
Keine der Entgegenhaltungen (22), (57) und (7) beschreibe eine dsRNA mit einer weiteren chemischen Verknüpfung an einem Ende des komplementären Bereichs II. Der Gegenstand der geänderten Ansprüche sei daher gemäß Artikel 54(2) EPÜ bzw. Artikel 54(3) EPÜ 1973 neu.
XVI. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen trug die Beschwerdegegnerin folgendes vor:
Hauptantrag - Artikel 54(2) EPÜ
Der Inhalt der Entgegenhaltung (22) nehme den Gegenstand der Ansprüche 1, 25 und 50 neuheitschädlich vorweg. Den Angaben auf Seite 6, Zeilen 2 bis 6 sei zu entnehmen, dass die teilweise oder vollständig doppelsträngige dsRNA eine hemmende RNA ("inhibitory RNA") sei. Diese RNA könne mit einem Teil des Zielgens 100% identisch sein (siehe Seite 11, Zeilen 22 bis 24) und mindestens 25, 50, 100, 200, 300 oder 400 Basen lang sein (siehe Seite 11, Zeilen 27 und 28).
Da Neuheit objektiv zu beurteilen sei, seien eventuelle Vorurteile in der Fachwelt nicht von Bedeutung. Die Dokumente (54), (55) und (76) könnten das behauptete Vorurteil in der Fachwelt zum Prioritätsdatum nicht beweisen.
1. Hilfsantrag
Artikel 54(2) EPÜ bzw. Artikel 54(3) EPÜ 1973
Die Entgegenhaltung (57) sei neuheitsschädlich. Auf Seite 15, Zeile 15 werde eine dsRNA beschrieben, die ohne Loops auskommt.
XVII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des am 7. Januar 2013 eingereichten Hauptantrages, hilfsweise auf der Grundlage des während der mündlichen Verhandlung eingereichten 1. Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
XVIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende 03) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
Hauptantrag - Artikel 54(2) EPÜ
1. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass der Gegenstand der Ansprüche 1, 25 und 30[sic] von der Entgegenhaltung (22) neuheitsschädlich vorweggenommen wird (siehe Seite 10, erster vollständiger Absatz der Entscheidung). Gegen diese Feststellung hat die Beschwerdeführerin eingewendet, das Merkmal "ein 15 bis 49 Basenpaare aufweisendes Oligoribonukleotid mit doppelsträngiger Struktur (dsRNA)" in den Ansprüchen 1, 25 und 50 lasse sich nicht eindeutig und unmittelbar aus der Entgegenhaltung (22) ableiten. Die Beschwerdeführerin stützte sich bei ihrer Argumentation auf die Dokumente (54), (55) und (76) und die Entscheidung T 666/89 (OJ EPO 93, 495).
2. Nach Meinung der Kammer ist es richtig, dass die Angaben auf Seite 11, Zeilen 27 und 28 der Entgegenhaltung (22) ("The length of the identical nucleotide sequences may be at least 25, 50, 100, 200, 300 or 400 bases"), auf die in der angefochtenen Entscheidung hingewiesen wird, isoliert betrachtet nur als explizite Offenbarung bezüglich der Länge der mit dem Zielgen identischen Nukleotidsequenz, jedoch nicht hinsichtlich der Anzahl der Basenpaare des doppelsträngigen Ribonukleotids zu sehen sind.
3. Zur Ermittlung der technischen Offenbarung einer zum Stand der Technik gehörenden Entgegenhaltung dürfen einzelne Abschnitte der Entgegenhaltung jedoch nicht losgelöst von den anderen Teilen, sondern müssen in deren Gesamtzusammenhang betrachtet werden (siehe Entscheidung T 56/87, ABl. 1990, 188). Dem Absatz auf Seite 11 der Entgegenhaltung (22), in dem die in Punkt 2 oben zitierten Längenangaben gemacht werden, ist zu entnehmen, dass die Sequenz der hemmenden RNA zu 100% mit einer Sequenz des Zielgens identisch sein kann (siehe Zeilen 22 bis 24 auf Seite 11: "Greater than 90% sequence identity, or even 100% sequence identity, between the inhibitory RNA and the portion of the target gene is preferred"). Als "inhibitory RNA" wird in der Entgegenhaltung (22) das doppelsträngige Ribonukleotid bezeichnet, wie aus den Angaben auf Seite 6, Zeilen 4 bis 6 eindeutig zu entnehmen ist ("Inhibition is specific in that a nucleotide sequence from a portion of the target gene is chosen to produce inhibitory RNA"; siehe auch Seite 9, Zeilen 17 bis 19).
4. Liest man die Angaben auf Seite 11, Zeilen 22 bis 24 zusammen mit denen in den Zeilen 27 und 28, so ist eindeutig zu erkennen, dass in der bevorzugten Variante, in welcher die dsRNA mit dem Zielgen 100% identisch ist, der zum Zielgen komplementäre Bereich I sich über die gesamte Länge des doppelsträngigen Ribonukleotids erstrecken muss. Somit ist in der Angabe in der Entgegenhaltung (22), dass der Bereich I mindestens 25 Basen aufweisen kann, die gleiche Länge für das doppelsträngige Ribonukleotid implizit mit offenbart. Diese Offenbarung ist nicht "verborgen" im Sinne der Entscheidung T 666/89 (siehe oben), sondern kann von einem Fachmann eindeutig und unmittelbar der Entgegenhaltung (22) entnommen werden.
5.Der Einwand der Beschwerdeführerin, die Entgegenhaltung (22) spreche von Basen anstelle von Basenpaaren (wie im Streitpatent), ist nach Meinung der Kammer nicht gerechtfertigt. Es ist nicht strittig, dass das in dieser Entgegenhaltung beschriebene Ribonukleotid doppelsträngig ist. Daher ist es für einen Fachmann, der die Entgegenhaltung liest, offensichtlich, dass die Angabe "at least 25 [...] bases" als "mindestens 25 Basenpaare" zu verstehen ist, wobei die Sequenz eines Strangs - welcher aus Basen besteht - identisch mit der Sequenz des Zielgens ist, während die des anderen Strangs komplementär zum Zielgen ist.
6. Ebenfalls nicht gerechtfertigt ist der weitere Einwand der Beschwerdeführerin hinsichtlich des in der Entgegenhaltung (22) verwendeten Ausdrucks "RNA containing a nucleotide sequences[sic]" (siehe Seite 6, Zeilen 25 und 26, und Seite 11, Zeilen 14 und 15). Der Begriff "containing" wird vom Fachmann als "umfassend" oder "bestehend aus" verstanden. Beide Alternativen sind daher in der Entgegenhaltung (22) offenbart.
7. Die Beschwerdeführerin stützte ihre Argumentation auf ein angeblich in der Fachwelt bestehendes Vorurteil zum Prioritätsdatum, welches den Fachmann von dem Versuch abhalten würde, die technische Lehre der Entgegenhaltung (22) im Überschneidungsbereich (Oligoribonukleotide mit 25 bis 49 Basenpaaren) anzuwenden.
8. Dieser Auffassung kann die Kammer nicht folgen. Ein Vorurteil in der Fachwelt, wenn mit geeigneten Dokumenten eindeutig nachgewiesen, wäre bei der Beurteilung der Frage, ob eine erfinderische Tätigkeit vorliegt, zu berücksichtigen. Für die Ermittlung des Offenbarungsgehalts der Entgegenhaltung (22) zwecks Beurteilung der Neuheit eines Anspruchsgegenstandes ist ein behauptetes Vorurteil jedoch rechtlich ohne Bedeutung.
9. Zudem ist zu bemerken, dass die von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang genannten Dokumente (54), (55) und (76) zum Nachweis eines starken Vorurteils ("deeply rooted prejudice") in der Fachwelt nicht genügen. Selbst wenn den Entgegenhaltungen (54) und (55) zu entnehmen ist, dass kurze doppelsträngige Oligoribonukleotide keine Interferenzwirkung haben, begründet dies kein allgemeines Vorurteil, das jegliche Verwendung kurzer doppelsträngiger Ribonukleotide zu diesem Zweck unterbinden würde.
10. Hinsichtlich des behaupteten Vorurteils gegen die Anwendung von RNA-Interferenz auf Säugerzellen ist es zwar richtig, dass zum Prioritätsdatum zelluläre Mechanismen bekannt waren, die die Durchführbarkeit von RNA-Interferenz in bestimmten Organismen, insbesondere Säugerzellen in Frage stellten. Es gab zum Prioritätsdatum jedoch auch Vorschläge, wie diese Schwierigkeiten überwunden werden könnten. So wurde zur Vermeidung einer "Panik-Reaktion" die Modifizierung der RNA-Struktur (siehe Seite 10, letzte Zeile bis Seite 11, Zeile 2 der Entgegenhaltung (22)) oder die Verwendung von Oozyten oder embryonalen Zellen (siehe Entgegenhaltung (7)) vorgeschlagen. Von einem unüberwindbaren Vorurteil kann also nicht die Rede sein.
11. Der weiteren Argumentationslinie der Beschwerdeführerin bezüglich der Kombination von Merkmalen aus in der Entgegenhaltung (22) offenbarten "Listen" kann die Kammer ebenfalls nicht folgen. Die Auswahl von Säugerzellen ist nicht eine unter vielen Möglichkeiten, sondern eine Ausführungsform der in der Entgegenhaltung (22) beschriebenen Verfahren, die sich dem Fachmann im Hinblick auf die auf Seiten 14 bis 16 beschriebene medizinische Verwendung der dsRNA aufdrängt.
12. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand der Ansprüche 1, 24 und 48 vom Inhalt der Entgegenhaltung (22) neuheitsschädlich vorweggenommen wird.
1. Hilfsantrag
Zulassung zum Verfahren - Artikel 13 VOBK
13. Der Anspruchssatz gemäß vorliegendem 1. Hilfsantrag wurde - als 2. Hilfsantrag - nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereicht, um den Hinweisen der Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK Rechnung zu tragen. Da die Änderungen in den Ansprüchen keine neuen Fragen aufwerfen und von der Beschwerdegegnerin keine Einwände gegen die Zulassung dieses Anspruchssatzes zum Verfahren erhoben wurden, entscheidet die Kammer in Ausübung ihres Ermessens, den Anspruchssatz gemäß 1. Hilfsantrag zuzulassen.
Regel 80 und Artikel 123(2)(3) EPÜ
14. Die Feststellungen in Punkten 5.2 und 5.3 der angefochtenen Entscheidung, dass die Voraussetzungen der Regel 80 EPÜ erfüllt und kein Verstoß gegen Artikel 123(2)(3) EPÜ vorliegt, wurden im Beschwerdeverfahren nicht in Frage gestellt. Die Kammer hat ihrerseits keine Einwände.
Artikel 84 EPÜ
15. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, die Ansprüche gemäß drittem Hilfsantrag erfüllten nicht die Voraussetzungen des Artikels 84 EPÜ, weil die weitere chemische Verknüpfung an einem Ende des komplementären Bereichs II von einer zusätzlichen Base, die die Komplementarität zum Zielgen erhöht, nicht unterschieden werden könne (siehe Punkt 5.4 der Entscheidung).
16. Die Begründung der Einspruchsabteilung vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen. Die Kammer schließt sich der Auslegung in der früheren Entscheidung T 1271/09 (siehe oben) an. Die mit der ersten Beschwerde in Sachen des Streitpatents (siehe Punkt IV oben) befasste Kammer legte die Merkmale, die in den vorliegenden Ansprüchen 1, 28 und 48 (siehe Punkt XIII oben) gemäß 1. Hilfsantrag aufgenommen wurden, dahingehend aus, dass an die doppelsträngige Struktur der dsRNA "... andere Elemente links und rechts angehängt sein [können], die allerdings keine Basenpaare sind" (siehe Punkt 7 der Entscheidungsgründe).
17. Auch die mit der vorliegenden Beschwerde befasste Kammer ist der Ansicht, dass die chemischen Verknüpfungen, die anspruchsgemäß an der doppelsträngigen Struktur angehängt werden, keine zusätzlichen Basenpaare sein können. Da der Umfang der Komplementarität zum Zielgen in den Ansprüchen klar definiert ist (höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare), erfüllen die geänderten Ansprüche 1, 28 und 48 die Voraussetzungen des Artikels 84 EPÜ.
Artikel 54(2) EPÜ
Entgegenhaltung (22)
18. Oligoribonukleotide mit doppelsträngiger Struktur, bei denen der durch die Nukleotidpaare bewirkte Zusammenhalt des komplementären Bereichs durch eine weitere, an einem Ende des komplementären Bereichs hergestellte chemische Verknüpfung erhöht wird, werden in der Entgegenhaltung (22) nicht beschrieben. Somit sind Verfahren, Medikamente oder Verwendungen gemäß den vorliegenden Ansprüchen gegenüber der Entgegenhaltung (22) als neu zu betrachten.
Entgegenhaltung (57)
19. In der angefochtenen Entscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass der Inhalt der Entgegenhaltung (57) den Gegenstand der Ansprüche gemäß Hauptantrag nicht neuheitsschädlich vorwegnehme, weil darin keine Oligoribonukleotide beschrieben werden, die aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen bestehen.
20. Dies gilt mutatis mutandis auch für den Gegenstand der vorliegenden Ansprüche gemäß 1. Hilfsantrag. Es ist festzustellen, dass die doppelsträngige Struktur der in der Entgegenhaltung (57) beschriebenen Oligonukleotide nicht durch Basenpaarung von zwei getrennten RNA-Strängen - wie gemäß den vorliegenden Ansprüchen -, sondern durch Paarung innerhalb eines einzelnen Strangs (intramolekulare Basenpaarung) entsteht. Bereits aus diesem Grund ist der Gegenstand der Ansprüche als neu gegenüber der Entgegenhaltung (57) anzusehen.
Artikel 54(3) EPÜ 1973
Entgegenhaltung (7)
21. Aus den gleichen Gründen wie für die Entgegenhaltung (22) (siehe Punkt 18 oben) ist der Gegenstand der vorliegenden Ansprüche neu gegenüber der Entgegenhaltung (7). Eine weitere, an einem Ende des komplementären Bereichs hergestellte chemische Verknüpfung, die den durch die Nukleotidpaare bewirkten Zusammenhalt des komplementären Bereichs erhöht, wird auch in der Entgegenhaltung (7) nicht beschrieben.
Artikel 111(1) EPÜ
22. Da der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit von der Einspruchsabteilung noch nicht geprüft worden ist, verweist die Kammer die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurück. Die Beteiligten erhoben dagegen keine Einwände.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.